Kitabı oku: «Die Zuschauer», sayfa 2
Als er Pepito das erste Mal mit nach Hause bringt, sagt seine Mutter, Pepito mache mit seinen Locken und dunklen Augen – dunkel wie Tropfen von Schokolade, pépites de chocolat –, seinem Namen alle Ehre. Sie mustert ihn eingehend. Er weiß, dass sie wie immer nach Ähnlichkeiten sucht, dass sie mit James oder John oder Bill Irgendwer den Namen eines amerikanischen Schauspielers nennen möchte, doch ihr will an diesem Tag keiner einfallen. Was sie nicht daran hindert, jedes Mal wieder damit anzufangen und am Ende zu beteuern, er liege ihr auf der Zunge, sie werde schon noch darauf kommen. Ihr Gedächtnis hat so viele Bezüge zu Hollywood geknüpft, dass diese wie Reflexe aktiv werden, wie Fühler oder Finger im Dunkeln auf den geringsten Reiz reagieren, begierig, alles wiederzukennen, was erscheint.
Seltsamerweise sagt Pepito ständig, er selbst hätte gern einen kleinen Bruder bekommen. Und so ist er, auch wenn er weiterhin großtut, vor Pepito zärtlicher zu seiner Schwester, während er sie vor den anderen als Bürde darstellt, eine Sache, auf die er achten, aufpassen muss. Zwölf Jahre sind sie auseinander. Manche wundern sich, bemitleiden ihn. Ein Baby, was für ’ne Plage, sagen sie. Er kann diesen Ausdruck nicht leiden, weist jedoch niemanden zurecht, verscheucht alle Bilder von Seuchen und Heimsuchungen. Ein Mädchen aus dem Viertel spielt auf die Geheimnisse der Natur an, eine Frau könne durchaus eines Tages ein Kind bekommen und dann nie wieder, oder eben erst zwölf Jahre später. Sie spricht, als verfügte sie über die unanfechtbare Autorität der Eingeweihten, ohne zu merken, dass sie dem Abkömmling damit die wundersame Aura biblischer Ahnenfolgen verleiht. Er hütet sich zu erklären, dass seine Eltern vor genau zwölf Jahren nach Frankreich gekommen sind. Weder sagt er, dass er dort drüben gezeugt wurde, noch macht er es sich wirklich bewusst, so sehr klammert er sich an den Gedanken, hier geboren zu sein.
Ist er hingegen allein mit ihr, wird sie zu einer Art fleischlichem Talisman, den er berührt und knetet, dessen Geruch er tief einatmet, besonders wenn er seine Nase in die Mulde ihres Nackens gräbt, zwischen den geschwungenen Rändern abgründige Zartheit findet. Manchmal schimpft seine Mutter mit ihm, er solle neben ihr nicht so laut atmen.
Sie kommt im September zur Welt, und als sie acht Monate alt ist, erklärt er stolz, dass sie ihren ersten Frühling erlebt. Etwa zur selben Zeit fällt ihm die merkwürdige Stellung auf, die ihr rechtes Bein einnimmt, wenn sie sich in den Schneidersitz setzt. Tagelang verliert er kein Wort über das, was er sieht, doch wenn er an ihr vorbeigeht, bückt er sich, um das Bein zu richten, als stellte er einen Gegenstand neu auf, der ständig in sich zusammenfällt. Er achtet darauf, seine Geste rein mechanisch auszuführen, frei von Sorge, fast schon wie einen Gag, und schafft es sogar, nicht länger verwundert zu wirken. Und doch hofft er jedes Mal, der Aufwand möge sich lohnen, das Bein so bleiben, das Problem endgültig behoben sein. Zuerst geht er ganz sachte vor, dann gröber, als wolle er sichergehen, dass sie keinerlei Schmerz verspürt, dass diese Stelle ihres Körpers frei von Leiden ist. Irgendwann wundert sich seine Mutter, was machst du da? Ich richte ihr Bein, aber … Aber was? Schon seltsam, es knickt immer wieder weg … Der Blick seiner Mutter verfinstert sich: Zu ihrer früheren, unausgesprochenen Befürchtung kommen prompt weitere hinzu, lassen sie nicht länger denken, dass sie die Einzige sei, die sich zu viele Gedanken mache, sodass die Einsamkeit der Bangnis weicht.
Und dann ist es wie ein Lauffeuer, für das er sich verantwortlich fühlt: das Wort seines Vaters, das er am liebsten vom Tisch fegen würde, stimmt, sagt dieser mit hochgezogenen Augenbrauen, dann Pepito, der betont, dass kein anderes ihm bekanntes Baby sich so hinsetze, oder Maria, die vorschlägt, einen Gegenstand zwischen die Beine der Kleinen zu legen, um zu sehen, was passiert. Sodass er es schließlich vorzieht, sie so oft es geht auf den Bauch oder Rücken zu legen, um eben nichts zu sehen. Doch je größer sie wird, desto öfter bleibt sie sitzen. Ihre Mutter freut es, der Rücken entwickle sich. Er stellt sich vor, wie sich unter ihrer Haut eine weiße Koralle ausbreitet, sich verzweigt; er muss sie wachsen lassen, darf sie nicht zerdrücken.
Ohne es aussprechen zu wollen, schraubt die ganze Familie in den nächsten Monaten ihre Ambitionen zurück, und hofft bald nicht mehr, dieses Baby im lauffähigen Alter möge endlich seine ersten Schritte tun, sondern nur noch, dass sein rechtes Bein in der Sitzposition nicht mehr nach innen rotiert. Ein Zurückschrauben, das als Geduld durchgehen könnte oder als schlichte Anpassung an die Wirklichkeit, und doch in einen einzigen besorgten Seufzer mündet.
Am 27. November 1967 – die Konferenz fängt gleich an, sein Vater kann es kaum erwarten – bereitet seine Mutter gerade das Mittagessen vor, als sie verkündet: Ich war heute Morgen beim Arzt. Warst du so angezogen?, sagt sein Vater prompt. Ja, natürlich, gefällt dir das Kleid nicht? Gloria Grahame trug dieses Modell in The Bad and the Beautiful. Oder war es in Human Desire? Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls standen ihr die Kleider, obwohl sie so böse aussah: Nur ein paar Millimeter mehr Fleisch und es wäre ganz anders für sie gekommen, hier, über dem Mund, auf der Oberlippe, schon seltsam, dass sie nicht operiert wurde, obwohl sie doch sonst alle operieren ließen. Und sie tritt aus den Dämpfen der Küche hervor, wo Wasser sprudelnd in einem Topf kocht, geht ins Wohnzimmer zu dem kleinen Möbelstück, in das sie ihre Zeitschriften einsortiert hat; sie kniet sich nieder und sucht nach der Ausgabe, die sie Maria bei der Bestellung des Kleids hingehalten hat. Sie hasst es, wenn sie ihre Erinnerungen durcheinanderbringt, wenn sie ins Zweifeln gerät; sie zückt sie viel lieber hervor, ganz klar und deutlich, als könnte sie mit bloßer Willenskraft deren Existenz und Beständigkeit garantieren, sodass diese Erinnerungen die Macht hätten, Gloria Grahame direkt vor ihnen im Raum in Erscheinung treten zu lassen.
Von drüben hat sie nicht viel mitgebracht, ein paar Kleidungsstücke, ein paar Gegenstände, ihren Stapel Photoplays. Oft bittet er sie, diesen Moment zu beschreiben, als die Koffer gepackt werden mussten, will von ihr ganz genau wissen, wie man sein Haus aufgibt, seine Heimat, was man letztlich mitnimmt, was man zurücklässt, welchen Blick man auf seinen Sachen ruhen lässt, wie viel Zeit man zur Verfügung hat, um diese Auswahl zu treffen. Er klammert sich an die Tatsache, dass seine Mutter damals schwanger war, weil er sie selbst schwanger erlebt hat, an die Rundung ihres Bauchs, an ihre Art, beschwert zu sein – er will sich die Szene lebhaft vorstellen, ein Bild fixieren, denn auf seine Fragen antwortet sie stets ausweichend oder wiederholt genervt, was weiß ich, ich erinnere mich nicht mehr! Manchmal ändert er die Strategie und spricht in der Gegenwartsform von einer konkreten praktischen Handlung, wie nimmst du zum Beispiel deine Zeitschriften mit? Sie verbringt mehrere Stunden damit, sie zu sortieren. Und wenn er merkt, dass sie anbeißt und ebenfalls in der Gegenwart antwortet, fährt er fort. Wie viele? Zwei, drei Stunden oder mehr? Sie kann sich nicht genau erinnern. Was fühlst du? Nur Unmut, denn sie muss nach Titelseite auswählen, und zwar schnell, zwischen Olivia de Havilland und Joan Fontaine, Bette Davis und Joan Crawford, die ohnehin schon in solcher Feindschaft leben, während sie doch am allerliebsten schwankt zwischen beiden, mal die eine, mal die andere vorzieht, je nach Film, nach Rolle, nach Gerücht, das gerade im Umlauf ist. Und wie gehst du dann vor? Weil ich keine Zeit habe, die Zeitschriften durchzublättern, entscheide ich wie gesagt nach Titelseite, ich spule die Bilder ruckzuck im Gedächtnis ab, die Ehemänner, die Kleider, die Frisuren, alles. Wie viele nimmst du mit? Ich musste einen Großteil zurücklassen, vielleicht die Hälfte, wer weiß, zum Zählen war keine Zeit, ich konnte nur zwischen zwei Stapeln wählen. Die Zeitschriften, die sie mitnimmt, schnürt sie fest zusammen, stellt sich vor, wie sie mit ihrem kleinen Papierbündel über die Meere fährt und sich bei Schiffbruch daran klammert, ihre Finger am Knoten der Schnur festkrallt. Die Zeitschriften, die sie nicht mitnimmt, hat wahrscheinlich jemand verbrennen lassen, sie weiß es nicht. Plötzlich tränen ihre Augen, und er kann nicht sagen, ob sie an den Rauch denkt oder traurig ist. Obwohl sie von seiner Fragerei erschöpft sein müsste, fährt sie fort. Dein Vater kaufte mir meine Photoplays. Gern sah sie ihn einmal im Monat mit der neuen Ausgabe unterm Arm heimkommen, die sich, kaum war er über die Türschwelle getreten, schon in ihren gierigen, ungeduldigen Händen befand, die alles stehen und liegen ließen, um durch die Seiten zu blättern. Sie verschlang die Fotos, die Bilder, die Werbung, las die Bildunterschriften laut auf Englisch vor. Und wenn sie die Ausgabe selbst besorgen wollte, zusammen mit den übrigen Einkäufen, lehnte er rundweg ab, bestand darauf, diesen Kauf von den anderen Käufen zu trennen, er wollte ihre Träume nähren, ohne diese durcheinanderzubringen oder auch nur anzutasten, denn jedes Mal legte er den Gegenstand mit demselben Kommentar auf den Tisch, hier, deine Zeitschrift, ich weiß wirklich nicht, wie du so was lesen kannst, wo es doch so viele Probleme auf der Welt gibt, was sie mit einem Lächeln quittierte, einem entzückten, begierigen, überlegenen Lächeln.
Monat für Monat wächst der Stapel an, bis er einen wackeligen Turm bildet, und so reiht sie die Zeitschriften schließlich horizontal auf, um bestimmte Nummern hervorziehen zu können, ohne dass alles zusammenstürzt. Und als die Schneiderin der Familie ihr vorschlägt, nicht die ganze Zeitschrift mitzubringen, sondern nur die betreffende Seite herauszureißen, protestiert sie und schwört sich, eine solche Schmach niemals hinzunehmen. Er wundert sich über ihre Ausdrucksweise, unterbricht sie aber nicht.
In Frankreich angekommen, bringt er ihr als Ersatz für Photoplay diverse andere Magazine mit, bis sie sich halbherzig für eines entscheidet. Für ihre Kleider indessen lässt sie sich weiterhin von Photoplay inspirieren. Schließlich, so sagt sie, waren die Vierzigerjahre das Paradies, die Sternstunde, danach ist es mit allem bergab gegangen. Einmal weist er sie darauf hin, dass die Vierziger doch die Kriegsjahre gewesen seien. Warum ist es danach bergab gegangen?, fragt er, immerhin war der Krieg vorbei. Nein, danach haben die Hollywoodstudios an Einfluss verloren, und uns hat man ausgewiesen. Wir alle wurden aus dem Paradies vertrieben. Sie genau wie wir. Über die Stunden, die diese Sternstunde gefährden, schweigt sie jedoch.
Ja, es war in The Bad and the Beautiful, betont sie auf dem Weg zurück in die Küche, das Kleid aus weißem Krepp Georgette mit Sonnenplissee und wallendem Jabot. Aber wie du siehst, habe ich auf das Jabot verzichtet. Der Stoff war einfach zu teuer. Und Maria hätte sich völlig verausgabt. Was hat denn der Arzt gesagt?, fragt sein Vater beiläufig, während sie mit ihren Armen samt Töpfen große Gesten macht, für jeden Handgriff weit ausholt, um sich Platz zu schaffen, ja keine Flecken zu bekommen, lieber solche Mühen auf sich nimmt, solche Vorsichtsmaßnahmen ergreift, als ihr Kleid durch einen gewöhnlichen Hausanzug zu ersetzen.
Kurz nachdem er das Wort »seltsam« ausgesprochen hat, vereinbart sie einen Termin im Krankenhaus. Sein Vater beschließt, dieses Bein werde sich schon von selbst richten, für dieses bisschen werde er sie nicht ins Krankenhaus begleiten. Als sie mit der Kleinen im Arm schon in der Tür steht, hört er sich sagen, ohne dass er dabei seinen Vater ansieht, wartet auf mich, ich komme mit!
Überall, auf den Schildern, an den Gebäudefassaden, ist der Name Kinderkrankenhaus, Hôpital des Enfants Malades, zu lesen. Bei der Vorstellung, dass die Kleine ein krankes Kind ist, gefriert ihnen das Blut in den Adern. Wortlos, vor sich hinstarrend, laufen sie die Gänge entlang. Als sie das Gebäude erreicht haben, wo die Sprechstunde stattfindet, senkt seine Mutter vor den Frauen in Weiß, die nach ihrem Namen fragen, nach ihrer Adresse, den Blick hinab zur Brust, das changierende Blau ihres Kleids schenkt ihr Kraft; wie schön, dass sie nur den Kopf senken muss, um den Himmel zu sehen, flüstert sie ihm zu.
Sie bewegt sich durch den breiten Flur wie durch ein feindliches Meer. Hinter ihr erntet er die bösen Blicke, nimmt die ersten Fetzen von Bemerkungen auf, die die anderen Mütter machen. Plötzlich hat er den Eindruck, ihr blaues Kleid würde leuchten. Und als sie sich endlich setzt, lächelt er den anderen Frauen zu, wie um ihnen zu verstehen zu geben, dass seine Mutter erstens die Schönste unter ihnen ist, und sie es zweitens nicht wagen würde, solche Farben zu tragen, wäre die Kleine genauso krank wie ihre Kinder.
Im Warteraum lässt sie sie im Kinderwagen liegen, vermeidet nach Möglichkeit, sie auf den Arm zu nehmen, aus Angst, den Stoff zu knittern; vergeblich erklärt sie Maria jedes Mal, ich trage die meiste Zeit ein Baby mit mir herum, wissen Sie, und noch dazu eins, das nicht laufen will, ich brauche einen Stoff, auf dem keine Spuren zurückbleiben. Ava Gardner hat keine Kinder bekommen, und Lana Turner ihre arme Tochter bestimmt nicht oft getragen … Die Kinder der Schauspielerinnen waren für die Fotografen da, aber den Rest der Zeit blieben sie bei ihren Kindermädchen. Maria nickt, gibt jedoch zu, sich von solchen Erzählungen manchmal mitreißen zu lassen und sich ihre Kundin nicht wirklich woanders vorstellen zu können als am Filmset. Zutiefst gerührt erwidert diese das Kompliment und betont, dass sie weit mehr sei als nur eine Kundin.
Im Behandlungszimmer sind alle in Weiß gekleidet. Selbst als sie sitzt, sticht ihr blaues Kleid noch wie ein Fleck hervor. Um weniger verlegen zu sein, wendet er einen mentalen Trick an, den sie ihm beigebracht hat: sich die Welt in Schwarzweiß vorzustellen. Das entspannt, sagt sie. Er konzentriert sich, versucht, eine harmlose Abstufung von Kontrasten und Nuancen vor sich erscheinen zu lassen, eine sanfte Einheit aus Schwarzweißtönen, und als die Sekretärin endlich den Namen seiner Schwester aufruft, ist das blaue Kleid grau geworden. Seine Mutter gibt die Kleine an den Arzt weiter und setzt sich wieder neben ihn.
Mit Staunen beobachten sie, wie die großen Hände die winzigen Beinchen abtasten, sich an ihnen zu schaffen machen, sie auseinanderspreizen. Bei jeder Bewegung die Angst, sie könnten reißen wie Schmetterlingsflügel, doch die Finger des Arztes scheinen das weiße Fleisch wunderbar geschmeidig zu machen.
Daheim posaunt sie zuallererst, dass ihr Arzt, der Arzt deiner Tochter, korrigiert sein Vater barsch, doch sie fährt fort, mein Arzt sieht aus wie Robert Taylor. Sie kniet sich neben ihren Stapel, zieht eine Ausgabe hervor und hält sie hoch: ein sehr schöner Mann, sehr elegant, nicht wahr? Er weiß nicht, ob sie sich für das Fernbleiben seines Vaters rächt oder ob Charme die Sorge verflüchtigen soll, denn am Ende hat der Arzt eine ganze Reihe von Untersuchungen verordnet. Er war lange mit Barbara Stanwyck zusammen, sagt sie weiter, und die war mal wer, nämlich die bestbezahlte Schauspielerin Hollywoods, eine männermordende Frau, nicht zu vergleichen mit dem Bild, das sie heute abgibt. Und schließlich schwört sie, nie wieder mit grellen Farben ins Krankenhaus zu gehen, im Reich des Weißen werde sie Weiß tragen, selbst wenn man sie für einen Hochzeitsgast hält, der die Braut überstrahlen will. Ist er Bob Taylor nicht wie aus dem Gesicht geschnitten?, fragt sie und hält ihm eine Photoplay vors Gesicht.
Zu dritt nehmen sie Platz um den Gurkensalat, den sie vorsichtig serviert, um keine Ölspritzer abzubekommen, ihr weißes Kleid nicht zu beflecken. Bis ins kleinste Detail erzählt sie ihnen von der morgendlichen Sprechstunde, ohne zu merken, dass sein Vater die Geduld verliert, immer angespannter wirkt, und als sie die Schüssel Spaghetti mit Soße bringt und die Teller füllt, fragt er: Was genau hat sie? Ach, eine kongenitale Luxation der Hüfte, antwortet sie so nüchtern wie möglich, als hätten diese Wörter schon immer zu ihrem gemeinsamen Vokabular gehört. Sein Vater starrt auf den dampfenden Teller, den sie ihm hingestellt hat, wartet einige Sekunden, wickelt dann ein paar Spaghetti um seine Gabel und führt sie zum Mund. Aber er spuckt sie sofort wieder aus. Er ruft ihr in Erinnerung, dass er zu heißes Essen hasse, dass sie das auch wisse. Ruckartig stülpt er den vollen Teller um, seine Mutter kann nicht mehr ausweichen, sodass die Soße auf das Oberteil ihres weißen Kleids spritzt. Er geht zum Sessel, setzt sich vor den Fernseher.
Die rote Soße läuft von der Spitze des Spaghettibergs bis zum Tischrand. Er springt vom Stuhl auf, hebt, um etwas zu tun, die Tischdecke an, damit die Soße nicht auf den Teppich läuft. Von so viel hausfraulicher Achtsamkeit ist er selbst überrascht, doch irgendeine freundliche Geste muss der ganzen Gewalt entgegengesetzt werden. Seine Mutter streichelt ihn an der Schulter, während sie die roten Flecken auf ihrem weißen Kleid mit der Ecke einer befeuchteten Serviette abreibt, und bedeutet ihm dann mit einem Blick, den Raum zu verlassen. Zum Glück habe ich auf das Jabot verzichtet, murmelt sie. Er hebt seine Schwester vom Boden in der Nähe des Tisches auf und nimmt sie mit, behält so die Fassung, obwohl er die eigenen Arme und Beine nicht mehr spürt. Und als würde seine Schwester nicht ausreichen, läuft er noch einmal zurück, einen Arm mit der Kleinen beladen, den anderen nun mit dem dicken Wörterbuch, das er jüngst zu seinem dreizehnten Geburtstag bekommen hat. Noch ein wenig außer Atem erklärt er, dass kongenital ganz einfach angeboren heiße, dass es nicht unbedingt schlimm sei. Das denke sie auch, antwortet seine Mutter, es sei denn … Es sei denn was?, fragt sein Vater, der an den Tisch zurückkehrt. Am Ende sprach er von einem emotionalen Schock, aber mein Kleid war so zerknittert, dass ich nicht weiter nachbohren wollte. Nächsten Monat werde ich ihn fragen, was er darunter versteht, und ein Kleid anziehen, das nicht knittert, ich sage es Maria jedes Mal, aber sie hört ja nicht, vor allem nicht in letzter Zeit. Wer weiß, ob ich jemals das perfekte Kleid für solche Besuche kriege, immer stimmt irgendwas nicht. Du kannst nächsten Monat mit mir kommen, wenn du willst, sogar mit dem Wörterbuch, sagt sie zu ihm. Gut, lasst uns essen, sagt der Vater und nimmt seinen Platz wieder ein, wir verpassen sonst den Anfang.
Sie hat alles aufgesammelt, alles sauber gemacht, die kalt gewordenen Spaghetti in die große Schüssel zurückgegeben. Sie serviert mit den gleichen behutsamen Gesten, als ob nichts geschehen wäre, obwohl er ihre Finger leicht zittern sieht. Die Kleine ist wieder auf dem Teppich, sie essen schweigend, sein Blick kreuzt den Blick seines Vaters, folgt ihm, verfolgt ihn bis zu den braunen Spuren auf dem weißen Kleid, und er denkt, dass die Soße sich mit einem Jabot noch viel stärker verteilt hätte, dass es viel schlimmer gewesen wäre, mit einem farbigen Stoff dagegen weniger. Keiner kommt auf den Ausdruck zurück, der um den Tisch schwebt, zwischen den Tellern, sich den Weg in seine Gedanken bahnt, sie gerinnen lässt, bis die sechs Silben verklumpen und rein gar nichts mehr bedeuten, Emotionalaschock, weder Szene noch Bild noch sonst irgendetwas erahnen lassen.
Am Fuß des Fernsehers plappert sie. Verstreut um sie herum liegen Würfel, Puppen, Spielzeuggeschirr. Sie schaut zum Fernseher auf, ihr Blick gleitet über die Silhouette des Generals, dem niemand zuhört, da er noch immer von England spricht. Sie greift nach einem roten Plastikbecher, führt ihn zum Mund, wirft den Kopf nach hinten. Er rutscht vom Stuhl hinunter, um sich neben sie zu setzen, nimmt sich einen eigenen Becher, den er sanft gegen ihren stupst. Sie stoßen an. Er sagt: Zum Wohl! Sie bricht in Lachen aus. Und noch einmal: Zum Wohl! Sie lacht und gluckst noch lauter. Ihr Glucksen reinigt den Raum vom Gezeter, von den Flecken. Ihre Mutter bückt sich – komm, Zeit zum Mittagsschlaf –, hebt sie auf wie ein Wäschebündel und verschwindet mit ihr im hinteren Teil der Wohnung.
Er bleibt auf dem Boden sitzen, hantiert mit dem Spielzeuggeschirr in der Hoffnung, dass seine Schwester protestiert, nicht schlafen gehen will, doch vom Flur aus dringt kein einziger Schluchzer zu ihm. Sein Vater rügt ihn schließlich, ein Junge in seinem Alter mit solchen Babyspielen, zumal für Mädchen, also wirklich!, und befiehlt ihm zusammenzuräumen. Langsam sammelt er die Einzelteile ein, will alles, nur nicht aufstehen und wieder seine volle Körpergröße annehmen. Erst als sein Vater sich in den Sessel setzt, richtet er sich auf, allerdings weit hinter ihm. Hast du denn heute keine Schule?, fragt er ihn, während er unverwandt auf den Fernseher starrt. Er lügt schamlos, ohne weitere Erklärung, da verkündet der General: »Nun zum Orient.« Sein Vater richtet sich im Sessel auf, und obwohl er dachte, sie würde nicht zurückkommen, tritt seine Mutter ins Zimmer, mit einer Tasse Kaffee in der Hand, und wiederholt prompt, der Orient, der Orient, mit einer Spottlust, die ihr gar nicht ähnlichsieht. Erinnerst du dich an das Ende von Morocco?, fragt sie und stellt den Kaffee auf den Couchtisch neben seinem Vater ab. Marlene Dietrich zögert lange, Gary Cooper in die Wüste zu folgen. Sie trägt ein Tulpenkleid und Stöckelschuhe. Er weiß nicht, wem all diese Ausführungen gelten, wo der General doch zu sprechen beginnt. Es war das Tor zum Orient, sagt sie. Sein Vater erwidert bloß, dass sie den Orient mit der Wüste verwechsle, und bittet sie zu schweigen. Nach der Szene am Mittagstisch will er keinen schärferen Ton mehr anschlagen. Sie schweigt, bleibt jedoch stehen und lächelt weiterhin. Sein Vater trinkt den Kaffee in kleinen Schlückchen.
Er nähert sich ihr, um leise zu fragen: Und? Was macht sie? Wer? Marlene Dietrich. Ah, na klar geht sie! Natürlich! Zunächst mit ihren beigen Stöckelschuhen, bestimmt aus schönstem italienischem Leder gefertigt. Sternberg nahm es mit seinen Kostümen sehr genau. Er hatte in einer Stickereiwerkstatt angefangen und widmete sich dem Kino, weil er sehr feine Finger hatte, die mit Filmstreifen genauso gut umgehen konnten wie mit Spitze. Dann zieht sie ihre Schuhe aus und folgt der Karawane. Sie lässt alles zurück, um in der Wüste Marketenderin zu werden. Das Bild ist immer noch hier drin, sagt sie und zeigt auf ihre beiden Schläfen: die herrlichen, in den Sand geworfenen Pumps, kurz davor, von den Dünen geschluckt zu werden, was für ein Jammer … Sie hält inne. Meinst du, sie hat die richtige Entscheidung getroffen oder die falsche?, fragt er. Sie legt den Zeigefinger auf ihre Lippen, deutet mit einer Kinnbewegung auf den Bildschirm, aber er ahnt, dass sie zögert, nicht weiß, welche Antwort sie ihm geben soll. Sie schweigt einige Sekunden, dann flüstert sie, in der letzten Filmszene packt die Dietrich energisch eine Ziege bei der Leine, und ballt zur Nachahmung die Faust. So, sagt sie lauter und zieht an einem unsichtbaren Strick.
Seid ihr endlich still!, knurrt sein Vater, ohne sich umzudrehen.
Sie müsse nach unten zu Maria, sagt sie. Nein, sagt er, bleib noch kurz, wagt aber nicht, ihr in die Augen zu sehen. Sie nickt und setzt sich aufs Sofa. Er nimmt links neben ihr Platz.
Er sollte sich freuen über diesen Moment, dem er seit Tagen entgegenfiebert, für den er alle belogen hat außer Pepito: Ich komme heute Nachmittag nicht, ich gucke mir den General an, sag einfach, ich sei krank, oder dass es wegen meiner Schwester ist, such dir was aus. Es ist seine erste Pressekonferenz, seit sie einen Fernseher haben. Ein Anflug von Neid flackert im Schokoladenblick seines Freundes auf, der zaghaft hinzufügt, ich könnte ja auch die Schule schwänzen und die Konferenz mit dir zusammen schauen. Schon sieht er Pepito neben sich sitzen, hinter seinem Vater, verschüchtert und zahm, und also erwidert er, gesetzt den Fall, du guckst mit, wer leiht mir dann seine Hefte, um den Stoff nachzuholen? Pepito wird wie immer unsicher, wenn er sich ungewohnt ausdrückt, was ihn zufrieden stimmt, weil diese Verunsicherung seinen Vorsprung bezeugt, das Ausmaß seines Wortschatzes.
Der General spricht ohne Notizen, ohne Teleprompter.
Er weiß, dass er seine Texte auswendig lernt, sich stundenlang in sein Arbeitszimmer einschließt und sie unermüdlich einübt. Sein Gedächtnis ist so beeindruckend wie seine Körpergröße, von klein auf trainiert unter Anleitung seines Vaters, einem Geschichts- und Lateinlehrer. Mal stellt er sich dieses Gedächtnis länglich vor, aufgehängt wie ein Gestirn im Inneren seines großen Körpers, mal als zirkulierende Flüssigkeit. Vielleicht hat er sogar einen Repetitor, jemanden vom Theater, der seine Sprechweise korrigieren kann, seinen Rhythmus, seinen Umgang mit stummen Konsonanten, damit er sich genauso tadellos ausdrückt wie ein französischer König. Ein Staatschef muss sein Volk überragen, durch die Bauten, die er errichten, die Medaillen, die er prägen, und die Reformen, die er verabschieden lässt, doch genauso muss er sich durch gewandte Reden hervortun, die er vor laufenden Kameras hält, denkt er eng an seine Mutter geschmiegt, um kurz darauf zusammenzuzucken.
Was ist los mit dir?, fragt sie.
Sie haben es nicht gehört. Sie können es unmöglich nicht gehört haben, denkt er Schlag auf Schlag.
Dem General ist ein Velours unterlaufen, sagt er mit kaum hörbarer Stimme. Sein Vater dreht sich abrupt um. Sein Kopf, seine Arme, sein ganzer Körper bringt die Luft zum Zischen. Mit der Hand ist er gegen die kleine Kaffeetasse gestoßen, hat sie umgeworfen. Seine Mutter will sie schnell aufheben, doch er macht eine Geste, bedeutet ihr zu bleiben, wo sie ist. Aber der Teppich …, protestiert sie. Die braune, körnige Substanz läuft auf das grüne Muster, wird in Sekundenschnelle aufgesogen. Sie setzt sich wieder, ohne den Fleck aus den Augen zu lassen. Was hast du gesagt?, fragt sie. Dem General ist ein Velours unterlaufen, er hat einen Konsonanten gesetzt, wo keiner hindarf. Spricht man ein S, wo keins hingehört, heißt das Velours – wie der samtige Stoff –, erklärt er. Setzt man fälschlicherweise ein T, wie z. B. »il va-t-à la plage«, statt einfach »il va à la plage«, nennt man das hingegen Cuir – Leder. Seine Mutter schielt mit zusammengekniffenen Augen zum braunen Fleck auf dem grünen Teppich, froh, nichts unternommen zu haben, denn die zwei Farbtöne vermischen sich langsam. Sie wiederholt mechanisch die Wörter Velours und Cuir, als kämen sie ihr zum ersten Mal über die Lippen. Warum Schneiderbegriffe? Man sagt Velours, weil es weicher ist als Leder, und deshalb heißt der Konsonantenfehler, der für unsere Ohren am härtesten klingt, auch Cuir. Sie blickt ihn verständnislos an. Er setzt neu an: Cuir bedeutet, dass man ein T setzt, wo keins hingehört. Man sagt Cuir, weil man die Sprache entstellt, ihr geradezu die Haut herunterreißt, aber das hier war weicher, also ein Velours: »ce qu’ils avaient-s-été de tout temps« statt ce qu’ils avaient été de tout temps – was sie von jeher waren.
Sein Vater dreht sich nicht mehr um, obwohl sie ununterbrochen weitertuscheln. Eigentlich müsste er sich nochmals umwenden und brüllen, dass sie still sein sollen, doch er rührt sich nicht. Er müsste zu ihnen sagen, aber das ist ja noch schlimmer, c’est pire qu’un cuir, als würde er den Ausdruck schon kennen, pirkincuir, in einem Zug gesprochen. Doch nichts. Plötzlich ängstigt ihn die Reglosigkeit, das Schweigen seines Vaters, fast fürchtet er, ihn tot in seinem Sessel vorzufinden. Ohne mich hätten sie es nicht mitbekommen, denkt er noch einmal, und er will gar nicht erst hinzufügen, dass es klingt, als richtete der General sich direkt an sie drei, in der zweiten Person Plural, ce que vous avez été de tout temps, was ihr von jeher wart, als spräche er vom Apparat, vom Élysée-Palast aus direkt zu ihnen, vor den Kameras der ganzen Welt. Manche fürchteten sogar, dass ihr, die ihr bis dahin in alle Winde zerstreut gelebt habt, doch geblieben seid, was ihr von jeher wart …
Seit Tagen warten sie auf diese Konferenz, seit Tagen probt de Gaulle sie mit einem Theaterschauspieler, und nun lispelt er fast. Er lehnt sich leicht an seine Mutter an, die noch immer auf den Teppich starrt und am liebsten aufstehen würde, um die umgeworfene Tasse aufzuheben und den Kaffeefleck abzureiben, ihn vollständig verschwinden zu lassen.
Haben es sonst noch irgendwelche Zuschauer gehört? Diejenigen Freunde seines Vaters, die auch einen Fernseher haben? Wäre es ihm im Radio genauso aufgefallen? Und was, wenn sie sich mit diesem Fernseher tatsächlich den Teufel ins Haus geholt haben? Die Kamera bleibt auf den General gerichtet, der keinerlei Verwirrung erkennen lässt, argumentiert und skizziert, während sein Vater sich jetzt im Sessel windet. Sieh ihn dir an, wie ungerührt er ist, zuckt nicht mal mit der Wimper, hockt da wie im Gottesdienst, sagt er und zeigt auf einen der Männer, die rechts neben dem General sitzen. Wer?, fragt seine Mutter. Michel Debré, antwortet er. Sie wundert sich nicht, dass er anstelle seines Vaters antwortet, dass er Bescheid weiß. Und Raymond Aron, ist der auch da?, fragt sie lauter. Aaron, verbessert sein Vater, indem er das a verdoppelt, es in die Länge zieht. Nein, aber er schaut bestimmt zu. Ja, natürlich, Aaron, dein größtes Schreckgespenst, sagt sie leicht stolz, als begrüße sie seine Streitlust. Nicht mehr, stellt er richtig. Ach ja? Warum nicht mehr? Er ist also nicht mehr dein Schreckgespenst?, fragt sie fast schon enttäuscht.
Vergiss den Juni nicht, bekommt sie lediglich zur Antwort. In ihm aber kommen Bilder auf, in dem zwei Größenordnungen aufeinanderprallen: Das Schreckgespenst erscheint in Gestalt einer großen schwarzen Bestie, die ein wildes, im Schatten der Wälder jagendes Rudel anführt, aber auch in Form sehr kleiner schwarzer Viecher, flirrender Insektenschwärme auf wenigen Quadratmillimetern. Schwarze Biester, mal draußen in der Welt, mal auf dem Fernsehbildschirm, oder sogar im Apparat selbst.