Kitabı oku: «Die Zuschauer», sayfa 3
Sein Vater hat Raymond Arons Bücher nie gelesen, ja nicht einmal dessen Zeitungsartikel, abgesehen von jenem einen, auf den ihn am 4. Juni ein Freund hinweist. An diesem Tag kauft er sofort die Zeitung und schneidet den Artikel aus. Zu Hause geht er auf und ab und liest ihn mehrmals laut vor, sogar im dunklen Flur: »Wenn die Großmächte, dem nüchternen Kalkül ihrer Interessen gemäß, den kleinen Staat, der nicht meiner ist, der Zerstörung anheimgeben, wird dieses Verbrechen, das rein zahlenmäßig kein allzu großes ist, mir die Kraft zum Leben rauben.« Seine Mutter ist mit der Kleinen in der Küche und hört mit halbem Ohr zu. Er geht die Erklärung Zeile für Zeile durch, hält ihr den Artikel schließlich unter die Nase. Lustlos folgert sie, dass Aaron vielleicht endlich auf sein Herz höre. Eine solche Trennung zwischen Herz und Verstand missbilligt er und geht gereizt ins Wohnzimmer zurück. Ich weiß nicht, was schlecht daran sein soll, ein Herz zu haben, beharrt sie. Sein Vater antwortet nicht. Zur Strafe streckt sie ihm die Kleine entgegen. Nimm sie, ich hab’ zu tun, Maria wartet auf mich. Mit der Tochter im Arm schaut er weiter auf seinen Zeitungsausschnitt und deklamiert von Neuem.
So steigt Arons Satz schließlich in die Raumluft auf und lässt ein Bild entstehen, den kleinen Staat, der nicht meiner ist, Konturen aus Erde und Fleisch, zuckend wie ein lebenswichtiges Organ. Vom Flur aus, wo er sich versteckt, stellt er sich vor, wie das Herz seines Vaters am kleinen Schenkel seiner Schwester zu pochen beginnt, die es vielleicht spürt, ohne zu begreifen, was es ist, und Angst bekommt. Außer Atem setzt der Vater sie plötzlich auf dem Teppich zwischen ihren Spielsachen ab und schaltet den Fernseher ein. Er durchmisst weiter das Wohnzimmer, umkreist sie und befindet, dass dieser Aaron mit harten Bandagen kämpfe, dass es fast schon unangenehm sei, wie er mir nichts dir nichts alles auf den Tisch legt, seine Seele, sein Herz, und warum nicht seine … Wo kommst du denn her?, fragt er barsch, als er ihn wieder auftauchen sieht. Er wirft sich auf den Teppich, vergräbt den Kopf im Nacken seiner Schwester, antwortet nicht.
Über ihnen setzt das Deklamieren von Neuem ein, aber sie sehen nur das Ballett seiner Beine, zwei braune Stelzen, die sich hin und her bewegen, sich vereinen, sich überkreuzen, und sie manchmal streifen, als wären sie ein einziger geballter, grober und geschlechtsloser Körper. Das kommt davon, wenn man jahrelang einen auf großen Geist macht; lässt man sich erst mal gehen, dann richtig, tönt er. Er kann nicht sagen, ob sein Vater von der eigenen Feststellung erleichtert oder verärgert ist, zufrieden gestimmt oder entnervt. Er richtet sich ein wenig auf und fragt ihn. Die Beine erstarren für einen Augenblick. Du hast doch vom Krieg gehört, oder?, sagt sein Vater, sie müssen gewinnen. Er nimmt die Sorge, die Schärfe in seiner Stimme wahr, während er weiter an der zarten Haut riecht, am frischen Nacken, an den Locken seiner Schwester, die seine Wange kitzeln. Und können sie gewinnen?, wagt er sich vor. Sie müssen gewinnen!, entgegnet sein Vater. Er sieht, wie das Bein der Kleinen nach innen rotiert. Vorsichtig nimmt er es in die Hand und dreht es, bringt es wieder in Stellung, steht auf und sagt, er gehe zu Pepito.
An der Tür merkt er, dass das Bein nicht gehalten hat. Nimmst du sie nicht mit?, fragt sein Vater. Er zögert, er könnte sie überallhin mitnehmen, um sich nie von ihr trennen zu müssen, aber er schüttelt den Kopf, unterdrückt diese Anwandlung wie an jenem Tag, an dem seine Mutter mit der Kleinen im Arm aus der Klinik zurückkam: Er betrachtete die beiden von Weitem, wollte nichts überstürzen, verließ das Sofa nicht, auf dem er in Abwesenheit seiner Mutter die ganze Zeit allein gesessen hatte. So an ihre Brust geschmiegt, nimmt sie allen Platz in ihrem Herzen ein, dachte er für sich, und gleich darauf, dass sie mit ihr ihr Kleid schmücke wie mit einer Brosche – ein hübsches, dekoratives Accessoire. Seine Mutter wunderte sich, worauf wartest du noch? Komm deine Schwester begrüßen.
Er stand endlich auf, näherte sich mit plötzlich weichen Knien, weich wie diese kleine Fleischmasse, die er zwischen Tüchern entdeckte; er legte die Finger darauf, drückte sie hinein. Trotz der zwölf Jahre, die sie auseinander sind, begriff er, dass er und dieses wenige Tage alte Baby ein und denselben Fleischblock bildeten, urwüchsig, verschmolzen, alterslos, weder Mädchen noch Junge, weder von hier noch dort.
In Pepitos Zimmer bekommen sie alles mit, das Rattern der Nähmaschine, die Gespräche, das Reiben der Stoffe während der Anproben, denen sie natürlich nicht beiwohnen dürfen. Wenn ich nachts aufwache, lege ich mich drüben aufs Sofa, sagt Pepito. Meine Mutter setzt sich dort auch manchmal hin und näht im Schein ihrer kleinen Lampe. Am liebsten, fügt er hinzu, schlafe ich wieder ein, während sie in diesem Lichtkreis näht. Selbst wenn die Maschine rattert? Ja. Ich habe das Gefühl, das Kleidungsstück zu sein, der Stoff zwischen ihren Händen, weich und leicht, eine Baumwollhülle, ein Gespenst, das in der Luft schwebt, ich fühle mich geborgen. Sie legen sich aufs Bett, lauschen derart angestrengt, dass sie durch die Wand sehen können.
Cora, sagt sie beim Ablegen der Zeitschrift und des Stoffballens. 1946, mein Hochzeitsjahr. Aber für mich ist 1946 zuerst Coras Jahr – Im Netz der Leidenschaften –, und natürlich auch das Jahr von Gilda. Weit dahinter erst kommt meine Hochzeit. Seltsam, aber so ist das eben. Cora Smith ist Lana, Lana Turner. Schauen Sie, sagt sie und schlägt die Zeitschrift auf: Kleid aus weißem Krepp mit Schlüssellochkragen, kleiner Halsschleife, Taillengürtel über Tasche mit Ziernähten.
Ihre Beschreibungen stützen sich stets auf die Bildunterschriften, die sie übersetzt und auswendig gelernt hat. Sie verleiht ihnen Rhythmus, betont sie, spricht sie artikellos, wie abgefeuerte Salven. Es wäre ihm lieber, wenn sie weniger schwatzte und Maria sprechen ließe, aber sie macht weiter: In diesem Jahr wollten wir uns alle wie Cora anziehen, sogar ihren Badeanzug wollten wir, sehen Sie nur, wie wunderbar! Endlich äußert sich Maria: Das ist Sportkleidung, sagt sie kritisch. Stimmt schon, aber ist das nicht schick? Die Geschichte spielt in Kalifornien, und bei uns war es auch ein bisschen wie in Kalifornien, stellen Sie sich mal vor, was los war, als der Film angelaufen ist. In Filmen sind Schauspielerinnen selten gebräunt, und als wir Lana dann gebräunt in diesen so weißen Kleidern gesehen haben … Also wenn Sie mich fragen, ist diese Kleidung unsittlich, befindet Maria.
Pepito richtet sich auf, dreht sich zu ihm, der flüchtig die Augen öffnet. Die schweren Lider fallen ihm sofort wieder zu. Maria ist die Anstandsdame seiner Mutter, so, wie Pepito seine ist, im Viertel trennt sie die Spreu vom Weizen, erspart ihr unnützen oder heiklen Umgang. Ihm ist bewusst, dass die Eitelkeit seiner Mutter sich bisweilen durchsetzen kann, nach der Schule etwa, wenn sie ihn ganz in Schale geworfen abholen kommt, als wäre sie auf dem Weg zu einer Feierlichkeit, einem Fest, ihre Füße in Sandalen beim geringsten Sonnenstrahl, stets zu früh im Vergleich zu den anderen Müttern.
Als sie eines Nachmittags mit Maria vor dem Gitterzaun wartet und ein blaues Gürtelkleid trägt – das Maria mit dem Stolz der Ausstatter- und Kunsthandwerkerin betrachtet, stets versucht, eine Knitterfalte zu glätten, einen Abnäher zu korrigieren –, ist der Schuldirektor ihm und Pepito einen Schritt voraus und postiert sich vor den beiden Müttern. Senkt er plötzlich den Blick, weil sie schon kommen? Den nackten Beinen ausweichend, taucht er hinab zu den perlmuttschimmernden Zehennägeln in den blauen, zum Kleid passenden Sandalen. Für einen Moment ziehen die Fußspitzen seiner Mutter sämtliche Blicke an, bündeln sie, den Blick des Direktors, seinen, Marias, vielleicht Pepitos. Alle sind befangen, seine Mutter indessen redet weiter, wird immer mitteilsamer, ohne den Blick zu senken oder auch nur hinzusehen. Der Direktor klammert sich an ihre leichte, unbeschwerte Stimme und lässt den Blick wieder hinaufwandern, erregt, verwirrt, sekundenlang unfähig, sich zu beruhigen und den Faden seiner Lobrede wieder aufzunehmen, die er wie immer auf eine so glänzende, vorbildliche Schullaufbahn gehalten hat, ganz gleich, in welchem Fach. Auf dem Rückweg erklärt Maria, es sei noch zu kühl, um Sandalen zu tragen. Seine Mutter bestreitet das und fügt hinzu, dass diese arme Kim Novak welche anziehen wollte, um das graue Kostüm aufzulockern, das Hitchcock ihr in Vertigo aufzwang, doch Hitchcock lehnte rundweg ab und bezeichnete sie als schamlos. Ohne es deshalb gleich leid zu sein, begreift Maria abermals, dass sie nur scheinbar eine Anstandsdame ist und keinerlei Autorität genießt, nie auch nur eine dieser Eitelkeiten unterbinden wird, die sie verzweifeln und zugleich wahre Wunder vollbringen lassen.
Seit der Geburt seiner Schwester kommt sie nicht mehr an den Gitterzaun, aber sobald die Kleine laufen kann, verspricht sie, werde sie wieder da sein, um dem Lobgesang zu lauschen.
Übertreiben Sie nicht immer gleich, Maria! Ich finde Coras Sachen fantastisch. Vor allem dieses Kleid, mein liebstes. Ihr Handrücken klatscht auf die Zeitschriftenseite. Pepito und er wissen, dass die nun folgende Stille Marias Bedenkzeit ist, während der sie mit gekräuselter Stirn, gekräuselter Nase das Modell erneut beurteilt. Aber warum gibt es nur eine einzige Tasche?, fragt sie, zumal so groß und direkt am Gürtel … seltsam … wirklich seltsam … sieht fast aus wie eine Kellnertasche, ein ganzer Kellnerblock fände Platz darin. Eben, Cora ist Kellnerin! Sie haben wirklich ein gutes Auge, Maria!, ruft sie, aber ich glaube ja, dass in dieser Tasche nur ihr Lippenstift einen Platz hat … Genau das meine ich, beharrt Maria … Ihm und sogar Pepito wäre es lieber, wenn Maria ihre scharfsinnigen Urteile für sich behielte – obwohl es Pepito nicht unlieb ist, wenn sie ihre unterwürfige Zurückhaltung ablegt –, aber sie wiederholt das Wort »schamlos«. Seine Mutter kränkt es eher, mit einer Kellnerin verglichen zu werden als mit einer schamlosen Frau, und so bekräftigt sie: Die MGM hat all das Weiß verwendet, um die Sündhaftigkeit der Heldin herunterzuspielen, immerhin hat sie ja nicht Lana Turner selbst, sondern ihre Tochter des Mordes bezichtigt. Maria schweigt. Denken Sie, was Sie wollen, ich will genau das gleiche, spricht sie entschieden weiter. In Weiß? Ja, in Weiß. Haben Sie sich denn auch etwas zuschulden kommen lassen?, fragt Maria. Weil es in Rosa oder Grau schon weniger nach Kellnerin aussehen würde … Für Schwarzweiß spielen die tatsächlichen Farben sowieso keine Rolle, sagt Maria noch, der langsam die Argumente ausgehen. Man erhält grau, beige oder sogar rot, wenn man man weiß in Tee oder Kaffee tunkt. Woher wissen Sie das alles, Maria? So was weiß man eben im Schneiderhandwerk. Pepito bewegt sich neben ihm, behutsam, die Brust vor Stolz leicht geschwellt. Arbeitet deine Mutter wirklich als Schneiderin?, fragt er. Wem außer meiner Mutter schneidert sie denn noch Kleider? Zig anderen Frauen. Er fragt weder nach Namen noch nach Zahlen, glaubt, dass Pepito wichtigtut. Tee oder Kaffee! Und was ist mit Jezebel, als Bette Davis auf ihrem Ball mit rotem Kleid erscheint, anstatt Weiß zu tragen wie alle anderen Debütantinnen, meinen Sie, sie trägt da ein weißes, in Kaffee getunktes Kleid? Kann schon sein, stammelt Maria. Das ist furchtbar ungerecht, weil Henry Fonda sie deswegen ablehnt. Ich mag gar nicht daran denken, eine so große Schauspielerin, gezwungen, in einem schmutzigen, besudelten Kleid zu spielen, das noch dazu klatschnass ist … Andererseits ist mir das vielleicht sogar lieber, in Technicolor hätte ich Bette Davis ungern in einem echten roten Kleid gesehen … Ein Grund mehr, warum ich ein reines, unbeflecktes Weiß will; ich wüsste ja gern, was Sie gegen diese Farbe haben. Nichts, aber Weiß ist eine Farbe für junge Frauen. Aber ich bin eine junge Frau, Maria!, ruft sie mit schriller Stimme. Als der Film 1946 anläuft, bin ich noch nicht mal verheiratet. Also, wie viel Zeit brauchen Sie? Mein Mann sagt, wenn sie den Krieg gewinnen, werden wir das feiern, ich muss also bereit sein. Ein Krieg kann dauern, den gewinnt man nicht einfach so, murmelt Pepito. Die Ziernähte, betont Maria, sind viel Arbeit. Ich frage mich ja, ob man nicht doch zwei Taschen bräuchte, zögert seine Mutter. Dann wird es noch mehr Arbeit, antwortet Maria. Nein, das geht nicht, es muss wirklich sehr schnell gehen. Dann gehen Sie eben in ein Geschäft!, sagt Maria ärgerlich. Auf gar keinen Fall!, ruft sie entrüstet, drüben kam unsere Schneiderin um acht Uhr morgens, und um vier Uhr nachmittags war mein Kleid fertig. Ich zähle auf Sie, Maria, vier, fünf Tage, mehr nicht.
Dann fällt die Tür zu. Er schreckt auf. Bleib noch ein bisschen, sagt Pepito und legt eine Hand auf seinen Arm.
Nein, ich gehe wieder nach oben.
Wenn sie diesen Krieg gewinnen, hört er schon an der Wohnungstür – die sie nicht schließt, weil sie weiß, dass er ihr folgt –, kaufe ich dir dein Traumkleid. Seide, Satin, Musselin, was du willst! Wirklich?, fragt sie erstaunt über seine Großzügigkeit und gute Laune, obwohl er es doch hasst, mit der Kleinen lange allein zu bleiben, und sich für gewöhnlich, wenn sie wieder nach oben kommt, beschwert oder im Schlafzimmer verschwindet.
Sie hockt sich neben sie auf den Teppich, richtet ihr Bein, reibt die Lippen leicht an ihrer Wange und murmelt: Dein Vater wirkt zufrieden. Ist er am Ende sogar seine Schreckgespenster los? Auch gegenüber der Kleinen sagt sie nicht Papa, obwohl sie beginnt, genau diese zwei Silben zu bilden, zu wiederholen. So kann sie sich vielleicht bis zum Wort vortasten, es gebrauchen wie jedes andere französische Kind auch. Er fragt sich, ob er es in diesem Alter ebenfalls gesagt hat, wie lange und bis wann … Aber natürlich, erwidert sein Vater. Wir werden ja sehen, was sie nach dem Krieg alle sagen, angefangen bei diesem Aaron. Aaron, wiederholt sie summend, Aaaron, mit fröhlicher Miene, wie belustigt angesichts der Feststellung, dass ihr Mann dessen Unbehagen auskostet, dass die Schwärze seiner Schreckgespenster ebenso unbestimmbar ist wie deren Größe. Er bückt sich seinerseits und nimmt auf dem Teppich Platz.
Mein Traumkleid? Du hast wirklich mein Traumkleid gesagt? Dann wird es Gildas Etuikleid sein, Gilda Farrell, erklärt sie der Kleinen, 1933 von Lubitsch in Gestalt von Miriam Hopkins ins Leben gerufen, wiedergeboren 1946, und diesmal ist es Rita von der Columbia! Niemand weiß das außer mir … Warum erzählst du ihr das alles?, fragt er gereizt. Einfach so! Ich habe es letztens auch Pepito erzählt und ihm sogar gezeigt, wie Gilda tanzt, sagt sie und steht plötzlich auf. So … mit ihren Armen … ihren Handschuhen … über dem Kopf zu einer zarten Blütenkrone erhoben … leicht schlaff … sie wiegt sich in den Hüften … der Kopf leicht nach hinten geneigt … ihr langes Haar schwingt über den nackten Schultern … über ihrem Rücken. Er wagt es kaum, ihr zuzusehen. Du hast wirklich in deren Wohnzimmer getanzt?, fragt er, vor Pepito? Ja, also nur ein bisschen, antwortet sie und setzt sich wieder auf den Teppich, er aber springt auf, kneift seine Augen zusammen, um die Haut, die hellen Kleider seiner Mutter und Schwester verschwinden zu lassen und für ein paar Sekunden, am Fuß des Fernsehers, die Form eines einzigen Körpers erscheinen zu sehen, lang, röhrenförmig, mit Mundwerkzeugen und Zangen, ein flacher Gliederpanzer im Licht, ein schwarzes Schreckgespenst mit zwei Köpfen, das ihm noch lieber ist als diese aufrechte Silhouette, die sich unablässig vor Pepito schlängelt. Doch seine Vorstellung jagt ihm Angst ein. Er dreht sich um und geht auf seinen Vater zu.
Gibst du mir später den Zeitungsausschnitt? Den Artikel von Aaron?, fragt er ihn. Warum? Doch kurz darauf, hier, da ist er, ich kenne ihn sowieso auswendig: »Wenn die Großmächte, dem nüchternen Kalkül ihrer Interessen gemäß, den kleinen Staat, der nicht meiner ist, der Zerstörung anheimgeben, wird dieses Verbrechen, das zahlenmäßig kein allzu großes ist, mir die Kraft zum Leben rauben.« Er schiebt ihn in die kleine Brusttasche, ganz nah an sein Herz, und flitzt in sein Zimmer. Seine Schwester krabbelt ihm durch den dunklen Flur hinterher. An seinem Bett angelangt, schaut sie zu, wie er sich bückt und den Zeitungsfetzen seinem Papierhaufen hinzufügt. Sie kann inzwischen mühelos unters Bett kriechen, kommt schneller und näher an seinen Schatz heran als er. Ihre kleinen Finger wühlen emsig darin herum. Mit Daumen und Zeigefinger greift sie eine Zeitschrift, zupft an der Ecke eines Fotos; behutsam nimmt er ihr beides weg.
Seine Mutter verkündet, sie werde gleich morgen den schwarzen Satin für das Etuikleid kaufen gehen, sein Vater wiederum lädt ihn ein, zu einer Solidaritätskundgebung mitzugehen. Sein Satz ist wie eine Salve, die ihm keinen Raum zum Ausweichen lässt: Am Donnerstag hat er schulfrei; solange ein Krieg nicht gewonnen ist, kann man ihn verlieren, und sollten sie verlieren … Er spricht nicht weiter.
Eine Gabelung, ein Delta tut sich in seinem Gedankenstrom auf: Mit seinem Vater auf die Champs-Élysées gehen oder seine Mutter zum Marché Saint-Pierre begleiten? In seinem Wörterbuch schlägt er Etui nach – ein Futteral, eine Hülle, in der auch ein Messer oder ein Dolch aufbewahrt werden kann. Die Expedition zum Marché Saint-Pierre erscheint ihm auf einmal nicht weniger männlich als der Krieg, und in der Dunkelheit seines Zimmers blitzt der Körper seiner Mutter auf, reckt sich spindelförmig, wie um gezückt, geschwenkt zu werden. Am nächsten Morgen begreift er jedoch, dass er keine Wahl hat, dass er seinem Vater keinen weiteren Grund zu der Anklage geben darf, er lebe unter den Röcken seiner Mutter, geschützt vor Licht und Tatendrang. Also sagt er, dass er mitkomme, fügt aber hinzu, er könne genauso gut mit der Kleinen zu Hause bleiben, falls ihnen das entgegenkäme. Kommt gar nicht infrage, erwidert seine Mutter. Aber Pepito darf doch auch! Das ist was anderes, Pepito muss nicht auf ein Baby aufpassen.
Alle treffen sich unten vor dem Wohnhaus – selbst Pepito ist da, obwohl er sonst nirgends hingeht –, alle stehen sie auf den Stufen des Portalvorbaus, wie auf einem der Familienfotos, die er im Unterricht sieht, abgedruckt in den Geschichtsbüchern, Fotos voller Leute, treppenförmig aufgereiht vor alten Fassaden. Plötzlich bewegt sich seine Mutter, tritt aus dem Rahmen. Ohne dass sie ihn darum gebeten hätte, kommt Pepito allen zuvor und hilft ihr, den Kinderwagen der Kleinen die Stufen hinunterzutragen. Als der Wagen auf dem Bürgersteig steht, hebt er den Kopf, wischt sich die Stirn, die roten Backen. Betty Boop! Du siehst aus wie Betty Boop, Pepito!, ruft sie. Du kennst Betty Boop nicht, stimmt’s? Das ist eine Zeichentrickfigur aus den Dreißigerjahren, das Gesicht ist an Clara Bow oder Helen Kane angelehnt … ach, ich kann mich nicht erinnern, ist schon so lange her, aber jetzt weiß ich es endlich, ja, ganz sicher, du siehst aus wie Betty Boop! Wenn das nicht witzig ist! Sie lacht, während Pepito schwitzt, und noch röter wird, gekränkt, nicht nur mit einem Mädchen verglichen zu werden, sondern dazu noch mit einer Zeichentrickfigur, fleisch- und konsistenzlos. Wo er seit Monaten darauf wartet, dass sie endlich den Namen ausspricht, der die Nebel lichten wird, durch die sie ihn anblickt, weil ihr dieser Name auf der Zunge liegt, ohne dass sie ihn nennen kann; wo er jedes Mal hofft, den Namen eines amerikanischen Schauspielers zu hören, dessen Foto sie anschließend in ihrem Zeitschriftenstapel entdecken werden – ein schönes Gesicht, männlich, verführerisch –, räumt sie ihm lediglich einen Namen ein, der kaum einer ist, drei plumpe Silben, bet-ty-boop. Gern würde er ihren Kinderwagen von der höchsten Stufe runterrasen lassen, wenn er noch dort stünde, doch er ringt sich ein Lächeln ab, während sie hinzufügt, dass Betty Boop ein entzückendes Wesen sei, dunkle Locken, kugelrundes Gesicht, zwei große Augen, genau wie Pepitos. Mit langen Wimpern, sagt sie in Marias Richtung, und einem hübschen roten Etuikleidchen. Ein rotes Etuikleid für ein Kind? Maria ist empört. Betty Boop ist nicht wirklich ein Kind, eher eine Mischung aus Frau und Kind, und in den Vierzigern haben sie das rote Kleid ohnehin abgeschafft. Doch ihre Erklärungen machen nichts wett, im Gegenteil. Pepito hat genug gehört und entfernt sich. Wo gehst du hin? Weiß nicht. Und selbst als sie sagt, Marilyn habe später ein berühmtes Lied von Betty Boop neu gesungen, I wanna be loved by you, ja, Marilyn höchstpersönlich, wobei sie die Melodie trällert, poo-poo-pee-doo, ist nichts mehr auszubügeln. Pepito marschiert Richtung Park. Maria belehrt sie, dass José ein Junge sei. José ist Pepitos richtiger Name, den nie jemand benutzt, außer in der Schule und in seltenen Momenten wie diesem, da die Silben von Pepito denen von Betty Boop plötzlich zu ähnlich sind. Sie beharrt nicht weiter und schlägt vor loszugehen.
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