Kitabı oku: «Der Duft der indischen Nelke», sayfa 2

Yazı tipi:

2 Unter der Brücke von Lankwitz

Erneut jagt der Wind jede Menge Tropfen gegen die Scheiben. Es erinnert an die künstlichen Regenmaschinen à la Hollywood in den schwarzweißen Klassikern der 40er-Jahre. Seine Gesichtsfarbe ist blutleer und aschfahl. Wenn er seinen Mund öffnet, wäre es nicht verwunderlich, das Gebiss eines Vampirs zu entdecken.

„Hier wird es ungemütlich! Lassen Sie uns hoch in die Koje wechseln.“

In der Tat scheint es so, als würde die Temperatur sinken. Ein gewisses Vibrieren und Schaukeln ist zu spüren. Der Turm scheint in Bewegung zu kommen.

Ich folge ihm in Richtung Ausschank. Hinter dem Tresen, wo eine verlassene Kasse neben einem Zeitungsartikel steht, öffnet er seitlich eine Tür, die in die Holzverkleidung eingebaut ist. Eine enge Wendeltreppe führt nach oben. Ein kräftiger Ruck! Ich halte mich am Geländer fest.

Er ist schon nach oben verschwunden. Die Tür hat er offen gelassen.

Ich komme in einen Raum, der tatsächlich an die Kajüte eines Schiffes erinnert. Unterhalb eines enormen Fensters, welches einen pechschwarzen Himmel zeigt, steht der Länge nach ein geräumiges Bett. Er ist an der Kopfseite und bedeutet mir mit einer Handbewegung, dass ich mich dort hinlegen solle. Ich strecke mich aus. Eine Nachtbeleuchtung glimmt neben mir. Sein linker Mittelfinger berührt meine Stirn.

„Konzentrieren Sie sich nur auf die Berührung. Sie haben das Gefühl, dass mein Finger nun ein Teil von Ihnen ist. Sie werden jetzt zurückreisen und einen Aspekt von früher erleben.“

Mir wird seltsam warm. Mein Bewusstsein scheint sich aufzulösen.

Ein wunderbar lauwarmer Wind weht mir ins Gesicht. Es ist Twilight Zone. Die Laternen des großen Schulhofes des Lycée Aragon mischen sich mit dem Licht der sterbenden Sonne, die dem Tag ordentlich eingeheizt hatte. Ich sitze auf einer einfachen Holzbank ohne Lehne. Vor mir stehen zwei Mädchen. Die Blonde mit den beiden kurzen geflochtenen Zöpfen blinzelt mich unverschämt offen an.

„So a Berliner bischt!“

„Von Geburt an“, höre ich mich sagen, „du scheinst mir aus Schwaben zu sein? Was machst du denn hier in Perpignan?“

Ihr kurzer, rotkarierter Rock nimmt mit ihr auf meinem Schoß Platz. Erst danach fragt sie:

„Darf isch wohl? Isch so g’mütlischer! Schö‘ blau Aug’n hasch! Nö, isch komm aus Heidelberg.“ Sie beginnt mir vorsichtig über die Haare zu streicheln.

Mir wird warm und kalt in einem, wie bei einer erfolgreich vollbrachten sportlichen Höchstleistung. Der Duft von Tagetes streichelt mich in der Nase. Ein Kranich erhebt sich über einer nebelverhangenen Moorlandschaft. Ich öffne meine Augen und direkt vor meinem Gesicht sehe ich das hellblaue Paar von Dorle. Sie grinst mich an und ihre vielen Sommersprossen, die eine Revolution gegen alles Eintönige neben ihren Nasenflügeln zu planen scheinen, unterstreichen das vehement. Ich versuche, meine Freude über sie zu verbergen aber das gelingt nur mangelhaft.

„Was grinscht? Willsch‘ mich net auf deine Schoß habe?“

Dieser unverschämte Widerspruch in sich macht mich macht- und fassungslos.

„Ich habe ein nettes Zimmer nicht weit von hier. Hast du Lust, mit mir `n paar Platten zu hören?“

Ich spüre ihre Lippen auf meinen. Sie springt auf, nimmt meine Hand in ihre und wir sind auf dem Weg am Fluss entlang zu meinem Domizil bei meiner Gastfamilie.

Die nächste Laterne ist Bühnenscheinwerfer für tausende Motten, denen wir das Spektakel eines sich knutschenden Teenagerpaares bieten. Unsere Zungen leisten Rekordverdächtiges. Meine zumindest ist Ewigkeiten später beim Eintreffen in meinem Souterrainzimmer reichlich krampfgefährdet.

Ich habe hier in Frankreich die Gruppe Moody Blues im Fernsehen kennengelernt und mir sofort Nights in White Satin gekauft. Diese Scheibe dreht sich nun im Akkord auf dem kleinen tragbaren Plattenspieler. Der Ton kommt aus dem Lautsprecher, den dieses Gerät im Deckel versteckt hat. Wir drehen uns dazu in vorgeschriebenem Schneckenrhythmus, wobei kein Blatt Seidenpapier unzerknittert zwischen uns passen würde.

Ich trenne mich ungern aus ihren Armen, aber die Rückseite der Schallplatte, Cities, ist auch nicht übel.

„Dein Bett isch sicher g’mütlich!“ Sie nimmt mich an die Hand und lässt sich rücklings auf die weiche Zudecke fallen, wobei ich nach dem Gesetz der Schwerkraft auf ihr zum Liegen komme.

„Bischt aba arg schtürmisch!“, kommentiert sie. Nun, neben ihr angekommen, nehme ich ihr Gesicht in beide Hände. Nach Küssen auf Wangen, Stirn und Nase übernimmt sie und schmiegt ihr badensisch schwatzendes Zünglein zu meiner.

Sie setzt sich auf und zieht ihre dunkelgraue Chiffonbluse langsam aus. Der kleine Plattenspieler schweigt und ich schließe mich der Stimmung an. Mon Dieu, was ist sie gut gebaut. Dass sie als Schwimmerin mit ihrem Verein hier in Perpignan ist, könnte niemand abstreiten.

„Du kannscht net mit mir bummse. Aba isch weiß was Schönes!“

Ihre Zunge schleckt mein Ohr. Ich streichele ihre samtig weichen Brüste und zwicke ihre Knospen leicht mit meinen Lippen.

Ich solle meinen Po hochheben, denn sie will mir die Hosen runter ziehen.

„Isch g’fall dir so!?“ Denn da ragt jemand kerzengerade in die Höhe.

Nachdem sie ihn ausgiebig geküsst hat, schmiegt sie ihre Bluse um ihn herum.

Ihre blauen Augen blitzen mich an und sie beginnt eine sanfte Massage.

„Was Warmes und Feuchtes muscht ma gebe. Isch trag‘ des denn auf meine Haut!“

Wieder habe ich Tagetes-Duft in der Nase und mir ist so leicht und so wohlig warm.

„Das war nicht schlecht!“ Er reißt mich unsanft aus diesem Erlebnis.

„Ich muss kurz etwas erledigen. Schlafen Sie ruhig.“

Als befände sich meine Ruhestätte auf den labilen Planken eines Bootes, so kommentiert dieser kleine Raum seinen Abgang hinunter, wohin auch immer.

Lautlose Blitze erleuchten stroboskopartig das Fenster. Sein Finger scheint immer noch auf meiner Stirn zu sein.

Die sechs Fahrspuren der Kaiser-Wilhelm-Straße in Lankwitz bilden sonntags eine komplett übertriebene Dimension für diese Verkehrsader.

Das Essen in den Zoo-Terrassen war bieder und geschmacklich ein Kantinenfraß. Die Champignonrahmsauce über dem Rehbraten brachte es fertig, den Fleischgeschmack komplett zu ersticken. Und mir ist zum Ersticken hier im elterlichen Mercedes, in dem wir von Lankwitz Kirche aus, um nach Hause zu gelangen, über die Kaiser-Wilhelm-Straße fahren müssen.

Vater sitzt am Lenkrad, Mutter residiert daneben und ich finde hinten neben Schwesterlein statt.

Mutter duldet keine geöffneten Fenster. Es könnte ja ziehen! Sie prägte diesbezüglich eine imaginäre Fischsuppe: die der Raubfische eines Teiches, die famose Hechtsuppe.

Eine rote Ampel gebietet Halt an der Kreuzung Seydlitzstraße.

Meine Schwester will im Radio ein Lied von Esther Ofarim hören.

Meine Mutter würde gerne die Brunsteins, unsere Nachbarn, nächste Woche nach Hause zum Tanzen einladen und Vater? Der will nur nach Hause, um im Souterrain an seiner elektronischen Orgel, der Marke Wersi, basteln zu können.

Vorne rechts ist ein großes Gartenbedarfsgeschäft. Ein Paar, Hand in Hand, überquert eben von dort kommend die Kaiser-Wilhelm-Straße.

Wir fahren weiter und nähern uns den beiden, die inzwischen in der Mitte des Fahrdammes auf den Gegenverkehr warten müssen.

Wind und vorbeifahrende Autos lassen das türkisgelbe Sommerkleid der jungen, blonden Frau auffällig im Gleichklang mit ihren schulterlangen Haaren wehen. Grazil, fast wie eine Elfe steht sie neben ihrem dunkelhaarigen Freund. Die Szene erscheint mir wie die Hochglanzwerbung eines Kosmetikprodukts, gedreht an einem Promi-Ort und das auch noch in Zeitlupe. Inmitten des Verkehrs schlingt sie ihre Arme um ihn und küsst ihn. Was würde ich gerne mit ihm tauschen und ihn hier hinten in diesen Wagen verbannen.

Seit Ostern diesen Jahres gehe ich in die zehnte Klasse des

Tannenberg-Gymnasiums. Doch ich brauchte bis jetzt, bis praktisch zum Ende dieses Sommers, bis ich hier kurz hinter der Kreuzung Kaiser-Wilhelm-Straße Ecke Seydlitzstraße bemerken kann, wie schön Evelyn, meine Klassenkameradin, ist!

„Was hast du denn die ganze Nacht so getrieben, dass ich dir am liebsten zwei Streichhölzer für die Augen spendieren würde?“

Ich sitze in der Reihe am Fenster, hinter Angela und Evelyn.

„Was für Streichhölzer?“

Es ist nicht zu leugnen, ich bin saumüde.

„Hast wohl die ganze Nacht nur an Angela gedacht, oder?“

Evelyn blitzt mich von schräg vorne unverschämt keck an. Doch nach dieser Bemerkung fängt sie sich einen sanften Hieb in ihre Taille ein. Angela mag keine öffentlichen Bekundungen, die an die Ereignisse der Klassenfahrt nach Kusel erinnern. Seit Langem geht sie mit Knut und auch die Zukunft plant sie mit ihm. Seitenlang haben wir nach besagter Klassenfahrt Briefchen ausgetauscht. Sie, indem sie mir detailliert alle alltäglichen Kümmernisse über ihre Beziehung mit Knut kundtat, und ich, immer noch nostalgisch schwärmend, denn die Zweisamkeit mit ihr auf der Klassenfahrt ging mir sehr nahe.

Wir wohnten in der Jugendherberge Thallichtenberg. Eine Burgruine, die auf einem Hügel in der Nähe von Kusel gelegen ist. Von dort aus unternahmen wir lange, bis sehr lange Busfahrten zum Beispiel nach Kaiserslautern, Straßburg, Idar-Oberstein und sogar bis nach Brüssel. Herr Schwarz, unser fast täglicher Busfahrer, ließ Radio Luxemburg an unsere Ohren und der Dauerbrenner dieser Tage, eine Vorveröffentlichung aus dem neuen Beatles-Album Abbey Road, mit dem schönen Titel Come Together, hatte uns auch tatsächlich sehr nahe zueinander kommen lassen. Speziell auf den Rückfahrten im dunklen Bus ließ es sich hervorragend knutschen. Angela besaß eine süße kusserprobte Schnute und gerade nach diversen Weinproben, die die Gegend entlang der Mosel für uns bereithielt, fiel sie mit ihren samtenen Lippen derart über mich her, dass wir beide dann spät abends auf der Burg ankommend, gewisse Überanstrengungen in unserer Gesichtsmuskulatur zu beklagen hatten, was wir natürlich niemals öffentlich taten.

Auf der Heimfahrt nach Berlin nahm mir Angela pünktlich an der Grenze zu West-Berlin unsere traute Zweisamkeit. Am Wochenende zuvor hatte die SPD die 69er Bundestagswahl gewonnen und die NPD war im Gebiet von Kaiserslautern über die Fünfprozenthürde gekommen.

Unsere Verliebtheit hatte mit dem Ende der Klassenreise zu enden, denn sie wollte bekanntlich ihre Beziehung zu Knut nicht gefährden. Schließlich hatte sie mir das auch während der Fahrt immer wieder eingebläut, dass das hier eine große Ausnahme und sie noch nie untreu gewesen sei.

Natürlich hatte Evelyn davon Wind bekommen, denn unsere Zettelkorrespondenz ließ sich schwerlich vor ihr verheimlichen.

Statt dem Unterricht zu folgen, bin ich gerade in das Ende eines Briefs von Angela vertieft.

Hubert, ich habe schon wieder eine Bitte an Dich: Könntest Du mir die Platte „Nights in White Satin“ noch einmal borgen. Sie gefällt mir so gut! Kannst Du mir diese Bitte erfüllen? Tja, lieber Hubert, die Bauchschreiberin, die übrigens heute nicht auf dem Bauch schreibt, verabschiedet sich jetzt. In der Hoffnung, dass mon Copain nicht sooft traurig ist, grüße ich Dich freundschaftlich, Deine Angela.

Ich schaue auf und überlege nicht lange. Streichhölzer möchte ich eigentlich nicht von Evelyn.

„Und wenn ich nun von dir geträumt hätte?“, entfährt es mir, in Anspielung auf ihre Behauptung, dass ich mir die vergangene Nacht mit Träumereien über ihre Platznachbarin um die Ohren geschlagen hätte.

Wie in Zeitlupe dreht sie sich um. Evelyns Augenpaar scheint für eine Ewigkeit auf mir zu haften.

„Fräulein Barz! Warum hat Strapinski die Grafenrolle weiter gespielt?“ Fräulein Hirche schaut sehr tadelnd in unsere Richtung.

Gottfried Keller und seine Leute, die Kleider machen, sind nicht unbedingt unser literarischer Kick, aber geistesgegenwärtig antwortet Evelyn:

„Wenzel träumt jede Nacht von ihr!“

„Was meinen Sie damit, Fräulein Barz?“

Evelyn merkt, dass sie da etwas durcheinander gebracht hat.

„‘Tschuldigung! Wenzel liebt Nettchen und wollte darum der Graf bleiben, um Eindruck zu schinden.“

Fräulein Hirche, längst äußerlich im Pensionsalter, scheint beruhigt. Nicht nur auf der Klassenfahrt war sie oft Ziel pubertären Schabernacks. So ließ ich mich mit Draculagebiss in Drohgebärde hinter ihr fotografieren.

„Hast du?!“, zischt sie mich an.

„Ach Evchen, was soll ich denn haben?“

Ich weiß, dass sie es hasst, Evchen genannt zu werden.

Die Pausenklingel reißt uns aus unserer kleinen Fragestunde und rettet mich vor einer handgreiflichen Revanche.

Auf dem Schulhof ist die Raucherecke hinten links. Die letzte Packung Gitanes ist nun angebrochen. In Straßburg hatte ich eine ganze Stange von dem schwarzen Kraut erworben. Weder Angela noch Evelyn sind zu sehen. Die Gitanes schmeckt nicht so recht.

Die beiden letzten Stunden heute finden im Biologieraum statt. Da ist eine andere Sitzordnung. Vor Pausenende stürme ich in den Klassenraum. Da kann ich noch schnell ungestört schreiben:

Du hast mich gefragt, ob ich von Dir geträumt hätte. Bist Du sicher, dass Dich das interessiert? Es ist nicht einfach, jeden Tag hinter Dir zu sitzen! Dein Lächeln so aus nächster Nähe verwirrt mich komplett. Tut mir leid, wenn ich Dich vorhin Evchen genannt habe! Mal sehen, wer mich nächste Nacht im Traum wieder verzaubert …

Ich reiße die Seite aus dem französischen Vokabelheft und falte sie zweimal.

Ende der letzten Stunde warte ich an der Tür vom Bioraum.

Evelyn kommt fast als Letzte. Vor ihr Angela mit fragendem Blick. In Taillenhöhe halte ich Evelyn den weißen Zettel entgegen. Sie zögert kurz. Dann nimmt sie ihn.

„Bis morgen“, flüstere ich ihr hinterher. Warum flüstere ich eigentlich?

Ende November hat Jörg Pfeiffer Geburtstag. Bisher hätte mich das eher kalt gelassen, denn er zählt nicht gerade zu meinen Favoriten. Doch hat er für seine Geburtstagsfete fast die ganze Klasse eingeladen. Schließlich waren alle durch die Klassenfahrt sehr viel enger aneinander gerückt. Evelyn war zwar aus unerfindlichen Gründen nicht mitgefahren, doch auf der Fete am Samstagabend sollte sie nicht fehlen. Das Briefchen schreiben mit Angela ist inzwischen fast gänzlich auf Evelyn übergegangen. Angela nimmt mir das übel. Sie spricht fast gar nicht mehr mit mir und ihr Lächeln wirkt arg gekünstelt. Dafür sind Evelyns Zeilen schon ziemlich teasing und voller kleiner Zweideutigkeiten. Einen Tag vor der bewussten Geburtstagsfeier hat sie mir eine beschriebene Seite aus ihrem Matheheft mit auf den Nachhauseweg gegeben.

Ich habe ja keine Ahnung, was so in dir vorgeht. Aber ich finde schon, dass du es schwer haben wirst, dem Musikunterricht zu folgen, wenn du nur auf meinen nicht vorhandenen Busen guckst! Hast du gemerkt, wie unsere Musiklehrerin dich dauernd angegiftet hat? Wenn Blicke töten könnten! Du hast mich gefragt, ob ich auf Jörgs Fête komme. Warum willst Du das wissen? Angela kommt doch auf jeden Fall - mit ihrem Knut. Das ist jetzt gemein, oder? Leidest du eigentlich noch? Ich weiß aber nicht genau, ob ich kommen werde. Sei bitte nicht traurig. Oder würdest du das überhaupt sein? Ich hab‘ mir übrigens `ne neue Platte gekauft. Kommt aus Frankreich und heißt ‚Je t’aime…moi non plus‘.

Der Samstagnachmittag will und will nicht vergehen. Anstatt Vater bei seiner Mercedes-Kosmetik unter die Arme zu greifen, gleicht mein Zimmer eher einem Raubtierkäfig, mit mir als Vorstadttiger. Space Oddity von David Bowie wechselt sich endlos mit White Room von Cream ab. Doch ist weder das eine noch das andere als beruhigende Circus-Dompteuruntermalung geeignet. Im Gegenteil. Als Folge schreit das unfreiwillige Publikum in Person meiner Mutter in immer kürzeren Abständen zu mir hoch, dass diese Dschungelmusik extrem zu laut sei.

Zwar ist das Einfamilienhaus in der Lichterfelder Kiesstraße gewissermaßen mit vier Etagen gesegnet, also auch dank massiver Steinmauern nicht sehr lärmempfindlich, aber trotz alledem erklingen scheinbar Can you hear me Major Tom? und I wait in this place, where the sun never shines, von mir, von unterm Dach juchhe, bis in die untersten Schubladen des Hauses doch zu tonintensiv. Also kapituliere ich vor der Lautstärke-Empfindlichkeit meiner Mitbewohner und verabschiede mich in die Winterluft, nicht zuletzt, um meiner Aufregung, ob Evelyn heute Abend kommen wird oder nicht, mit einem Marsch in Begleitung unseres Irish Setters etwas Beruhigendes mit kalter Hundeschnauze entgegenzusetzen.

„Tut mir leid, wenn ich Sie jetzt da rausholen muss!“

Er ist wieder da. Ich hab‘ ihn überhaupt nicht kommen hören. Er setzt sich auf das Bett, drückt auf das Diktiergerät und flüstert in einer Weise, wie ich sie von Elisabeth Flickenschildt aus alten schwarzweißen Kriminalfilmen kenne. Und seltsam, wenn ich die Augen schließe, könnte ich schwören, dass sie tatsächlich vor mir säße.

„Machen wir uns also nichts vor! Wir wissen nicht, wie lange wir das hier überleben werden. Nach einigen Informationen, die mir aus verlässlichen Quellen zu sein scheinen, gibt es genügend Hinweise, dass …“

Er unterbricht abrupt seinen Satz, springt auf und sieht aus dem Fenster.

„Fahren Sie fort! Wir sind schon mittendrin in der salzigen Suppe! Imaginieren Sie, erinnern Sie, erleben Sie wieder, wiederbeleben Sie!“

Vom Fenster her tönt seine Stimme eher wie die von Klaus Kinski selig oder auch unselig. Jedenfalls kurz vor einer Emotionsattacke. Er kommt zurück und seine Augen glühen mich an.

Ich schließe meine automatisch und bin an der Eingangstür von Jörgs Elternhaus, einem Reihenhaus gegenüber der

Coca-Cola-Filiale in Lichterfelde.

„Guten Abend! Komm rein. Die anderen sind schon fast alle da. Da rechts ist die Treppe. Brauchst nur da runtergehen und immer der Musik nach.“ Wie oft Jörgs Mutter das heute wohl schon gesagt haben mag?

Und in der Tat ist es einfach, ich folge den Klängen von No Milk Today. Der Flur im Keller ist nicht beleuchtet, doch buntes Licht kommt aus einem Raum gleich auf der linken Seite. Ich bleibe am Türrahmen stehen und wage einen Blick hinein. Ob sie schon da ist? Ich sehe Christina, die mit ihrem Norbert tanzt. Auch Klaus in weißem Oberhemd ist mit Annemarie trotz des Qualms gut zu erkennen. Jetzt merke ich, dass ein bisschen weiter rechts noch ein Raum eine blasse Beleuchtung auf den Flur schickt. Dort sitzt mein Freund Michael und versucht, im Stil eines erfahrenen Rauchers eine Zigarette zu inhalieren.

„Hey, Sloggi! Keine Lust, das Tanzbein zu schwingen?“ Micha hat sich diesen Spitznamen, dank seiner Angewohnheit Hosenträger zu tragen, redlich verdient.

Jetzt kommt Jörg in diesen Raum, der sowohl Küche als auch Bar sein könnte, und ich werde mein Geschenk los.

„Herzlichen Glückwunsch und bleib‘ sauber!“ Ich reiche ihm Oh Well von Fleetwood Mac. Petra, seit der Klassenfahrt seine feste Freundin, denkt stets ans Praktische:

„Deinen Mantel kannste da hinten in die Ecke tun.“

„Danke, danke, sind denn schon alle da?“

Jetzt hat Michael für einen Moment den Kampf mit dem Glimmstängel aufgegeben und meint sagen zu müssen:

„Falls du deine Angebetete meinst, die ist noch nicht da!“

„Lustig, sehr lustig, Sloggi! Ich meine, es dauert möglicherweise einhundert Jahre, nicht wahr, bis du begreifst, dass in den tiefsten Schächten unserer tiefsten Bergwerke Kurt seine Pantoffeln sucht!“

Seit geraumer Zeit sprechen einige aus unserer Klasse, ich natürlich auch, im sogenannten Doktor-Seltsam-Deutsch, das heißt, dass wir aus dem Film Doktor Seltsam oder wie ich lernte die Bombe zu lieben frei zitieren und zwar sinnlos oder sinnfrei integriert in irgendwelche Sätze, die wir uns um die Ohren hauen. Ein fester Bestandteil eines Wortspiels mit Michael ist die Tatsache, dass ich ihn mit seinem Vater Kurt auf den Arm zu nehmen pflege. Das rührt von einem Erlebnis her, welches ich in seiner elterlichen Wohnung hatte. Kurt war auf der Pirsch nach seinen Pantoffeln und seine angeheiratete Ehefrau Liselotte, kurz Lilo genannt, half ihm indirekt, indem sie aus der Küche in schriller Weise flötete: Ja, wo hat denn der Papi seine Pantoffeln?

Ein anderes Kümmernis für meinen lieben Freund Michael

stellt die eigenwillige Anatomie des Kopfes von Kurt dar. Sein relativ massiger Schädel, bar jeden Haares, weist im hinteren Drittel, so ziemlich mittig, einen taubeneigroßen Grützbeutel auf, weswegen ich eigentlich betont mitleidig, doch eher in Babysprache ab und an, wenn die Gelegenheit günstig scheint, erkundigend nachfrage, wie denn das werte Befinden von Kurts Horn sei. Darauf reagiert Michael meistens mimosenhaft und sogar in „beleidigter leberwurstweise“ eingeschnappt. Warum? Nun, seine Eltern kratzen nicht nur beide schon am Rentenalter, was per se ja nichts Verwerfliches zu sein bräuchte, doch die beiden Leutchen weisen zudem Charakteristika auf, die Michael im Ansehen bei seiner Mitschülerschaft auf einer Beliebtheitsskala eher am unteren Rand rangieren lassen. Sie sind ein Elternpaar, was man sich spießbürgerlicher kaum vorstellen könnte und zu allem Überfluss sind sie auch noch gläubige Mitglieder der neuapostolischen Kirche. Ein Club, der in unserer Gunst nicht gerade als coole Vereinigung verschrien ist. Klassenweit ist bekannt, dass einmal pro Woche, mittwochs, zwei sogenannte fromme Brüder Michaels Heim heimsuchen, um gemeinsam aus der Bibel zu lesen und zu beten, mit anderen Worten, zusammen den Herren zu preisen!

Bevor die Kippe gänzlich ungepafft am Aschenbecherrand verglimmt, steckt sie sich Michael zwischen die Lippen, die er dann so zusammenpresst, als hätte er gerade eine für ein Pferd bestimmte Injektion in seinen Allerwertesten gerammt bekommen. Die Glut an der Spitze entflammt sich, doch was sich hinten am Filter der Peter Stuyvesant entwickelt, entlädt sich in einem gewaltigen Hustenanfall, denn Sloggi versucht just im Moment des Rauch-Inhalierens auf meine Reflektion bezüglich Papi Kurts Pantoffeln zu antworten. Sein Gesicht verschwindet für einen Moment in einer Rauchwolke, die an Nebelschwaden eines verruchten Edgar-Wallace-Streifens mit Blacky Fuchsberger denken lässt. Nun ja, ein nicht unerheblicher Anteil an Stuyvesant-Asche findet ein Zwischenlager auf Michas weinroter Wollhose, die ihm Mami Lilo im letzten Ausverkauf bei C&A als Dernier Crie erworben hat.

„Gib mal Feuer Micha!“ Ich habe mir eine filterlose Gitanes aus meinem silbernen Zigarettenetui gezogen.

Die brennende Kippe zwischen Ring-, Mittel- und Zeigefinger auf der einen Seite und andererseits gegen den Daumen gepresst, die Glut in der Innenhand spürend und somit das Vorbild eines rauchenden Humphrey Bogart mittelprächtig imitierend, so schleiche ich wie auf rohen Eiern Richtung Partyraum. Jörg hat meine Scheibe auf den Plattenteller gelegt. Oh Well entwickelt seinen rüden Charme und die farbige Lichtorgel entflammt vornehmlich im roten Spektrum. Für so ein Spektakel in meinem Zimmer würde ich morden, denke ich in mich hinein. Der Song ist nicht unbedingt geeignet, ein Tanzhit zu sein, denn bei weitem nicht alle Mitschüler sind auf der Tanzfläche zu finden. Die meisten sitzen plaudernd, knutschend oder sich langweilend auf den Stühlen, die rundherum an den Wänden des Raumes aneinandergereiht sind.

Als ich die Ecke hinten links einmal quer durch den ganzen Raum ansteuere, wird es mir schwarz vor den Augen. Ich spüre urplötzlich eine kühle, weiche Handinnenfläche auf meinem Gesicht.

„Wer bin ich?“, flüstert es von hinten. Ich drehe mich um und lerne die Bedeutung des Ausspruchs Mein Herz möchte vor Freude einen Satz machen am eigenen Leib kennen.

Sie steht vor mir! Die blonden Haare fallen anmutig links und rechts an ihrem zarten, fein gezeichneten Gesicht entlang. Der Pony ist nach hinten gekämmt und wird von einer silbernen Spange gehalten. Der graue Rolli muss aus Mohair sein. Er endet auf der Taille über einem dunkelblauen Faltenrock. Ihre Schuhe oder Stiefel hat sie sicher drüben in der Küche gelassen, denn die bemalten Fußnägel blitzen durch die dunklen, transparenten Strümpfe.

„Woll’n wir ein Schlückchen nehmen?“ Der Blick, den sie mir bei dieser Frage schenkt, raubt mir den Atem, nachdem mein Herz wieder normal zu schlagen scheint.

„Ich hol‘ uns was, okay?“

Rechts neben dem Eingang ist die Bar mit allem, was es für einen kleineren oder größeren Schwips bedarf. Auch ein rundes, üppiges Bowlengefäß lädt mit Pfirsichstückchen in prickelndem Wein zum Süffeln ein.

Wir setzen uns auf zwei Stühle an der Längsseite.

„Eigentlich mag ich keine Bowle, aber die hier ist sehr lecker!“ Sie schenkt mir ein spitzbübisches Lächeln und nimmt sofort noch einen größeren Schluck.

„Was hast du ihm denn mitgebracht?“

„Was Schönes zum Tanzen!“

Offensichtlich hat Jörg auch die neue LP von den Beatles bekommen, denn der erste Titel von Seite eins beschallt den Raum. Come together, right now, over me ... Welche Chance wir doch haben, diese Zeit aktiv mitzuerleben, da solche musikalischen Meilensteine das Licht der Notenwelt erblicken.

Ich schaue zu Evelyn und sie schaut zu mir, das ist wie Magie!

„Komm!“, höre ich mich sagen und eile zur Tanzfläche.

Sie nimmt noch mal, für mich viel zu lange, eine gutes Schlückchen der süffigen Bowle. Ich weiß ja, nach Come Together kommt Something, ein langsamer Titel mit George Harrisons samtener Stimme.

Ob sie wohl bleibt, wenn der Rhythmus romantischer wird?

Something in the way she moves attracts me like no other lover!

Sofort spüre ich ihre Arme um meinen Hals, ihre Wange an meiner. Wo sind wir? Ist sonst noch jemand hier? Wie durch einen Schleier sehe ich, wie mich Christina verstohlen beobachtet. Diese Christina, die ich kenne, solange ich lebe, denn sie ist im gleichen Krankenhaus, in der gleichen Woche auf diese Welt geraten. Nach meinem Schulwechsel im zehnten Schuljahr von Frodslebonks Hermann-Ehlers- aufs Tannenberg-Gymnasium, wobei ich das neunte zweimal bestreiten musste, fand ich mich neben Sloggi und hinter Christina in der mittleren Reihe der

Klasse 10s2 wieder. Ich weiß nicht mehr, wie viele Jahre vergangen sind, in denen ich sie nicht mehr gesehen habe. Meine Mutter hatte immer lockeren Kontakt zu ihrer Mutter gehalten, aber das interessierte mich nur am Rande.

Doch das alles ist mir in diesem Augenblick so unendlich egal! Mir ist in diesem Moment, als würde ich gerade neu geboren werden.

Was das wohl für ein Parfum ist, das mir in alle Sinne zu steigen scheint und mir diese auch noch allesamt uneingeschränkt raubt?

„Was hast du ihm denn nun geschenkt?“, flüstere ich ihr ins Ohr.

„Je t’aime … moi non plus“, haucht sie zurück.

Irgendjemand wechselt die Schallplattenseite.

Here comes the sun, here comes the sun, and I say it’s all right … und wieder singt Mr. Harrison.

Sie presst sanft ihre Stirn an meine. Ihre Augen sind wie ein Universum und ich gehe auf die Suche nach ihren Galaxien. Warum soll ich mich eigentlich noch zurückhalten? Mein Blick kommt von der Unendlichkeit zurück in diese Welt, indem er zielgenau auf ihrem vorsichtig rot gefärbten Mund zur Ruhe kommt. Dieser signalisiert einfach nur unwiderstehliche Anziehungskraft und so lande ich behutsam mit meinen Lippen auf ihren. Ihre Reaktion ist unverzüglich. Sie drückt den unteren Bereich ihres zierlichen Körpers behutsam aber doch sehr bestimmt gegen mich.

„Wer hätte das gedacht?“ So laut, dass ich es hören muss, dringt Angelas Kommentar zu mir vor, aber eigentlich ist ihre Bemerkung für Christina gedacht. Sicher dürfte ihr klar sein, wie schnurz mir ihre Sicht der Dinge ist. Meine Realität schlägt gerade tausende nächtliche Fantasien um kosmische Längen!

Evelyn ist ja unten herum nicht gefühllos, denn sie flüstert mir ins Ohr:

„Böser Junge, was spüre ich denn da?“ Mit einem süffisanten Lächeln drückt sie geradezu sadistisch jenen Hügel, der nach einem weiblichen Planeten benannt ist, gegen meine pralle, nicht zu verbergende Lust auf sie. Das büßt du mir!, denke ich. Meine linke Hand gleitet von hinten unter ihren Rock, um sie in den kleinen Po zu zwicken.

„Evchen! Du trägst ja nur eine Strumpfhose!“

„Hubertchen, wenn du weiterhin Evchen zu mir sagst, deklariere ich meinen Po als Regiona non grata für dich!“ Ich kann nichts erwidern, denn ihre Lippen bedecken meine und ihre Zunge verlangt Einlass.

Es ist saukalt in den Straßen, die von Jörgs Elternhaus zur Kiesstraße führen. Ein fast voller Mond bescheint uns den Weg, der allerdings völlig freiwillig von unendlichen Knutschpausen gepflastert ist. Vermutlich hätte ein Blinder mit einem Dutzend Krückstöcken die Strecke locker in einem Drittel der Zeit geschafft. Evelyn ist aber auch so etwas von flauschig in ihrem weiß-grau meliertem Teddymantel, dass ein schnelleres Vorankommen eine Sünde wäre.

Kurz hinter der Mariannenstraße, dort wo die Kiesstraße einen Friedhof begleitet, bleiben wir erneut stehen. Sie drückt meine linke Hand, die trotz der Kälte ziemlich heiß scheint, und ihr Mund schenkt meinem Gesicht unzählige Küsse.

„Hast du dir das so vorgestellt mit mir? Wusstest du, dass ich mich so auf dich stürzen würde?“

„Du übertriffst all meine Träume und das waren wirklich viele!“

Ich spüre ihre Hand auf meiner Hose an einer Stelle, die sich so sehr nach ihr sehnt und sie ...

„Ich muss noch ein paar Vorkehrungen treffen!“ Seine Augen scheinen wie von innen mit einem weißen Licht beleuchtet.

Ich spüre seinen Mittelfinger an der Stelle meiner Stirn, wo die Hindus ihr drittes Auge wähnen. Ich schließe meine beiden und verliere alles Zeitliche.

Kurz vor der Kreuzung Lankwitz Kirche muss Sascha an einem Baum ein größeres Geschäft verrichten. Er sieht immer so traurig aus, wenn er das tut. Es gibt Hunderassen, die haben generell einen trübsinnigen Gesichtsausdruck. Irisch Setter gehören jedenfalls nicht dazu.

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
563 s. 6 illüstrasyon
ISBN:
9783750206052
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi: