Kitabı oku: «Philosophische und theologische Schriften», sayfa 6
VIERZEHNTES KAPITEL
Die unendliche Linie ist Dreieck
Was die Vorstellung (imaginativa), die über das Sinnliche nicht hinauskommt, nicht fassen kann, die Linie könne ein Dreieck sein, ist der Vernunft leicht verständlich.
Nach einem geometrischen Lehrsatze können von einem Dreieck, dessen eine Seite eine unendliche ist, die beiden andern zusammen nicht kleiner sein. Weil nun jeder Teil des Unendlichen unendlich ist, so müssen auch diese beiden andern Seiten unendlich sein. Da es nun aber nicht mehrere Unendliche geben kann, so kann das unendliche Dreieck nicht aus mehreren Linien zusammengesetzt sein. Es ist daher eine unendliche Linie, aber als wahres Dreieck hat es doch drei Linien: Eine Linie sind drei und drei eine. Ebenso verhält es sich mit den Winkeln: Es ist nur ein unendlicher Winkel und dieser ist drei Winkel und drei Winkel sind einer. Das größte Dreieck ist nicht aus Seiten und Winkeln zusammengesetzt, sondern die unendliche Linie und Winkel ist ein und dasselbe. Denkt man sich den einen der drei Winkel bis zu 2 R erweitert, so jedoch, daß das Dreieck bleibt, so fällt das Dreieck zu einer Linie zusammen, und es ist nur ein Winkel, der zugleich die drei Winkel darstellt. Im Konkreten ist dies freilich unmöglich, aber übertragen auf das höhere Gebiet, wo das Quantum aufhört, sehen wir die Notwendigkeit hiervon ein.
FÜNFZEHNTES KAPITEL
Das unendliche Dreieck ist Kreis (und Kugel)
Denkt man sich das Dreieck a b c, entstanden durch Herumführen der Linie a b von dem festen Punkte a bis zu c, so müßte, wenn a b eine unendliche Linie ist und b ganz bis zu seinem Anfange herumbewegt wird, ein größerer Kreis entstehen, von welchem b c ein Teil ist. Weil Teil eines unendlichen Bogens, so wäre b c eine gerade Linie, und da jeder Teil des Unendlichen unendlich ist, so wäre b c nicht mehr bloß ein Teil, sondern der ganze Umkreis. Da ferner b c eine gerade Linie ist, so ist die unendliche Linie a b nicht größer, da es im Unendlichen kein Mehr oder Weniger gibt, und aus demselben Grunde sind es keine zwei Linien. Es ist folglich die unendliche Linie, die Dreieck ist, auch Kreis.
Endlich: Die Linie a b ist die Peripherie des größten Kreises, ja selbst, wie bewiesen ist, ein Kreis. Sie ist aus b nach c geführt, b c aber, wie ebenfalls bewiesen ist, eine unendliche Linie. Daher kehrt a b in c zurück, nachdem es sich um sich selbst bewegt hat, aus welcher Bewegung die Kugel entsteht. Es ist somit die unendliche Linie auch Kugel.
SECHZEHNTES KAPITEL
Das Größte verhält sich zu allem wie die größte Linie zu den Linien
Nachdem wir nun gezeigt haben, daß die unendliche Linie alles in unendlicher Wirklichkeit ist, was die endliche der Potenz nach ist, sagen wir mit Übertragung auf das absolut Größte, daß es in Wirklichkeit (actu) im höchsten Grade alles ist, was in der Potenz des absoluten einfachsten Wesens liegt. Was möglich ist, ist das Größte in Wirklichkeit auf die größte Weise, nicht sofern es aus dem Möglichen ist, sondern sofern es dies im höchsten Grade ist (non ut ex possibili est, sed ut maxime est), wie aus der Linie das Dreieck entsteht (educitur). Die unendliche Linie ist aber nicht ein Dreieck, wie es aus einer endlichen Linie entsteht, sondern in Wirklichkeit das unendliche Dreieck, das mit der (unendlichen) Linie eins ist. Sodann ist die absolute Möglichkeit im Größten nicht etwas anderes (non aliud) als das Größte in Wirklichkeit selbst, wie die unendliche Linie die Kugel in Wirklichkeit ist. Aus dem Obigen folgt auch die wichtige philosophische Wahrheit, daß im Größten das Kleinste das Größte ist und daß es über allen Gegensätzen steht. Ja, die ganze Gotteslehre, so weit sie von uns erkennbar ist, folgt aus unserm Prinzipe, weshalb der große Erforscher der göttlichen Dinge, Dionysius der Areopagite in seiner mystischen Theologie sagt, der selige Bartholomäus habe die Theologie meisterhaft verstanden, indem er sagte, dieselbe sei die größte und kleinste zugleich; denn wer dies versteht, versteht alles, er geht über den natürlichen Verstand hinaus. Denn Gott, das absolut Größte, ist nicht Dieses und ein Anderes nicht, er ist nicht da und dort nicht, sondern gleichwie alles, so auch nichts von allem. Eben deshalb ist er unbegreiflich, nur er begreift sich selbst. Dionysius suchte von keinem andern Prinzipe aus, als dem unsrigen, zu zeigen, daß Gott nur durch die Wissenschaft des Nichtwissens gefunden werde. In Anwendung dieses Prinzips müssen wir sagen: Gott ist die einfachste Wesenheit (essentia) von allen Wesenheiten; alle sind, was sie sind, waren oder sein werden, aktuell und ewig nur in ihm. Die Wesenheit von allem ist in der Art eine jede, daß sie zugleich alle ist (ita est quaelibet, quod simul omnes), und keine besonders. Die größte Wesenheit ist wie die unendliche Linie das adäquateste Maß von allen.
SIEBZEHNTES KAPITEL
Folgerungen voll tiefer Weisheit
Die endliche Linie ist teilbar, die unendliche nicht, allein die endliche ist nicht teilbar in eine Nichtlinie, daher ist die endliche Linie im Wesen der Linie (in ratione lineae) unteilbar, denn die Linie eines Schuhs ist ebensogut Linie, als die eines Kubikfußes. Hieraus folgt, daß die unendliche Linie der rationelle Grund (ratio) der endlichen ist. So ist denn auch das Größte der rationelle Grund (ratio) von allem und als solcher das Maß von allem. Mit Recht sagt daher Aristoteles in der Metaphysik, das Erste sei das Maß von allem, weil der Grund von allem. Ferner: Wie die unendliche Linie unteilbar, deshalb auch ewig und unveränderlich ist, so auch Gott als der Grund von allem. Hier zeigt sich wieder der Geist des großen Dionysius, wenn er sagt, das Wesen der Dinge sei unzerstörlich. Der göttliche Plato sagte mit den Worten des Calcidius im Phädon, Eines sei das Urbild oder die Idee von allem, sofern es in sich ist, in Hinsicht aber auf die Vielheit der Dinge scheint es mehrere Urbilder zu geben. Allein wenn ich eine Linie von 2 und eine andere von 3 Fuß habe, so ist das Wesen der Linie in beiden gleich, die Verschiedenheit bezieht sich auf die Länge. In der unendlichen Linie fällt diese Verschiedenheit weg, und nur der rationelle Grund der Linie bleibt in ihr für beide. Beide haben somit einen rationellen Grund; nicht in diesem liegt der Grund ihrer Verschiedenheit, sondern darin, daß nicht beide auf vollkommen gleiche Weise an jenem einen Grunde partizipieren können. Eben hieraus erhellt auch, warum dieser rationelle Grund aller Linien insofern ganz in jeder ist, als er in keiner besonders ist, weil er im letzten Falle nicht mehr das absolute Maß aller sein könnte. Es ist daher die unendliche Linie in jeder Linie ganz, so daß jede in ihr ist, und diese beiden Sätze sind in ihrer Verbindung (conjunctim) aufzufassen. Sagen wir daher: Das Größte ist in jedem und in keinem Dinge, so heißt dies nichts anderes, als: Da das Größte in demselben Verhältnisse (ratione) in jedem Dinge ist, in welchem jedes Ding in ihm ist und es dieses Verhältnis selbst ist (et sit ipsamet ratio) so ist das Größte in sich selbst. Kein Ding ist also in sich selbst, sondern nur das Größte, jedes Ding ist nur in seinem rationellen Grunde in sich selbst, weil dieser Grund das Größte ist.
Auf diesem Wege kann die Vernunft durch Vergleichung des Größten mit der unendlichen Linie sich helfen und im Heiligtum des Nichtwissens (in sacra ignorantia) große Fortschritte machen; denn das sehen wir nun klar, daß wir Gott nur durch Entfernung der Partizipation aller Dinge finden. Alles partizipiert an dem Sein. Nehmen wir dieses Partizipieren hinweg, so bleibt das einfachste Sein selbst, die Wesenheit der Dinge übrig. Der große Dionysius sagt, die Erkenntnis Gottes führe mehr zum Nichts als zu Etwas hin. Das heilige Nichtwissen belehrt uns aber, daß, was der Vernunft Nichts zu sein scheint, eben das unbegreiflich Größte ist.
ACHTZEHNTES KAPITEL
Das Bisherige führt uns auch zum Verständnisse
des Partizipierens an dem Sein
Lebhaft durch das Bisherige angeregt, forscht unser unersättlicher Erkenntnistrieb mit größter Lust weiter, wie er sich das Partizipieren an dem einen Größten noch deutlicher denken möge, und indem er wieder die Vergleichung mit der unendlichen, der geradesten Linie zu Hilfe zieht, sagt er:
Die krumme Linie, die ein Mehr oder Weniger zuläßt, kann nicht die absolut größte sein, sie ist als krumme Linie an sich nichts, weil das Krumme der Abfall vom Geraden ist. Das Sein der krummen Linie rührt also von der Teilnahme an der geraden Linie her, denn die absolut größte oder kleinste Krümmung ist eben das Gerade. In ähnlicher Weise partizipieren nun die Dinge an dem Sein, wie das Krumme am Geraden. Wie aber die gerade endliche Linie einfacher und unmittelbarer, die krummen aber vermittelst der geraden an der unendlichen Linie partizipieren, so ist es auch bei den wirklichen Dingen, woraus sich der Unterschied von Substanz und Akzidens und der größere oder geringere Wert der Substanzen und Akzidenzen ergibt. Das adäquateste Maß für beide ist das Größte, das eben deshalb selbst weder Substanz noch Akzidens ist, indes doch eher den Namen von dem unmittelbar am Sein Partizipierenden, der Substanz, entlehnt und daher mit dem großen Dionysius das mehr als Substantiale33 d. i. das Supersubstantiale genannt wird.
NEUNZEHNTES KAPITEL
Übertragung des Dreiecks auf die Trinität des Größten
Lassen wir uns nun über den Satz: »Die größte Linie ist das größte Dreieck« durch unser System des Nichtwissens belehren!
Die größte Linie ist ein Dreieck, und weil die größte Linie die einfachste ist, so ist sie das einfachste Dreifache (trinum) und jeder Winkel des Dreiecks eine Linie, da das ganze Dreieck Linie ist. Die unendliche Linie ist also dreifach, und da es nicht mehrere unendliche geben kann, ist diese Dreiheit Einheit. Ferner: Da der der größeren Seite entgegenstehende Winkel größer und hier von einem Dreieck die Rede ist, das unendliche Seiten hat, so sind die Winkel die größten und unendlich. Einer ist daher nicht kleiner als die anderen, noch zwei zusammen größer als der dritte. Einer ist daher im andern, und alle drei sind das eine Größte. Sodann: Wie die größte Linie nicht mehr Linie ist als Dreieck, Kreis oder Kugel, sondern in Wahrheit alles dieses ist ohne Zusammensetzung, so ist auch das Größte wie die größte Linie, und dies können wir die Wesenheit nennen, wie das größte Dreieck, – das ist die Dreieinigkeit, wie der größte Kreis – die Einheit, wie die größte Kugel – die höchste Wirksamkeit. Die Wesenheit ist nichts anderes als die Dreieinigkeit, diese nichts anderes als die Einheit etc. Wir haben hier nicht einen Winkel, dann noch einen und endlich einen dritten, wie bei endlichen Dreiecken, die etwas Zusammengesetztes sind, sondern das eine ist ohne Vervielfältigung dreifach (unum triniter est). Mit Recht sagt daher der gelehrte Augustin : So wie du anfängst die Dreieinigkeit zu zählen, so verlierst du die Wahrheit. In den göttlichen Dingen muß man in einem einfachen Begriffe, soweit es nur immer möglich ist, die Gegensätze in Eins zusammenfassen, indem man ihrem Auseinanderfallen in Gegensätze zuvorkommt. (Oportet enim in divinis simplici conceptu, quantum hoc possibile est, compecti contradictoria, ipsa antecedenter praeveniendo.) So darf man in den göttlichen Dingen nicht Unterscheiden und Nichtunterscheiden als zwei Gegensätze (contradicentia) auffassen, sondern muß sie a priori (antecedenter) in ihrem einfachsten Prinzip fassen, wo Unterscheiden und Nichtunterscheiden noch nicht etwas Verschiedenes sind; dann versteht man, daß Dreiheit und Einheit dasselbe sind. Denn wo Unterscheiden zugleich Nichtunterscheiden ist, da ist die Dreiheit Einheit, und umgekehrt: Wo Nichtunterscheiden zugleich Unterscheiden ist, da ist die Einheit Dreiheit. So verhält es sich auch mit der Mehrheit der Personen und der Einheit des Wesens; denn wo Mehrheit Einheit ist, ist die Dreiheit der Personen dasselbe wie die Einheit des Wesens, und umgekehrt: Wo die Einheit Mehrheit ist, ist die Einheit des Wesens Dreiheit in den Personen. Klar sieht man dies an unserem Beispiele, wo die einfachste Linie Dreieck ist und das einfachste Dreieck eine Linie. Man sieht hier auch, daß man die Winkel dieses Dreiecks nicht zählen kann, denn jeder ist in jedem, wie der Sohn sagt: »ich im Vater und der Vater in mir.« …
ZWANZIGSTES KAPITEL
Fortsetzung; Vierheit etc. ist im Göttlichen nicht möglich
Das Dreieck ist die einfachste Figur, auf welche jedes Polygon reduziert werden kann. Das absolut größte, oder was dasselbe ist, das absolut kleinste Dreieck faßt alle möglichen Polygone in sich; die vier- und mehrseitige Figur ist also nicht die kleinste, weil die dreiseitige kleiner als sie ist, sie ist folglich auch nicht ohne Zusammensetzung. Es kann mithin dem Größten als dem Einfachsten, das nur mit dem Kleinsten koinzidiert, die vier- und mehrseitige Figur, die stets zusammengesetzt ist, nicht korrespondieren, sie könnte auch unmöglich das adäquateste Maß der Dreiecke sein. So wie daher nur das Dreieck die nächsthöhere Potenz der Linie ist für alle rechtwinkligen, der Kreis für alle kreisförmigen Flächen, die Kugel für alle Breiten und Tiefen, diese aber, unendlich gedacht, Eines sind, und weitere Potenzen der Linie unmöglich, so ist auch in dem Größten keine Vierheit oder Vielheit möglich, sondern die Dreiheit, welche Einheit, ist das einzige adäquateste Maß aller Dinge. Dahin gehören alle Tätigkeiten, die sich in Potenz, Gegenstand und Wirksamkeit verlaufen, alle Operationen des Erkennens, alle Tätigkeit der Natur, die aus einem Wirkenden, Leidenden und dem Resultate aus beiden besteht.
EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Übertragung des unendlichen Kreises auf die Einheit
Der Kreis ist die vollkommene Figur der Einheit und Einfachheit. Das Größte, unter dem Bilde des unendlichen Kreises betrachtet, ist daher die absolute Einheit und Identität seines Wesens, ohne Verschiedenheit und Anderssein, so daß seine Güte nicht etwas anderes ist als seine Weisheit, sondern dasselbe. Alle Verschiedenheit (diversitas) ist in ihm Einheit. Da mithin seine Macht, wenn ich so sagen darf, die geeinteste (unissima) ist, so ist sie auch die stärkste und unendlichste (infinitissima). In der geeinigten Dauer des Größten ist die Vergangenheit nicht etwas anderes als die Zukunft und die Zukunft nichts anderes als die Gegenwart – Ewigkeit ohne Anfang und Ende. Da im größten Kreise auch der Durchmesser der größte ist, und es nicht mehrere Größte geben kann, so ist der größte Kreis so sehr geeint (in tantum unissimus), daß Durchmesser und Umkreis Eins sind. Ein unendlicher Durchmesser hat aber auch eine unendliche Mitte oder Zentrum. Im größten Kreise sind mithin Zentrum, Durchmesser und Peripherie Eins. Daraus folgert unser System des Nichtwissens (ignorantia nostra), daß das Größte auch auf das Vollkommenste in allem ist, einfach und unteilbar, weil das unendliche Zentrum, außer allem, alles umfassend, weil unendliche Peripherie, alles durchdringend, weil unendlicher Durchmesser; Anfang von allem, als Zentrum, Ende von allem als Peripherie, die Mitte von allem als Durchmesser; die wirkende Ursache (causa efficiens) als Zentrum, die gestaltende (formalis) als Durchmesser, die zielgebende oder Endzweck (finalis) als Peripherie; Schöpfer (dans esse) als Zentrum, Regierer (gubernans) als Durchmesser, Erhalter als Peripherie.
Nun begreifst du, daß das Größte mit keinem Wesen identisch noch von ihm verschieden ist (maximum cum nullo est idem neque diver-sum) und daß alles in ihm, aus ihm und durch es ist, weil es Umkreis, Durchmesser und Zentrum ist. Es umfaßt also alles, was ist und nicht ist, so daß nicht sein in ihm heißt am meisten sein (non esse in ipso est maximum esse). Es ist das Maß aller kreisförmigen Bewegung, wie der des Übergangs aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit und der Rückkehr dieser in jene, der Verbindung des Prinzips mit dem Individualleben und der Auflösung des letzteren in sein Prinzip, das Maß aller vollkommenen kreisförmigen Gestalten und kreisförmigen Tätigkeiten, aller Bewegung über sich (super se) und zu dem Anfange zurück. Nur das eine bemerke ich noch: Die ganze Gotteslehre ist kreisförmig und bewegt sich im Kreise (omnis theologia circularis est et in circulo posita existit), so daß die (göttlichen) Attribute sich gegenseitig bewahrheiten: Die höchste Gerechtigkeit ist die höchste Wahrheit und die höchste Wahrheit ist die höchste Gerechtigkeit. Dehnst du diesen Gedanken weiter aus, so werden dir viele theologische Materien, die dir jetzt noch verborgen sind, ganz klar werden.
ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Die göttliche Vorsehung einigt das Entgegengesetzte
Um die Probe zu machen, daß wir durch unsere Prämissen zu tiefer Erkenntnis geführt werden, wollen wir nun das Gesagte auf die göttliche Vorsehung anwenden.
Da gezeigt ist, daß Gott der Inbegriff (complicationem) von allem ist, auch von dem Entgegengesetzten (etiam contradictoriorum), so kann seiner Vorsehung nichts entgehen. Wir mögen etwas tun oder das Gegenteil hiervon, oder auch gar nichts, so war alles in dem Vorhersehen Gottes enthalten (totum in Dei providentia implicitum fuit). Nichts wird sich also ereignen, außer gemäß der göttlichen Vorsehung. Wenn man daher auch annehmen wollte34, Gott habe vieles vorhersehen können, was er nicht vorhersah und nicht vorhersehen wird, und wenn er auch vieles vorhergesehen hat, was er auch konnte nicht vorhersehen, so erleidet doch die göttliche Vorsehung keinen Zuwachs oder Verminderung, wie folgende Vergleichung zeigt. Die menschliche Natur ist Eines und einfach. Würde nun auch ein Mensch geboren, dessen Geburt man nie erwartete, so würde doch die menschliche Natur dadurch ebensowenig einen Zuwachs erhalten, als durch sein Nichtgeborenwerden einen Abgang erleiden, wie sie auch durch das Sterben der Geborenen keinen Abgang erleidet; denn die menschliche Natur faßt ebensowohl die in sich, welche existieren, als auch die, welche nicht existieren und auch nicht existieren werden, wiewohl sie hätten existieren können. Würde sich daher auch ereignen, was sich nie ereignen wird, für die göttliche Vorsehung wäre dies kein Zuwachs (nihil adderetur divinae providentiae), weil sie sowohl das umfaßt, was geschieht, als auch das, was nicht geschieht, aber geschehen kann. Denn gleichwie in der Materie vieles möglich ist, was nie geschehen wird, so ist im Gegenteile alles, was nicht geschieht, obgleich35 es geschehen kann, in der göttlichen Vorsehung nicht möglich, sondern wirklich (non possibiliter, sed actu), woraus nicht folgt, daß jenes (das Mögliche) auch wirklich eintrete. Wie die unendliche Einheit alle Zahl, so faßt die Vorsehung Gottes Unendliches in sich, sowohl was geschieht, als auch was nicht geschieht, aber geschehen kann, und das Gegenteil, wie die Gattung die entgegengesetzten Differenzen in sich faßt. Und was die göttliche Vorsehung weiß, weiß sie nicht mit einem Zeitunterschiede, denn sie weiß die Zukunft nicht als Zukunft, die Vergangenheit nicht als Vergangenheit, sondern ewig, das Veränderliche in unveränderlicher Weise. Daher ist sie unveränderlich und nichts kann ihr entgehen (inevitabilis), nichts ihr entweichen. Alles hat in Bezug auf sie Notwendigkeit (omnia ad ipsam providentiam relata necessitatem habere dicuntur), und zwar mit Recht, weil alles in Gott Gott ist, der die absolute Notwendigkeit ist. Hieraus erhellt, daß das, was sich nie ereignen wird, in der oben dargegebenen Weise in Gottes Vorsehung enthalten ist, auch wenn es nicht als künftig eintretend vorhergesehen ist. Gott muß notwendig vorausgesehen haben, was er vorausgesehen hat, weil seine Vorsehung notwendig und unveränderlich ist, wiewohl er auch das Gegenteil von dem vorhersehen konnte, was er vorhergesehen hat; denn mit dem Inbegriffe ist noch nicht der inbegriffene Gegenstand, wohl aber mit der Entwicklung der Inbegriff gesetzt (posita complicatione non ponitur res complicata, sed posita explicatione ponitur complicatio). Ich kann morgen lesen oder nicht lesen – was ich immer tue, ich entgehe der Vorsehung nicht, die das Entgegengesetzte umfaßt, weshalb, was ich immer tue, der göttlichen Vorsehung gemäß geschieht.
So sehen wir, wie wir nach den Prämissen, die uns zeigen, daß das Größte allen Gegensätzen vorausgehe, weil es alles in sich faßt, über die göttliche Vorsehung und verwandte Gegenstände uns einen richtigen Begriff bilden können.