Kitabı oku: «Interkulturelle Philosophie», sayfa 6

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Zusammenfassung

Der Begriff der Interkulturalität rückt die Bedeutung des Zwischen in den Mittelpunkt. Im Zeitalter der Globalisierung, in dem Kulturen einander fortwährend begegnen, sind sie der Begegnung und dem Austausch mit anderen Kulturen in einer Weise verpflichtet, die sie in ihrem eigenen Sein betrifft. Die Kulturen können sich nicht abschotten, sondern müssen beständig auf die Entwicklungen in anderen Kulturen antworten. Dabei übernehmen sie diese Entwicklungen nicht einfach, sondern finden eigene Gestaltungen und Lebensformen, auf die ihrerseits die anderen Kulturen reagieren müssen. So findet fortwährender Austausch und Wandel statt; die Kulturen verdanken ihre Gestalt zunehmend der Begegnung mit anderen Kulturen, sie leben aus dem Zwischen. Dass die Kulturen überhaupt auf den »Stachel des Fremden«,1 den die Entwicklungen anderer Kulturen darstellen, antworten können, liegt daran, dass sie selbst keine Entitäten, sondern – so könnte man zugespitzt sagen – kommunikative Prozesse darstellen. Kulturen sind das sich geschichtlich wandelnde Zusammenspiel aller möglichen Lebensbereiche (sozialer Ordnungen), in denen sich das Leben einer Gesellschaft abspielt. Auf interkultureller Ebene lernen die Kulturen sich selbst als geschichtlich gewordene und sich ändernde Gestalten dieses Zusammenspiels verstehen. Zugleich fließen alle möglichen Anregungen, Kritiken und Neuerungen, die sie von den anderen Kulturen erhalten, korrigierend in dieses Zusammenspiel ein, so dass die interkulturelle Begegnung heute zu einer der bestimmenden Antriebskräfte kulturellen Wandels geworden ist. Der Philosophie der Interkulturalität geht es primär darum, diesen Prozess aufzuhellen und zu befördern. Insofern in der Entwicklung der Kulturen immer auch die Entwicklung des Menschen und der Menschlichkeit auf dem Spiel steht, geht es der Philosophie der Interkulturalität an allererster Stelle um die Förderung der Menschlichkeit in jeder einzelnen Kultur. Sie ist deshalb wesentlich kritisch.

2 Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie

Die Philosophie ist durch die interkulturelle Situation, in der wir heute stehen, herausgefordert. Sie kann die Vielfalt der Stimmen, mit denen sich die verschiedenen Kulturen, Lebenswelten, Religions- und Sprachgemeinschaften überall auf der Welt zu Wort melden und eigene Einsichten, Überzeugungen und Werte, aber auch Erfahrungen, Sprachen und geschichtlich gewachsene »Weltansichten« (W.v. HumboldtHumboldt, Wilhelm v.) vertreten, nicht ignorieren, sondern muss irgendwie darauf antworten. Die Antworten der Philosophie auf die interkulturelle Herausforderung freilich fallen sehr unterschiedlich aus, was sich auch in der großen Vielfalt unterschiedlicher Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie widerspiegelt. Die Antworten fallen allerdings weniger deswegen unterschiedlich aus, weil sich die Philosophen so uneinig wären, als vielmehr deswegen, weil sie auf verschiedenen Ebenen auf die interkulturelle Situation reagieren. Die verschiedenen Ansätze und Methoden interkulturellen Philosophierens entsprechen deshalb unterschiedlichen Dimensionen interkultureller Begegnung. Sie alle haben in ihrer jeweiligen Dimension ihre Berechtigung, wie ich in diesem Kapitel zeigen möchte. Das bedeutet aber gerade nicht, dass sich die verschiedenen Ansätze und Methoden frei kombinieren ließen.1 Sie sind im Gegenteil dimensional voneinander unterschieden und darum strikt zu trennen.

Es wäre darum auch falsch, einfach vorauszusetzen, dass die verschiedenen Ansätze interkultureller Philosophie denselben Gegenstand lediglich unterschiedlich in den Blick nehmen. Je nach Dimension, in der angesetzt wird, stellen sich die Herausforderungen, die die interkulturelle Situation an die Philosophie stellt, ganz anders dar. Das liegt zum einen daran, dass dann die Philosophie selbst jeweils auf ganz unterschiedlichen Ebenen angesprochen ist; so macht es beispielsweise einen Unterschied, ob auf dem Boden der Transzendentalphilosophie über Konstitutionsbedingungen gestritten oder aber der transzendentalphilosophische Ansatz im Ganzen in Frage gestellt wird. Zum anderen erscheint die Vielfalt der kulturellen Stimmen in jeweils anderem Licht; z.B. bedeutet Verständigung auf personaler Ebene etwas ganz anderes als auf interkultureller Ebene – und das auch dann, wenn die Personen verschiedenen kulturellen Traditionen zugehören. Es muss im Folgenden also darum gehen, immer auch die jeweilige Dimension zu klären, in der sich die verschiedenen Ansätze bewegen.2

Daraus ergibt sich auch ein kritischer Methodenbegriff: Wissenschaftliches Arbeiten muss sich methodisch ausweisen. Ebenso wichtig wie die Erkenntnis, die über eine Sache erlangt wird, ist es darum, den Weg zu dieser Erkenntnis zu reflektieren und auszuweisen. Als wissenschaftlich gesichert darf eine Erkenntnis nur gelten, wenn der Weg, der zu ihr führt – das ist die Methode –, für jedermann nachvollziehbar ist, wenn also grundsätzlich jeder auf dem gleichen Weg zur selben Erkenntnis gelangen kann. In diesem Sinne will ich versuchen, im Folgenden verschiedene Methoden interkultureller Philosophie vorzustellen. Nun ist mit dem Begriff der Methode allerdings gewöhnlich auch die Annahme verbunden, der zu erforschende Gegenstand bestehe unabhängig von der jeweiligen Forschungsmethode; abhängig von der Methode offenbare er zwar unterschiedliche Aspekte seiner selbst, aber in allen diesen Aspekten, so die Annahme, handele es sich doch immer um denselben Gegenstand. Dieser werde durch die methodisch gewonnenen Erkenntnisse nach und nach geklärt, er werde erklärt. Schon DiltheyDilthey, Wilhelm hat dem Erklären freilich den Begriff des Verstehens zur Seite gestellt.3 Verstanden wird eine Sache nicht dadurch, dass sie erklärt wird; vielmehr zielt das Verstehen auf die Bedeutung, die einer Sache zukommt, und das heißt, dass das Verstehen eine Sache in ihrem Sinnzusammenhang aufspüren muss. Das einfachste Beispiel dafür liefert uns das Verstehen von Sprache. Es reicht nicht aus, den Kasus und die Flexion eines Wortes erklärt zu bekommen, wir müssen die Bedeutung verstehen, und dazu benötigen wir eine Kenntnis davon, in welchem Zusammenhang das Wort gebraucht wird. Dieser Zusammenhang wiederum muss uns etwas sagen, andernfalls bleibt auch die Klärung des Zusammenhangs auf der Stufe des Erklärens stehen. Ob er uns etwas sagt, hängt nun aber davon ab, welches Vorverständnis wir mitbringen. Die Klärung des Zusammenhangs muss gleichsam auf fruchtbaren Boden fallen, etwa weil wir ähnliche Zusammenhänge aus der eigenen (Sprach-)Erfahrung kennen. Fehlt uns jegliches Vorverständnis, dann können wir auch die Sache, um die es geht, in diesem Fall also die Bedeutung des Wortes, nicht verstehen. GadamerGadamer, Hans-Georg spricht in diesem Sinne von der positiven Funktion des Vorurteils.4 Verstehen, so könnte man sagen, ist so etwas wie die Korrektur und Erweiterung bestimmter Vorverständnisse; es klärt also mehr die eigenen Horizonte bzw. das eigene Denken, als dass es einen davon unabhängigen Gegenstand erklärt. Die »Sache«, um die es im Verstehen geht, ist denn auch nicht der vermeintliche ›Gegen-Stand‹, sondern letztlich die je eigene Lebenswirklichkeit des Verstehenden.

Die Vorstellung eines einheitlichen Gegenstandes interkultureller Philosophie, der in verschiedenen und sich ergänzenden methodischen Zugängen erforscht wird, geht deshalb an der Sache vorbei. Hermeneutisch stellt sich die Sache, um die es der interkulturellen Philosophie geht, ganz anders dar als etwa der bloß vergleichenden Analyse. Tatsächlich liegt zwischen dem gewöhnlichen Methodenverständnis, das auf Erklären abzielt, und dem hermeneutischen Verstehen eine dimensionale Differenz. Es ist dies aber nicht die einzige dimensionale Differenz, die wir zwischen den verschiedenen Ansätzen interkultureller Philosophie finden können. Jenseits des hermeneutischen Verständnisses lässt sich, das sei hier nur angedeutet und wird im dritten Abschnitt dieses Kapitels ausgeführt, danach fragen, wie die Lebenswirklichkeiten anderer Kulturen und Lebenswelten für diese selber aussehen. Die Klärung dieser Frage ist weder Gegenstand des Erklärens noch Sache des Verstehens, sondern verlangt den Sprung zur Erfahrung. Erst die (Nach-)Erfahrung der Lebenswirklichkeit einer anderen Kultur erlaubt es, diese von sich selbst her zu beschreiben und nicht mehr das Vorverständnis aus der eigenen Lebenswirklichkeit an die andere Kultur heranzutragen. Die hier angestrebte Form der Erfahrung freilich versteht dann gar nicht mehr, sie schließt nicht mehr an die eigenen Erfahrungen und Horizonte an; schon gar nicht taugt sie zum Vergleich verschiedener kultureller Lebensformen miteinander. Dafür aber vermag sie der unhintergehbaren Wirklichkeit der verschiedenen Kulturen und Lebenswelten gewahr zu werden.

2.1 Einheitstheoretische Ansätze
2.1.1 Universalismus

Die Antwort des Universalismus auf die Herausforderungen der interkulturellen Situation lautet, kurz gefasst, dass die verschiedenen Kulturen und Lebenswelten unterschiedliche Gestaltungen und Interpretationen einer gemeinsamen Natur bzw. eines gemeinsamen Prinzips darstellen. Als ein solches Prinzip gilt die Vernunft, die allen Menschen gleichermaßen zukommt und darum grundsätzlich die Möglichkeit der Verständigung gewährleistet. In einem berühmt gewordenen Aufsatz hat HabermasHabermas, Jürgen von der »Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen« gesprochen.1 Als ein anderes gemeinsames Prinzip wird häufig die Natur herangezogen. Der Rückzug auf die gemeinsame Natur tritt im Zusammenhang mit interkulturellen Fragestellungen zumeist in Form anthropologischer Konstanten auf. So führt beispielsweise SukoppSukopp, Thomas gegen die kontextualistische Form des Relativismus, für die RortyRorty, Richard steht, an, dass alle Menschen kulturübergreifend ein »Interesse an elementarer Bedürfnisbefriedigung« haben. Als Beispiele nennt er Hunger, Durst und Schmerz, Kleidung, Schlaf, Sex, Obdach und Schutz vor Gewalt.2 Daneben verweist er auf die universale Gültigkeit der Naturgesetze und der Logik und auf einen »gemeinsamen Kern menschlicher Vernunft«. Auch PaulPaul, Gregor hebt neben anthropologischen Konstanten vor allem die Universalität der Logik hervor, durch die er grundsätzlich immer eine Verständigungsmöglichkeit gewährleistet sieht.3 Logische Regeln und Gesetze wie etwa das Widerspruchsprinzip lassen sich zwar missachten, nicht aber aufheben. Sie bleiben auch dann in Geltung, wenn sie nicht befolgt werden.4

Anthropologische Konstanten

Ähnlich wie die bereits genannten SukoppSukopp, Thomas und PaulPaul, Gregor hebt auch HolensteinHolenstein, Elmar die Übereinstimmungen zwischen verschiedenen Kulturen hervor. Dabei bedient er sich häufig neuerer Erkenntnisse aus der Sprachwissenschaft. Trotz zahlreicher Unterschiede zwischen den natürlichen Sprachen, lassen sich doch zugrunde liegende Gesetzmäßigkeiten finden, die für alle Sprachen gelten. Holenstein nennt folgendes Beispiel: Wenn eine Sprache »einen Dual hat«, dann »auch einen Plural […], und wenn sie einen Plural hat, dann auch einen Singular«.1 Nicht jede Sprache hat einen Dual, und demzufolge muss auch nicht jede Sprache einen Plural haben; hat sie aber einen Dual, dann immer auch einen Plural und einen Singular. Auch sonst sucht Holenstein nach Gesetzmäßigkeiten, um den universalen Charakter zahlreicher Bereiche von Kulturen zu demonstrieren. So vermutet er, dass bestimmte Gesten in verschiedenen Kulturen zwar unterschiedliche Bedeutungen besitzen können, dass die Bedeutungszuordnung aber einer Gesetzmäßigkeit folgt. Beispielsweise scheint die Ja- und Nein-Gestik grundsätzlich aus einander entgegengesetzten Bewegungsmustern zu bestehen: Wird für das Ja eine vertikale Bewegung verwendet, wie bei unserem Kopfnicken, dann für das Nein eine horizontale; im Bulgarischen ist die Verwendung umgekehrt, während im Griechischen eine Bewegung des Kopfes nach unten Bejahung und eine Bewegung des Kopfes nach oben Verneinung signalisiert.2 Zudem verweist Holenstein auf die These Darwins, wonach die Verwendung der Kopfbewegung zumindest im Falle der Nein-Gestik auf das Abwenden des Säuglings von der Mutterbrust zurückzuführen ist. Das macht deutlich, dass auch Holenstein den universalen Charakter menschlichen Verhaltens dann für besonders gesichert erachtet, wenn sich ein Verhalten auf biologische Ursachen zurückführen lässt. So auch im Falle der Moral, für den sich Holenstein auf Meng ZiMeng Zi (Menzius, ca. 370–290 v. Chr.), einen Schüler von Konfuzius, beruft. Meng Zi hat angenommen, der Mensch sei natürlicher Weise moralisch veranlagt.3 Freilich hat Meng Zi seine Ansicht nicht biologisch untermauert. Das aber wird von der evolutionären Anthropologie heute nachgeholt, besonders prominent etwa bei De WaalDe Waal, Frans und TomaselloTomasello, Michael.4

Eine Betonung anthropologischer Konstanten findet sich bei zahlreichen Autoren. WireduWiredu, Kwasi etwa spricht von der »biological foundation of universal norms«, also der biologischen Begründung von Normen.5 Auch MallMall, Ram A. stützt seine These von der »Überlappung der Kulturen« u.a. durch den Verweis auf anthropologische Gemeinsamkeiten und vergleicht die kulturellen Überlappungen mit der Genetik des Menschen. Auch auf genetischer Ebene finden wir erhebliche Variation zwischen den Menschen bei grundsätzlich sehr weitgehender Übereinstimmung.6

Ein Universalismus, der sich mit Blick auf die interkulturelle Situation auf anthropologische Konstanten beruft, wirft nun allerdings mehr Fragen auf, als er beantwortet. Was ist durch den Verweis auf die biologische Ähnlichkeit der Menschen eigentlich gezeigt? Offenbar nur dies, dass die Menschen verschiedener Kulturen trotz manch kultureller Differenz biologisch vergleichbar sind. In Bezug auf anthropologische Konstanten macht denn auch die Feststellung HolensteinsHolenstein, Elmar Sinn, dass einzelne Merkmale innerhalb einer Kultur zumeist mindestens ebenso stark variieren wie zwischen verschiedenen Kulturen.7 Die interkulturelle Situation ist nun aber nicht dadurch gekennzeichnet, dass die Menschen unterschiedlicher Kulturen verschiedene biologische Merkmale für sich reklamieren würden. Es gibt heute auch keine ernstzunehmende Theorie mehr, die das behauptete. Eine solche wäre rassistisch; und tatsächlich gab es vor allem im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Rassentheorien, die versuchten, die Menschen nach biologischen Merkmalen in mehrere Untergruppen zu gliedern. Carl von LinnéLinné, Carl v. (1707–1778), der uns heute als Begründer der biologischen Systematik bekannt ist, unterteilte die Menschen in vier Gruppen, denen er neben den für sie spezifischen Hautfarben auch besondere Temperamente zuordnete. Eine ähnliche Einteilung findet sich auch bei KantKant, Immanuel (1724–1804); bei ihm kommt außerdem die Zuschreibung unterschiedlichen Talents hinzu.8 Die politischen Irrwege, die wenigstens zum Teil durch Rassentheorien begründet worden sind, sind hinlänglich bekannt. Sie reichen von der Rechtfertigung des Kolonialismus und der Sklaverei, über die Rassentrennung, wie sie etwa in den USA bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein üblich war, bis hin zu den nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Die interkulturelle Situation ist nun aber gerade nicht durch vermeintliche Differenzen auf der biologischen Ebene gekennzeichnet. Solche Differenzen gibt es, sie bestehen aber, wie uns die Genetik lehrt, weniger zwischen verschiedenen Gruppen von Menschen als eher innerhalb einzelner Gruppen. Die interkulturelle Situation zielt dagegen auf kulturelle Differenzen, nicht auf biologische. In gewisser Weise ist die biologische Vergleichbarkeit der Menschen untereinander sogar eine Voraussetzung für die Feststellung kultureller Differenzen. Denn dass sich biologisch verschiedene Wesen möglicherweise auch auf der kulturellen Ebene unterscheiden, ist von vergleichsweise geringem Interesse. Viel spannender wäre es da schon, kulturelle Gemeinsamkeiten bei biologisch deutlich voneinander zu unterscheidenden Lebewesen zu finden (z.B. bei verschiedenen Spezies oder gar Gattungen). In diese Richtung gehen denn ja auch die artvergleichenden Forschungen in der Entwicklungspsychologie und der bereits erwähnten evolutionären Anthropologie.9 Die interkulturelle Situation konfrontiert uns nun aber mit kulturellen Differenzen, und die lassen sich nicht über biologische Gemeinsamkeiten vermitteln. Um ein Beispiel zu nennen: Das Besondere des Menschen ist nicht, dass er isst, sondern wie er isst. Darin, dass sich die Nahrungsaufnahme beim Menschen vom Fressen über das Essen bis hin zum Speisen entwickelt hat, unterscheidet sich die Nahrungsaufnahme des Menschen von der anderer Tiere. Die Überhöhung des Fressens zum Essen und Speisen ist ein kultureller Akt, und zwar ein besonders wichtiger in der menschlichen Entwicklung. Die Menschen feiern die Nahrungsaufnahme geradezu; darin deutet sich an, dass sie die für sie so lebenswichtige Nahrung immer auch als ein Geschenk erfahren, etwas, auf das sie angewiesen sind, das sie aber nicht ohne Unterstützung der Natur zur Verfügung hätten. Das Essen ist deshalb schon früh in der Menschheitsgeschichte mit religiösen Aspekten verknüpft worden. Hinzu kommt die soziale Funktion des Essens. Wir teilen das Essen – und damit unsere eigene Lebensgrundlage – mit anderen, darin liegt das tiefe Bekenntnis der Angewiesenheit aufeinander. Bis heute ist das gemeinsame Essen die vermutlich wichtigste soziale Institution in allen Kulturen. Fremde werden willkommen geheißen, indem sie zum Essen eingeladen werden. Usw. Die Kultur macht hier also den Unterschied zu anderen Tieren aus, nicht die Biologie. Aber nun ist auch Essen und Essen nicht dasselbe. Es kommt sehr darauf an, was gegessen wird; manche Nahrungsmittel gelten in einigen Kulturen als heilig, in anderen nicht. Das bekannteste Beispiel dafür ist die ›heilige Kuh‹ in Indien. Aber es gibt auch in anderen Kulturen zahlreiche Nahrungstabus. Manche davon sind religiös begründet, so etwa das Schweinefleischverbot im Judentum und Islam, andere nicht, wie etwa die Ächtung des Hundeverzehrs in Europa und den Vereinigten Staaten. In einigen kleineren Kulturen gibt es sogar Nahrungstabus für Pflanzen. So dürfen beispielsweise die erwachsenen männlichen Mitglieder des Stammes der Hua auf Papua-Neuguinea keine roten Gemüsearten und Früchte essen, weil diese mit der weiblichen Menstruation in Verbindung gebracht werden.10 Weiterhin gibt es Vorschriften, wie und wo gegessen wird – auf dem Boden sitzend oder am Tisch (auf dem das Essen wie auf einem Opferaltar dargereicht wird), aus gemeinsamen Schalen und Töpfen oder von getrennten Tellern – und wie sich der Dank über die Mahlzeit ausdrückt. Christlich interpretiert haben wir beim Essen Teil am Leib Christi, wodurch uns immer wieder von neuem deutlich wird, dass wir Kinder Gottes sind. Das ist so nicht auf andere Religionen übertragbar. Es ist aber auch nicht einfach ein vernachlässigbares Detail, das hinter der allgemein-menschlichen Gemeinsamkeit der kulturell überhöhten Nahrungsaufnahme zurücktritt. Vielmehr hängt an der jeweiligen kulturellen Bedeutung des Essens das gesamte Selbst- und Weltverständnis der Menschen. Die verschiedenen Esskulturen als bloße Marotten abzutun, hieße das Wesen des Menschen zu verkennen. Der Mensch ist wesenhaft frei in dem ganz grundlegenden Sinne, dass er sich seine eigenen biologischen Voraussetzungen immer erst noch kulturell aneignet, ihnen nicht einfach ausgeliefert ist, sondern sie auf eine neue Stufe hin übersteigt. So hat der Mensch z.B. nicht einfach einen Körper, sondern muss ihn sich im Laufe seines Lebens aneignen, ihn zu seinem eigenen Körper machen. Dieser Aneignungsprozess ermöglicht es dem Menschen, dem Körper einen eigenen Sinn zu geben, etwa im Tanz, in dem vermutlich überhaupt erst so etwas wie eine Identität von Körper und Person erfahren wird. Der Mensch greift weit über sein biologisches Sein hinaus und verleiht diesem dadurch erst seinen Sinn. Ganz so, wie die kulturelle Welt des Menschen eine bedeutungsvolle ist, so eignet sich der Mensch auch sein biologisches Sein als ein sinnvolles an. Dabei erhebt sich nicht nur der menschliche Geist über die Natur, auch die Natur selbst wird durch den Menschen erhöht. Dann aber können kulturelle Entdeckungen nicht mehr durch anthropologische Konstanten relativiert werden.

Ein Universalismus, der sich auf anthropologische Konstanten beruft, bewegt sich in einer Dimension, die den Menschen als biologisches Wesen begreift und gegebenenfalls durch geeignete biologische Merkmale von anderen Tieren abgrenzt. Er ist gegenüber jeder Form von Rassismus und anderer biologischer Ausgrenzung im Recht. Die Menschen bilden eine gemeinsame Spezies und sind so gesehen alle gleich. Auch gelten selbstverständlich die Naturgesetze überall. Allerdings verkennt diese Form des Universalismus das kulturelle Wesen des Menschen, das darin liegt, seiner eigenen Biologie nicht einfach ausgeliefert zu sein, sondern sich diese – ebenso wie die gesamte Natur – im Laufe des Lebens erst anzueignen und darin zu überformen.

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