Kitabı oku: «Der Jude Jesus und die Zukunft des Christentums», sayfa 3

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Verschiedene Spielarten des Fundamentalismus gehen bis heute so mit der Bibel um. Am Beginn der Bewegung stand eine in den USA veröffentlichte Schriftenreihe, Fundamentals, die in den Jahren 1910 bis 1915 fünf unaufgebbare »Fundamentalien« des christlichen Glaubens festzuhalten trachtete: 1. die buchstäbliche Inspiration der Bibel und damit ihre Irrtumslosigkeit; 2. die Jungfrauengeburt; 3. das stellvertretende Sühnopfer Christi am Kreuz; 4. die leibliche Auferstehung; 5. die Göttlichkeit Jesu Christi und seine unmittelbar bevorstehende Wiederkehr zum Gericht über die Menschen. Das zielte unverkennbar gegen die kritische Bibelwissenschaft; doch der Gestus des Festhaltens an wenigstens fünf »unaufgebbaren« Wahrheiten verriet auch eine tiefe Verunsicherung: War Wahrheit wirklich Wahrheit, wenn man ihre »Unaufgebbarkeit« betonen musste? Gab man damit nicht schon zu, dass alles ins Rutschen geraten war? Offenbar grassierte die Furcht, der Glaube könne der Moderne entgleiten, wenn man nicht wenigstens einige fundamentale »Fakten« entschieden bekräftigte.

So ist der Fundamentalismus einerseits eine Reaktion auf die Entwicklungen in der Moderne und andererseits selbst ihr Produkt: Auch er hält sich an vermeintliche »Fakten«, indem er umstandslos die Bibel insgesamt als geschichtliche Wahrheit verabsolutiert und dabei nicht merkt, welcher ungeheuren Reduktion des christlichen Glaubens auf wenige Punkte er damit Vorschub leistet.

Spiegelbildlich steht dem die Verabsolutierung der Geschichte selbst gegenüber: die bereits angesprochene Faktengeschichte als erster und eigentlich einziger Zugang zur Wirklichkeit. Sie ist heute sehr viel weiter verbreitet als der Fundamentalismus – auch wenn ihr ein gewisser fundamentalistischer Beigeschmack ebenfalls nicht abzusprechen ist. Wie tief diese Art des Denkens ins westliche Bewusstsein eingedrungen ist, zeigt der Vergleich mit anderen Kulturen. Der Schriftsteller Peter Bichsel macht das anhand einer Reiseerinnerung anschaulich:

Als ich vor vier Jahren in Bali war, begann mich der balinesische Hinduismus zu interessieren. Er hat sich zweitausend Jahre unabhängig vom indischen Hinduismus entwickelt und zu einer faszinierenden humanen Form gefunden. Ich habe selbst eine religiös pietistische Vergangenheit, die ich ganz schön verdrängt hatte; in Bali packte es mich wieder. […]

Ein junger Balinese wurde mein Hauptlehrer. Eines Tages fragte ich ihn, ob er denn glaube, dass die Geschichte vom Prinzen Rama – eines der heiligen Bücher der Hindus – wahr sei.

Ohne zu zögern antwortete er mit »Ja.«

»Du glaubst also, dass Prinz Rama irgendwann irgendwo gelebt hat?«

»Das weiß ich nicht, ob der gelebt hat«, sagte er.

»Dann ist es also eine Geschichte?«

»Ja, es ist eine Geschichte.«

»Und dann hat wohl jemand diese Geschichte aufgeschrieben – ich meine: ein Mensch hat sie geschrieben?«

»Sicher hat sie ein Mensch geschrieben«, sagte er.

»Dann könnte sie ja auch ein Mensch erfunden haben«, antwortete ich und triumphierte, weil ich dachte, ich hätte ihn überführt.

Er aber sagte: »Es ist gut möglich, dass einer die Geschichte erfunden hat. Wahr ist sie trotzdem.«

»Dann hat also Prinz Rama nicht auf dieser Erde gelebt?«

»Was willst du wissen?« fragte er. »Willst du wissen, ob die Geschichte wahr ist, oder nur, ob sie stattgefunden hat?«

»Die Christen glauben, dass ihr Gott Jesus Christus auf der Erde war«, sagte ich, »im Neuen Testament ist das von Menschen beschrieben worden. Aber die Christen glauben, dass dies die Beschreibung von Wirklichkeit ist. Ihr Gott war wirklich auf der Erde.«

Mein balinesischer Freund überlegte und sagte: »Davon hat man mir schon erzählt. Ich verstehe nicht, warum es wichtig ist, dass euer Gott auf der Erde war, aber mir fällt auf, dass die Europäer nicht fromm sind. Stimmt das?«

»Ja, es stimmt«, sagte ich. (13 f.)

Was im balinesischen Hinduismus noch selbstverständlich möglich ist, ist in Westeuropa zerbrochen: Die biblischen Geschichten lassen sich im Rahmen des bürgerlich-westlichen Denkens nicht mehr ohne Weiteres als bedeutsam, als wahr erzählen und verstehen. Das historische Fragen führt beständig auf Abwege. Man fragt, ob etwas »stattgefunden« hat. Doch die dabei gewonnenen Erkenntnisse können die Bedürfnisse nach Sinn, nach einer tragenden Deutung des eigenen Daseins nicht erfüllen. Sie bleiben die »zufälligen Geschichtswahrheiten«, die schon Lessing für belanglos erklärt hat.

Am präzisesten hat in meinen Augen der Neutestamentler Wolfgang Stegemann erfasst, was hier geschehen ist. Mit Blick auf das 19. Jahrhundert spricht er von der »Historisierung aller Lebensbereiche«. Diese habe auch das Christentum ergriffen und bei der Lektüre der Bibel zu einem »historic turn« geführt:

Von jetzt an dienen nicht mehr die Bibel und ihre Erzählungen (von der Weltschöpfung bis hin zu den Geschichten über Jesus) als Referenzrahmen der Welterfahrung. Vielmehr fragte man sich umgekehrt: Passen die Erzählungen der Bibel noch zur »wirklichen« (wissenschaftlich erforschten) Welt? Die Geschichten der Bibel werden seitdem einer Kritik – einer Prüfung – unterzogen, die ihren Maßstab an der Vernunft bzw. den Wissenschaften findet. (259)

Diese »umgekehrten Fragen« waren die Fragen des aufgeklärten Bürgertums. In einer komfortablen Situation wollte es wissen, was zu ihm passte und was ihm plausibel erschien. Die Schrift diente ihm nicht mehr zur Befragung der eigenen Lebenssituation und zur Wahrnehmung der Welt aus einer anderen Perspektive – vielmehr diente nun die eigene ­Perspektive zur Beurteilung der Schrift und ihres Wahrheitsgehalts. Mit anderen Worten: Das zum »Herrschafts- und ­Bedürfnissubjekt in der Gesellschaft« (Metz, III/1, 50) aufgestiegene Bürgertum ließ sich nicht mehr von biblischen Erzählungen infrage stellen, sondern folgte eigenen Anschauungen und entschied selbst, was es für glaubhaft hielt. Natürlich fiel sein Urteil, das es gemäß den naturwissenschaftlichen und weltanschaulichen Überzeugungen der Zeit gewonnen hatte, in den meisten Fällen negativ aus: Die biblischen Erzählungen, so wie man sie verstand, waren mit den Wahrheitsansprüchen der neuen Zeit nicht vereinbar. Und damit hörten diese Erzählungen – trotz immer feinerer historischer Instrumentarien – auf, zu den Leuten zu sprechen.

Das gilt übrigens – bis heute – nicht nur für diejenigen, für die das Christentum darum nicht mehr diskussionswürdig ist, sondern auch für gläubige Christinnen und Christen: Sie können das geschichtliche Denken, mit dem sie aufgewachsen sind und das ihre ganze Lebenswelt bestimmt, nicht per Beschluss abstellen – der geschichtliche Blick bestimmt auch ihre Suche nach der Wahrheit der Religion.

Brachte also das neue Denken insgesamt eher Fluch als Segen? Ist es (mit-)verantwortlich für den großen Schwund an Gläubigen? Für manche Kirchenleute, die gerne das Problem irgendwo »außerhalb« lokalisieren, mag es so scheinen. Aber natürlich ist es mit dieser Denkform wie mit vielen »innerweltlichen« Dingen: Sie sind weder gut noch böse – sie sind. Die Dimension der Geschichte wurde ja nicht erdacht, sondern entdeckt. Und diese Entdeckung kann so wenig rückgängig gemacht werden wie die Entdeckung Amerikas. Es gibt kein Zurück zu einem vorkritischen Denken. Und es gibt auch nicht die Wahl, Ja oder Nein zur Geschichte zu sagen – wir sind immer schon ein Teil von ihr. Es fragt sich nur, wie wir damit umgehen. Daran entscheidet sich, wie lebensnah wir denken, argumentieren, glauben.

Genau an diesem Punkt liegt deshalb auch die Herausforderung für die Kirchen und die Theologie. Den verschiedenen Reaktionen widmen sich die nächsten Kapitel.

Kapitel 3
Ein Riss

Wie hat sich der »geschichtliche Blick« auf die christliche Verkündigung, auf ihre Erzählbarkeit ausgewirkt? Wie haben die Kirchen und ihre Theologien auf die Herausforderung der Aufklärung reagiert? Ich habe ja schon das (eher katholische) Bild von der Verpuppung einer Raupe in einen sicheren Kokon gebraucht; man könnte auch (eher evangelisch) vom Überleben in einem hundertjährigen Erdbeben sprechen. Das berühmte Wort »Es wackelt alles!«, mit dem Ernst Troeltsch 1896 auf einer Tagung liberaler Theologen den Zustand des christlichen Glaubensgebäudes beschrieb, klingt sehr danach.

Beide Metaphern aber bringen das wesentliche Geschehen noch nicht treffend genug zum Ausdruck; vor allem sehen sie die Kirchen vornehmlich als Opfer außerkirchlicher Entwicklungen. Deshalb, so scheint mir, wäre besser noch von einem »Riss« zu sprechen, der mitten durch die Theologie und die Kirchen hindurchgeht. Betrachten wir einige Stationen der Entwicklung, um der Sache näherzukommen.

Der bereits erwähnte Aufschwung der historisch-säkularen Arbeitsweise in der Bibelwissenschaft brachte schnell einen großen Reichtum an neuen Erkenntnissen hervor. Für Theologen als Einzelpersonen wurde es immer schwieriger, beides – theologisch-dogmatisches Wissen und Bibelwissen auf dem neuesten Stand der Diskussion – zu vertreten. Immer mehr Professoren sprachen sich deshalb dafür aus, Dogmatik (die reflektierte Darstellung der kirchlichen Lehre) und Exegese (die wissenschaftliche Auslegung der Bibel) ganz zu trennen und als eigenständige Fächer innerhalb der Theologie zu etablieren.

Zudem zeigten sich viele Bibelspezialisten interessiert daran, nun unabhängig und ohne dogmatische Vorgaben arbeiten zu können. Das richtete sich nicht prinzipiell gegen die Dogmatik, sondern folgte eher dem neuen Geist, wonach sich die Erforschung der Geschichte ganz an empirisch zugängliche Daten und Fakten zu halten habe. Erst auf dieser Grundlage könne dann auch die Dogmatik ihre Lehre entfalten. Der Theologe Johann Philipp Gabler (1753–1826), einer der »Väter« der evangelischen Bibelwissenschaft, formulierte schon 1790 programmatisch: »Dogmatik muß von Exegese, und nicht umgekehrt Exegese von Dogmatik abhängen« (XV).

In der Folge entwickelten Dogmatik und Exegese jeweils eigene Profile. Beide oft – bewusst oder unbewusst – mit der Haltung, dass das eigene Fach das »richtige« Bild des Christentums biete. In Zeiten, als es noch dieselben Personen waren, die an den Hochschulen Bibelauslegung und Dogmatik lehrten, wurden eventuell auftretende Widersprüche meist schon miteinander vermittelt, harmonisiert, bevor sie überhaupt ins Bewusstsein treten konnten. Doch von dem Moment an, da die Bibelwissenschaftler begannen, ihre Forschungen unabhängig zu betreiben, war es nur natürlich, dass sie ihre Erkenntnisse sozusagen »unvermittelt« vertraten.

Bei zahlreichen Fragen kam es nun vermehrt zu Unvereinbarkeiten zwischen der kirchlichen Darstellung der christlichen Lehre und den historisch-kritischen Erkenntnissen der Exegese. Der reformierte Züricher Alttestamentler Konrad Schmid bringt es folgendermaßen auf den Punkt: »Mit der historischen Wahrnehmung der Bibel und ihrer Schriften wurde deutlich, dass die biblischen Texte mehr, weniger und anderes sagen, als was die Dogmatik traditionellerweise aus der Bibel ableitete« (328).

Mehr sagen die biblischen Texte meines Erachtens, insofern sie zahlreiche unterschiedliche Theologien, zahlreiche unterschiedliche Arten von Gott zu sprechen und Gott anzusprechen enthalten – und nicht nur eine einheitliche »Gotteslehre«, nicht nur eine Theologie. Weniger sagen sie, weil sie nicht über das Wesen Gottes spekulieren und metaphysisch weitgehend desinteressiert sind. Und anderes sagen sie, indem sie etwa in der Frage des Ein-Gott-Glaubens bis ins Neue Testament hinein keineswegs eindeutig sind oder in der Frage der Bedeutung des Jesus von Nazaret zum Teil widersprüchliche Aussagen machen, die von der christlichen Dogmatik im Allgemeinen nicht aufgegriffen werden.

Hierauf kann man sich vonseiten der Dogmatik Reaktionen in zwei Richtungen vorstellen: zum einen das interessierte Zugehen auf die neuen Erkenntnisse und damit verbunden das kritische Befragen der bisherigen Darstellungen des christlichen Glaubens; zum anderen die scharfe Zurückweisung der historischen Betrachtungsweise der Bibel und das Einklagen einer hermeneutica sacra, eines Umgangs mit der Bibel also, der sie weiterhin als unfehlbares heiliges Wort Gottes betrachtet und dementsprechend liest.

Beide Reaktionsweisen hat es gegeben und natürlich auch allerlei Schattierungen zwischen diesen Polen.

Beispielhaft für die interessierte Auseinandersetzung mit der Aufklärung und ihren neuen Sichtweisen sind die beiden Tübinger Schulen des 19. Jahrhunderts (Johann Sebastian von Drey, Johann Adam Möhler, Johann Baptist von Hirscher, Franz Anton Staudenmaier u. a. an der katholischen Fakultät; Ferdinand Christian Baur, David Friedrich Strauß, Karl Reinhold von Köstlin, Eduard Zeller u. a. an der evangelischen Fakultät). Getragen von intellektueller Neugier und der Hoffnung auf ein tieferes Verstehen der christlichen Quellen, initiierten sie eine rege Zusammenarbeit zwischen den theologischen Disziplinen, erprobten historisch-kritische Methoden nicht nur in der Bibelforschung, sondern auch in der Dogmatik und anderen Fächern, betrieben die kreative und kritische Auseinandersetzung mit Lessing, Kant und Hegel – und stritten auch gerne mit den Kollegen der anderen Fakultät.

An der katholischen Fakultät in Tübingen dauerte das Abenteuer allerdings nur wenige Jahrzehnte. Die Gegner der Tübinger Schule und ähnlicher Initiativen formierten sich schon früh im 19. Jahrhundert. Sie begannen als informelles Netzwerk von ungefähr 150 Personen aus einflussreichen Kreisen in deutschsprachigen Ländern. Daraus ging nach und nach die mächtige Bewegung des Ultramontanismus hervor. Diese wollte sich in kirchlichen wie politischen Angelegenheiten ausschließlich daran orientieren, was ultra montes (»jenseits der Berge«), also vom Heiligen Stuhl, vorgegeben wurde, umfasste aber weit mehr als bloße Papstloyalität. Ihre Vertreter betrieben, so schreibt Andreas Holzem, »eine massive Personalpolitik, indem sie gemeinsam mit den Nuntiaturen in Luzern, München und Wien die aufgeklärten Pastoralreformer aus den kirchenleitenden Positionen vertrieben« (١٧٠). Sie strengten Indizierungsverfahren gegen liberale Theologen an und versuchten, deren Einfluss auf die Priesterausbildung zu unterbinden. Endgültig erstickt wurden die theologischen Aufbrüche schließlich nach der Niederschlagung der Revolu­tionen des Jahres ١٨٤٨.

Was motivierte die Gegner der Aufklärung in der Kirche? Es waren nie nur akademische oder theologische Streitfragen; immer ging es auch um politische und gesellschaftliche Positionierungen. Für viele waren die schweren Konflikte der katholischen Kirche mit der Französischen Revolution ein Grund, künftig sämtlichen aufklärerischen Bestrebungen mit Argwohn zu begegnen. Wenn sie es nicht immer schon waren, dann wurden sie jetzt zu entschiedenen Verfechtern der Monarchie, bei der sie den christlichen Glauben in sicheren Händen sahen – trotz der verbreiteten und keineswegs un­bekannten korrupten Machenschaften und Intrigen im europäischen Adel. Getrieben waren sie vor allem von einem ­starken Ressentiment gegen alles »Unkatholische«, seien es Moderne, Protestantismus, Liberalismus, Judentum oder Freidenkertum.

1848 hatte der Geist der Revolte fast ganz Europa erfasst; Unzufriedenheit und Gerechtigkeitsverlangen kulminierten in zahlreichen Ländern. In Frankreich, Preußen, Österreich (mit Ungarn und Norditalien) sowie in Dänemark fanden Massenversammlungen, Demonstrationen und Straßenschlachten statt; in Polen und Irland kam es zu bewaffneten Aufständen. Bereits im Februar ging der bedrängte französische König Louis Philippe ins Exil. Europäische Herrscher, die für sich dasselbe Schicksal fürchteten, versprachen Verfassungen; in den deutschen Staaten wurden Wahlen zu einer verfassungsgebenden Nationalversammlung in Frankfurt abgehalten; Papst Pius IX. (Amtszeit 1846–1878) floh nach der Ermordung seines Päpstlichen Ministerpräsidenten aus Rom, woraufhin in der Stadt die Republik ausgerufen wurde.

Die Erhebungen wurden überall schnell und zum Teil sehr blutig niedergeschlagen, und bald fühlten sich die europäischen Herrscherhäuser wieder stark genug, ihre im ersten Schreck gemachten Zugeständnisse zu widerrufen. In der Bevölkerung gewann das Bedürfnis nach Ruhe vielerorts die Oberhand. Die Bürger Frankreichs wählten bei der Präsidentschaftswahl im Dezember 1848 den konservativsten Kandidaten, und dessen Truppen setzten alsbald auch Papst Pius IX. wieder als Oberhaupt des Kirchenstaats ein.

Zugleich aber bestanden die eklatanten sozialen Verwerfungen infolge der Industrialisierung weiter fort, und das Verlangen der demokratischen Bewegungen nach Verfassungen und Freiheitsrechten blieb ungestillt. Die kritischen Anfragen von Feuerbach und Marx (sowie später von Darwin und Nietzsche) an das Christentum verschwanden nicht aus der Welt. Es rumorte weiter.

In vielen deutschen Staaten und in Frankreich schlug die Stimmung in den Kirchen indessen um: Die Mehrheit der Geistlichen orientierte sich nun in eine konservativere Richtung – wohl auch aus Furcht vor einer weiteren revolutionären Welle, die sich womöglich noch radikaler ausnehmen könnte. Man nahm die antiklerikale, zuweilen militant säkulare Stimmung in den demokratischen Bewegungen und in der Arbeiterbewegung wahr; Kirchenbesuch und Sakramentenempfang gingen deutlich zurück. Die Antwort darauf war eine entschlossene Rekonfessionalisierung – der Rückzug in unveränderbare Gewissheiten aus einer Welt, die man immer weniger verstand.

Die Ultramontanen erreichten in dieser Situation ein wichtiges Ziel: Um 1850 hatten sie den deutschen Katholizismus weitgehend in ihrem Sinne umgeformt, während die Reform­ideen der Aufklärer wie aus der Zeit gefallen schienen. Theologisch waren die Ultramontanen entschiedene Parteigänger der sogenannten Neuscholastik, die sich an der scholastischen Theologie des Mittelalters orientierte, vor allem an Thomas von Aquin (den sie aber nicht im Horizont seiner Zeit, also historisch-kritisch las, sondern als theologia perennis, als Theologie für alle Zeiten).

Ein wichtiger Vertreter dieser Entwicklung war der Jesuit und Papstberater Joseph Kleutgen (1811–1883). Der Titel seines vierbändigen Hauptwerks, Die Theologie der Vorzeit (1853–1870), bringt das Programm der Neuscholastik treffend zum Ausdruck: In einer Zeit der Verunsicherung und des Aufruhrs suchte die Theologie Halt in der Vergangenheit, in vorneuzeitlichen Traditionen, welche die Anfeindungen der Gegenwart nicht kannten. Mit den neuen theologischen Ansätzen beschäftigte sie sich nicht im Modus der ernsthaften Auseinandersetzung, sondern allein im Modus der Zurückweisung aufgrund mangelnder Übereinstimmung mit den Kirchenvätern, mit Thomas von Aquin, mit dem Konzil von Trient (1545–1563). In den Erkenntnissen der neuen historischen Forschungen erblickte sie nichts als Relativismus und Zersetzung, betrieben von Feinden des Glaubens.

All diese Forschungen, Debatten und Reflexionen wurden von der Neuscholastik in den folgenden Jahren kurzerhand vom Tisch gewischt und durch das eigene Programm ersetzt. Das traf insbesondere auch die Tübinger Schule. Deren Arbeiten wurden als »Selbstdenkertum« verspottet, ignoriert, totgeschwiegen und schließlich mitsamt ihren großen Vertretern dem Vergessen überantwortet – eine »Tragödie der Theologiegeschichte« (Metz, III/1, 39).

Von Anfang an wurde die Neuscholastik durch den Vatikan gefördert und gelenkt. Papst Pius IX. galt zu Beginn seines Pontifikats – vor seiner Flucht aus Rom – noch als liberal, »doch als er unter dem Schutz der französischen Truppen nach Rom zurückkehrte und für den Rest seines langen Pontifikats dort blieb, wurde er ein unversöhnlicher Gegner von Liberalismus und Demokratie, ganz gleich, ob innerhalb oder außerhalb der Kirche« (McLeod, 103). So verbanden sich auch bei ihm politische und theologische Aversionen nahtlos mit­einander.

In seiner 1864 veröffentlichten Enzyklika Quanta cura wandte er sich entschieden gegen die Religionsfreiheit und die Trennung von Staat und Kirche. Im Anhang des Schreibens befand sich zudem der berüchtigte Syllabus errorum (lat. »Verzeichnis der Irrtümer«), der nicht nur Liberalismus, Atheismus, Sozialismus und Kommunismus verurteilte, sondern auch Bibelgesellschaften und liberale Klerikervereine. Das zeigt: Die Feinde wurden nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch im Inneren der Kirche ausgemacht. Die kritische Auseinandersetzung mit der Bibel sollte ebenso sehr unterbunden werden wie die Zusammenkünfte von Klerikern, die die Demokratie befürworteten.

Dass die Moderne von der Kirche schließlich insgesamt als etwas Feindliches angesehen wurde, zeigte sich insbesondere, als die Positionen historisch denkender Theologen seit Ende des 19. Jahrhunderts von ihren Gegnern mit dem Kampfbegriff des »Modernismus« etikettiert wurden. Gewiss war den »Modernisten« gemeinsam, dass sie die neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse als produktive Herausforderung für eine wache Theologie begriffen, doch ansonsten hatten sie zahlreiche unterschiedliche Interessen und Positionen, sodass von einem gemeinsamen Programm keine Rede sein konnte. Trotzdem sprach auch Papst Pius X. (Amtszeit 1903–1914) vom »System« des Modernismus und nannte es in seiner Enzyklika Pascendi Dominici gregis von 1907 ein »Sammelbecken aller Häresien«. Er verurteilte darin sämtliche Erscheinungen des Modernismus und verhängte wenig später die Exkommunikation als Strafe für dessen (vermeintliche) Vertreter. 1910 führte er schließlich den »Antimodernisten-Eid« ein, der die Kleriker verpflichtete, dem Modernismus in allen seinen Ausprägungen ausdrücklich abzuschwören. (Erst 1967 ersetzte Papst Paul VI. den Antimodernisten-Eid durch ein von ihm formuliertes Glaubensbekenntnis.) Während der Amtszeit von Pius X. kamen nahezu 150 Werke auf den Index der verbotenen Bücher.

Exkommunikation statt Kommunikation. Hinter der nach außen demonstrierten Härte verbargen sich Unsicherheit und Angst vor dem Verlust der eigenen Gewissheiten. Zwar hatte die Kirche auf dem Ersten Vatikanischen Konzil 1870 in der Konstitution Dei Filius noch fest behauptet, »dass Gott, der Ursprung und das Ziel aller Dinge, mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus den geschaffenen Dingen gewiss erkannt werden kann« (Denzinger, Nr. 3004), doch sah sie sich offenbar nicht in der Lage, dies im Lichte dieser Vernunft offen mit den Vertretern der neuen Forschungsgebiete zu diskutieren.

Man hat angesichts dieser völlig überzogenen Abwehr­reaktion den Eindruck einer über Jahrzehnte anhaltenden ­Panikattacke. Fürchtete sich die Kirche, dass der »geschichtliche Blick« dem Glauben das Wasser abgraben könnte? War sie sich ihrer Botschaft selbst so unsicher? Von Menschen, die fest in ihrem Glauben verankert sind, würde man jedenfalls mehr Gelassenheit erwarten.

Vielleicht spielte dabei nicht nur die Angst eine Rolle, dass »der Feind« sich in Gestalt von Exegeten und Dogmenhistorikern auch in der Kirche ausbreitete, sondern die Ahnung, dass sich selbst die Verteidiger der Kirche dem neuen Denken letztlich nicht entziehen konnten? Das neuscholastische Festhalten am überlieferten Glaubensschatz, dem sogenannten depositum fidei, hatte zumindest aus der lebendig fließenden Glau­bensauseinandersetzung zwischen Lebenserfahrung, Heiliger Schrift und Gottesbeziehung ein mehr denn jemals zuvor auf starre Formeln reduziertes Depot von Wahrheiten gemacht, von »Fakten« des Glaubens gewissermaßen, das in seiner Statik gerade nicht »vorzeitlich«, sondern ebenso modern war wie die Faktenfixierung der frühen Bibelforscher und des Fundamentalismus.

Im Protestantismus ging die Auseinandersetzung zwischen Exegese und Dogmatik, weil es kein zentrales Lehramt gibt, andere Wege. Die historisch-kritische Erforschung der Bibel fand ihre Heimat hauptsächlich in der breiten Strömung der Liberalen Theologie, war aber keineswegs unange­fochten.


Der Eindruck der geschichtlichen Bedingtheit und Relativität der Bibel wie auch der Dogmen und der protestantischen Bekenntnisschriften beunruhigte viele – nicht nur in den Kirchen, in der Bewegung des »Neuluthertums«, sondern auch in den protestantischen Herrscherhäusern. So sorgte beispielsweise der preußische König Friedrich Wilhelm IV. (Regierungszeit 1840–1861), ein überzeugter Pietist, dafür, dass in seinem Reich kein Schüler Ferdinand Christian Baurs, des Begründers der evangelischen Tübinger Schule, einen Lehrstuhl erhielt. Ohnehin hatte sich nach der gescheiterten Revolution von 1848, wie schon angesprochen, der Wind gedreht, und viele evangelische Gläubige kehrten zurück zu einem strengen, buchstäblichen Bibelglauben und zur Unterwerfung unter die »gottgegebene« Obrigkeit.

Es fehlte auch nicht an akademischen Einsprüchen gegen ein allzu simples Anwenden des »geschichtlichen Blicks« auf die Bibel. In einem epochemachenden Vortrag im Jahr 1892 erinnerte der in Halle lehrende Theologe Martin Kähler (1835–1912) daran, dass die Evangelien keine historischen Berichte waren und deshalb auch nicht so gelesen werden dürften. Sie seien bereits Ausdruck des Christusglaubens, und dementsprechend sei es ihr Ziel, den Gekreuzigten und Auferstandenen zu verkündigen, »ihr Zeugnis ist mithin bereits Dogmatik« (5). Wenn man diese Perspektive der Evangelisten nicht beachte und billige, sei man auch nicht in der Lage, ihr Zeugnis zu verstehen:

Der auferstandene Herr ist nicht der historische Jesus hinter den Evangelien, sondern der Christus der apostolischen Predigt, des ganzen Neuen Testamentes. (20)

Deshalb lasse sich, um zur Begegnung mit Christus zu gelangen, nicht historisch hinterfragen, sondern nur gläubig ergreifen, was die Evangelien bezeugten. Der faktenorientierte Blick, der nach dem »historischen Jesus« frage, sei blind für das, was die Evangelien übermitteln wollten, er »verdeckt uns den lebendigen Christus« (4). Als Christ müsse man – wie Paulus (und später Rudolf Bultmann) – nur wissen, »daß Christus gestorben sei für unsere Sünden nach der Schrift und daß er begraben sei und daß er auferstanden sei am dritten Tage nach der Schrift und daß er gesehen worden ist« (16).

Kähler berührte damit einen wunden Punkt. Bis dahin hatte sich die Bibelforschung vor allem um historische Rekonstruktionen, aber kaum um den Verkündigungscharakter der Texte gekümmert. Sie hatte den Hunger der Zeit nach geschichtlichen Fakten bedient, konnte aber zur Bedeutung der Bibel für den Glauben der Gegenwart wenig beitragen. (Bald darauf, im Jahr 1896, bestätigte dies aus entgegengesetzter Perspektive auch der junge liberale Theologe Ernst Troeltsch auf der schon erwähnten Tagung, als er davon sprach, dass im evangelischen Glauben »alles wackelt«. Allerdings sah er nicht nur die Bibel, sondern auch Moral, Glaube und Dogmatik in den Sog des geschichtlichen Denkens geraten: »Der gesammte Supranaturalismus des kirchlichen Systems«, so gibt ein Zeitungsbericht Troeltschs Redebeitrag wieder, »sei so stark ins Wanken gekommen, daß noch heute auch der erleuchtetste Dogmatiker nichts als Stückwerk bieten könne« [1004].)

Kähler dagegen ordnete mit dem Gedanken, dass das Zeugnis der Evangelien »mithin bereits Dogmatik« sei, das Feld zwischen Exegese und Dogmatik neu. Traditionell gehörten die Evangelien (neben anderen Schriften und Dokumenten) zu den Objekten, die von der Dogmatik interpretiert wurden. Nun aber rechnete Kähler die Evangelien selbst zur Dogmatik, zum »Ausdruck des Christusglaubens«. Das war insofern zutreffend, als die Evangelien tatsächlich keine distanzierten Tatsachenberichte waren, die die Ereignisse um Jesus nüchtern und akribisch festhielten. Sie waren selbst Interpretation, Deutung, Zeugnis – also entschieden gläubige Reaktionen auf das Geschehen. Deshalb sollten sie nach Kählers Ansicht auch nicht auf ihre Hintergründe hin untersucht, sondern als Glaubenszeugnisse verstanden und angenommen werden.

Für Kähler lag die Aufgabe der Dogmatik darin, die Geschichte von Jesus aus der Perspektive der Kirche so aus­zulegen, dass ihre (Heils-)Bedeutung für die Gläubigen späterer Zeiten erkennbar wurde. Die historische Bibelforschung konnte das aus sich heraus nicht. Sie konnte sich bestenfalls jenen Bedeutungen annähern, die die Verfasser der Schriften zu ihrer Zeit und für ihre Zeit den Ereignissen gegeben hatten. Indem Kähler nun den Bereich der Dogmatik auf die Evangelien ausweitete, schränkte er nicht nur das Terrain der kritischen Bibelwissenschaft ein, sondern verlagerte die Aufmerksamkeit von der Historizität der Erzählungen auf ihre Aktualität. (Der katholische Philosoph Maurice Blondel nannte dies ein paar Jahre später in seinem ähnlich gelagerten Versuch Geschichte und Dogma den »Mehrwert« der Texte.)

Damit leitete Kähler eine bedeutende Wende in der Debatte um die Bibel ein – und zugleich die allmähliche Abkehr von der Liberalen Theologie. Die Bibelwissenschaft wurde zunehmend als störend bei der gläubigen Aufnahme der biblischen Botschaft eingestuft und die theologische Lektüre als der sinnvollere Weg vorgeschlagen.

Dem stimmte auch Karl Barth (1886–1968) ausdrücklich zu: Die historisch arbeitende Exegese habe zwar ihr Recht bei der Vorbereitung des Textverständnisses, wirklich notwendig sei aber vor allem die theologische Exegese. Wenn er die Wahl hätte zwischen der historisch-kritischen Methode und der traditionellen Inspirationslehre, wonach die Bibel von Gott unmittelbar inspiriert sei, würde er »entschlossen zu der letzteren greifen«. Natürlich habe Paulus, so führte Barth in seinem berühmten Buch zum Römerbrief aus, zu seinen Zeitgenossen geredet. Aber viel wichtiger für die Auslegung seiner Briefe sei doch die Tatsache, »daß er als Prophet und Apostel des Gottesreiches zu allen Menschen aller Zeiten« rede:

Die Unterschiede von einst und jetzt, dort und hier, wollen beachtet sein. Aber der Zweck der Beachtung kann nur die Erkenntnis sein, daß diese Unterschiede im Wesen der Dinge keine Bedeutung haben. (V)

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