Kitabı oku: «Bald alt? Na und!»
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Nora Aschacher: Bald Alt? Na und!
Alle Rechte vorbehalten
© 2015 edition a, Wien
Lektorat: Anatol Vitouch
Cover: Kyungmi Park
Gestaltung: Susanna Barborik
Gesetzt in der Premiéra
Gedruckt in Europa
1 2 3 4 5 — 17 16 15
Print-ISBN: 978-3-99001-115-7
eBook-ISBN 978-3-99001-132-4
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
Inhalt
FREI! UNENDLICH FREI?
Pension: Sackgasse, Freizeitparadies, Neubeginn
Gesucht: eine neue Zeitkultur
AUFGABEN, ALTERSBILDER, ALTERNATIVEN
Aufgaben anstatt aufgeben
Altersbilder bunt wie ein Regenbogen
Auf der Suche nach AlterNativen
KUNST, KREATIVITÄT, KIRSCHBLÜTEN
Die späten Jahre als Kreativitätspool
Kunst ist Schokolade für das Gehirn
Kirschblütenzeit. Tanze Deinen Traum
SIEBENMAL HINFALLEN, ACHTMAL AUFSTEHEN
Wie aus heiterem Himmel
Der Fall nach dem Fall
Gehen kommt vor dem Fallen
Ein Lob dem Schildkrötentempo
FRÜHSTÜCK BEI DORA
Home-Sweet-Home
Alters-WG mit Henry, Hobbit und Paro
Asimo, mon amour
DER GROSSE ABSCHIED HIER UND ANDERSWO
Der sanfte, wilde Freund
Die Erfahrung des Todes ist die äußerste Stille
Im Grunde glaubt niemand an seinen eigenen Tod
ALTERN UNTER PALMEN
Reisende hält man nicht auf
Endstation Demenzresort
Altern, eine globale Herausforderung
Zu Besuch bei den mächtigen Großmüttern
WER FÜRCHTET SICH VOR …
Oldie-Bashing als neuer Volkssport
Spezialvariante: Jung gegen Alt
Annas und Hartwigs immaterielles Erbe
Ein zeitloser Generationenvertrag
FREI! UNENDLICH FREI?
Pension: Sackgasse, Freizeitparadies, Neubeginn
Es geschah beim Anflug auf Bali. Von Windböen geschüttelt, schlingerte das Flugzeug auf und ab. Die Flugbegleiter-Crew verteilte die üblichen Einreiseformulare. An sich keine große Sache. Ich hatte in der Vergangenheit schon hunderte dieser Zettel ausgefüllt. Name, Geburtsdatum, Nationalität, Beruf, Reisezweck. Als ich zur Spalte Profession kam, zögerte ich, denn ich war seit Kurzem in Pension. Aber 'Pensionistin' schreiben ging nicht, denn Pensionist ist kein Beruf, sondern ein Zustand. Ich, deren Leben jahrzehntelang weitgehend von der Arbeit geprägt war, konnte keinen Beruf mehr vorweisen. Kurz überlegte ich, doch noch Journalistin anzugeben, aber in der nächsten Zeile müsste ich meinen Arbeitgeber hinschreiben. Menschen, die in Pension sind, egal ob Lehrerin, Dachdecker, Laborleiterin, Content Manager, können keine Arbeitgeber nennen. Von den Turbulenzen bei der Landung habe ich nahezu nichts mitbekommen, weil mir zum ersten Mal seit meiner Pensionierung vor acht Monaten radikal bewusst wurde, dass ich nicht nur auf Bali sondern im Niemandsland des Ruhestandes gelandet war. Wieder zu Hause erwartete mich im Postfach der Ausweis, der meine neue Identität bestätigte. Ich war also jetzt eine gesetzlich anerkannte Pensionistin. Im Nachbarland würde man Rentnerin zu mir sagen, ein ebenso dumpfes, niederdrückendes Wort, mit dem einzigen Unterschied, dass Rentner ein Palindrom ist. Natürlich hatte ich einiges über Ältere gelesen, die aufs Abstellgleis geschoben werden, im Nichtstun-Nirwana enden oder vom Pensionsschock getroffen werden. Aber Lesen und Erleben sind unterschiedliche Erfahrungskonzepte, wie schon eine Anekdote über einen buddhistischen Meister erzählt: „Er las viel über die Sterne und wurde Astronom. Er las viel über Geschichte und wurde Lehrer. Er las viel über das Schwimmen und ertrank.“ Ich begann also, die Menschheit aus meinem neuen Blickwinkel zu betrachten. Wie ergeht es meinesgleichen, wie erleben 60-, 65-, 75-Jährige ihr Rentner-Dasein? Ich habe eine Immobilienhändlerin getroffen, die ihren Job voller Lust und Leidenschaft bis zum 80. Lebensjahr ausübte, einen Rechtsanwalt, der sich höchst widerwillig mit 67 von seiner Kanzlei trennte, eine Sekretärin, die einfach nur froh war, den immer rasanteren Arbeitsbedingungen entkommen zu sein, eine Biologin, die in der Pension Menschen im Taxi durch die Stadt fährt, eine Beamtin, die sich transzendentaler Meditation und Aromatherapie zuwandte, einen Manager, der zum Alkoholiker wurde, eine Schmuckkünstlerin, die auch noch mit 80 in ihrem Atelier steht und Metall bearbeitet. Aber es waren speziell drei Menschen, die mir mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Lebensentwürfen die Bandbreite eines Daseins nach einem abgeschlossenen Arbeitsleben bewusst machten.
Jan ist einer davon. Der 66-jährige Pole konnte seinen letzten Arbeitstag nicht erwarten. Über 30 Jahre lang ist er in die Grube eingefahren, und es waren die letzten beiden Jahre vor der Pensionierung, die ihm körperlich schwer zu schaffen machten, erzählt mir seine Schwester Elzbieta, die in Wien verheiratet ist und eine Reinigungsfirma betreibt. Jan meldete sich mehrmals krank, aber dadurch schob sich sein Pensionsantritt immer wieder aufs Neue hinaus, denn im Kohlebergwerk galt als Regel, dass jeder Krankenstand eingearbeitet werden musste und hinten angehängt wurde. Nicht nur einmal ging Jan mit schwerer Bronchitis und Fieber zur Arbeit, wusste er doch, dass seine Krankheit ihn noch weiter vom ersehnten Pensionsantritt entfernen würde. Dann war es endlich soweit, und Jan gab ein Fest für ein paar seiner Kumpels und seine Verwandten.
In den ersten Monaten genügte es ihm, ohne Helm und Grubenlampe unter freiem Himmel hin und her zu gehen und sich bei Regen nackt in den Garten zu stellen, damit „der Kohlendreck raus kann.“ Danach wurde er unruhig, wusste nichts mit sich anzufangen, litt unter gesundheitlichen Rückfällen und war häufig beim Arzt. Es dauerte einige Zeit, bis er zu einem neuen Lebensrhythmus fand. Er hilft nun seiner Frau bei schweren Gartenarbeiten, spielt mit ehemaligen Kollegen Karten, bessert Schäden am Haus aus, übernimmt kleine Handwerksarbeiten.
Heinz kenne ich schon lange. Der heute 72-Jährige war als freiberuflicher Industriedesigner immer selbstständig gewesen. Mal gab es Aufträge, dann war wieder Flaute. Ein ewiges Auf und Ab ohne die Sicherheit eines monatlichen Einkommens, dafür aber mit freier Zeit- und Arbeitseinteilung. Als Heinz älter wurde, blieben die Aufträge mehr und mehr aus, bis er letztendlich keine Angebote mehr schreiben musste. Der Pensionsantritt bedeutete für ihn Entspannung, denn seither kommt regelmäßig jeden Monat Geld aufs Konto, auch wenn es nur eine magere gesetzliche Mindestrente ist, aber zum Glück liegt die Wohnungsmiete im unteren Bereich. An Heinz’ Lebensentwurf hat sich vor und nach der Pensionierung nicht allzu viel geändert. Er knabbert weiterhin sein Erspartes an, hält Ausschau nach Sonderangeboten, ist ausreichend beschäftigt, Gemüse und Obst als Vorräte anzulegen und die eigenen Kleidungsstücke zu reparieren. Das hat er von seiner Frau gelernt, die vor zehn Jahren gestorben ist. Theater, Konzert, Essen gehen oder Zeitungsabonnements stehen nicht am Programm. Nachrichten entnimmt er dem Internet oder den TV-Informations-Sendungen. Das Ausleihen von DVDs lässt ihn vergessen, dass er vor zehn, fünfzehn Jahren regelmäßig ins Kino gegangen ist. Eine Leidenschaft gönnt sich Heinz, die er sich durch zusätzliche Sparmaßnahmen und kleine Zusatzjobs finanziert, wie Hunde und Wohnungen betreuen. Einmal im Jahr ist er mit seinem fürs Campen eingerichteten uralten Kombi fünf Wochen in Frankreich unterwegs.
Martha, 61, lernte ich bei einem Seminar über die „Potenziale des Alters“ kennen. Sie erzählte mir, sie habe sich für einen „Golden Handshake“ entschieden. Von Seiten der Personalabteilung wurde ihr mit 58 nahegelegt, in Pension zu gehen, nicht weil die Gesundheitsmanagerin schlechte Ergebnisse lieferte, sondern weil Einsparungen gefragt waren und ältere Arbeitnehmer als Erste auf der Liste standen. Martha, die sich selbst als umtriebig beschreibt, entwarf sofort Zukunftspläne. Sie wollte nicht untätig herumsitzen, musste sich aber ein paar Monate später eingestehen, dass sie es sich leichter vorgestellt hatte, ihr Können und Wissen als Privatperson und nicht mehr als Vertreterin einer angesehenen Organisation anzubringen.
Für die einen ist die Pensionierung der große, heiß ersehnte Jackpot, für die anderen der Fall ins Nichts. Jeder von uns wird sich vorstellen können, dass Jan froh ist, der Kohlengrube halbwegs heil entronnen zu sein. Bei Heinz gibt es kein wirklich dra matisches Vorher-Nachher-Gefälle. Anders bei Martha. Aufgewachsen in einer Zeit und einem Umfeld, wo für Frauen nur Kinder, Küche, Kirche vorgesehen waren, bedeutete der Job für sie finanzielle Unabhängigkeit, war ein Symbol für Selbstständigkeit und gab ihr die Genugtuung, es als Frau in eine höhere Position geschafft zu haben, auch wenn sie dafür doppelt so viel wie ihre Kollegen arbeiten musste. Sie erlebt die erste Zeit der Pensionierung als ambivalente Periode, wie die meisten unserer Altersgruppe mit einem zwar anstrengenden aber qualifizierten Job. Plötzlich kein Termindruck, keine langatmigen Sitzungen, keine zeitfressende Mailkorrespondenz. Sie kann tun und lassen, was ihr gefällt, um zehn Uhr Tennis spielen, nachmittags Freunde treffen, ins Museum gehen, zur Tulpenblüte nach Holland fahren. Nach etwa einem Jahr zeigt der Honeymoon Risse. Marthas Interesse an Sport, Kultur und Reisen weicht einer latenten Unzufriedenheit und Übellaunigkeit.
Oft durchleiden Arbeitsbesessene in den ersten Urlaubswochen ähnliche Krisen. Sie verkraften den Entzug ihrer Droge nicht, werden gereizt und missmutig. Trotz Postkartenlandschaft mit Sonne, Palmen, Strand, Meer, trotz köstlicher Speisen fehlt ihnen ihre heimliche Geliebte, die Arbeit. Workaholics können sich in der Sicherheit wiegen, nach der Zeit des Entzugs, also nach dem Urlaub, wieder ungehinderten Zugang zur Droge zu bekommen.
Diese Perspektive bleibt Martha verwehrt. Ihr neuer Stress heißt Unterforderung. Sie muss zugeben, dass ihr langweilig ist, es irritiert sie, dass niemand nach ihr verlangt, niemand einen Rat oder einen Tipp braucht. Alle scheinen ausgezeichnet ohne sie zurecht zu kommen. Sie, die früher eine hohe Position im Spitalsmanagement hatte, erlebt nun, was Machtlosigkeit und Ohnmacht bedeuten. Sie fühle sich, erklärte sie uns im Verlauf der Tagung, wie eine Patientin, die vom Krankenzimmer aus die Geschäftigkeit und Zielstrebigkeit der anderen auf der Straße beobachte. Noch vor Kurzem habe sie selbst zu den anderen gehört. Jetzt sei sie im Out, am Abstellgleis. Ihr vorgesehener Nachfolger, der ihren Abgang nicht erwarten konnte, hatte schon Monate vor ihrer Pension wichtige Informationen und Kontakte an sich gerissen und danach ihre vertrauten Mitarbeiterinnen in eine andere Abteilung versetzen lassen. An sie gerichtete Briefe wurden ihr nicht nachgeschickt. Was Martha besonders hart traf: Am Tag nach der Pensionierung war ihre berufliche Mail-Adresse gelöscht worden, als hätte sie nie existiert. Gedanken, die Martha nicht mehr losließen, kennen viele von uns: Ich habe keinen Wert. Ich gehe niemandem ab. Wenn ein Stein ins Wasser fällt, zeigen sich kurz Kreise auf der Wasseroberfläche, der Stein sinkt zu Boden, danach ist die Wasseroberfläche glatt und unberührt wie zuvor. Der Stein bin ich.
Diese subjektiven Empfindungen sind keineswegs Fantasiegespinste. Denn wer erst einmal aus dem beruflichen Umfeld weg ist, der zählt tatsächlich in der Regel nicht mehr. Experten empfehlen daher, ein bis zwei Jahre (manche sprechen sogar von fünf bis zehn Jahren) vor dem Ablaufdatum im Arbeitsleben Vorsorge zu treffen, sich außerhalb des beruflichen Umfeldes ein soziales Netz aufzubauen und Interessen zu stärken, die sich später im Freizeit-Paradies ausbauen lassen. Denn irgendwann ist die Wohnung neu ausgemalt, das Eigenheim renoviert, sind alle Bücher vom Nachttisch ausgelesen, wurden sämtliche Bekannte und Freunde besucht und die ,Wollte ich immer schon‘-Wanderungen und Reisen sind unternommen. Allmählich schleichen sich bei vielen von uns Unruhe und Missmut in das entpflichtete Leben ein, und der Satz „Das kann doch nicht alles gewesen sein“ wird zu einem konstanten Hintergrundgeräusch. Wir sagen uns: „Ich muss mir irgendetwas suchen, denn nur so in den Tag hinein zu leben, bekommt mir gar nicht, das ist so unbefriedigend.“ Aber womit anfangen, was tun, welchen Weg einschlagen?
Der Schweizer Ethnologe Mario Erdheim bezeichnete die Adoleszenz als unruhige Phase des Übergangs, mit der Chance, die Vergangenheit zu hinterfragen und neue Perspektiven für die Zukunft zu gewinnen. Eine Lebensphase also, in der ein radikaler Bedeutungswandel vollzogen wird, in der Arbeit, Beziehungen, Sexualität mit neuen Bedeutungen belegt werden müssen. Ist nicht der Übergang in den sogenannten Ruhestand eine ebenso bedeutende, unruhige Phase, in der wir die Chance bekommen, uns und unser Leben neu zu definieren? Nicht im Sinne eines hormonellen Ausnahmezustandes, sondern in der Reifung der eigenen Persönlichkeit. Nachdem wir aus all dem herausgefallen sind, was uns teilweise kaputt gemacht hat – Konkurrenz, Hierarchie, Konsum, durchstrukturierter Alltag, Geschwindigkeitswettbewerb – könnten wir da nicht neue Wege suchen und finden, die nicht nur individuell lustvoll und interessant sind, sondern auch Wegweiser-Funktion für andere Generationen haben? Wenn gesellschaftliche Zwänge schwinden, öffnen sich andere Sichtweisen und Handlungsmöglichkeiten. Bei vielen von uns kristallisieren sich gerade in dieser Periode Lebensfragen heraus, die sich auch Jüngere stellen, mit dem einzigen Unterschied, dass sich im Prozess des Alterns diese Lebensfragen radikaler zuspitzen: Was möchte ich wirklich? Wie kann ich meine Erfahrungen und mein Potenzial nutzen? Was könnte ich Sinnvolles tun? Wie kann ich mein persönliches Wachstum weiterentwickeln? Wodurch kann ich Freude in mein Leben bringen?
Berechtigte Fragen, denn immerhin haben wir Älteren gut 20,30 Jahre vor uns, die es zu gestalten, zu leben und nicht bloß zu verleben gilt. Bisher ging man davon aus, wie lange jemand gelebt hat. Neue Konzepte sprechen von der verbleibenden Lebenszeit, der Lebenserwartung, also wie lange jemand noch leben kann. Diesen „Entwurf in die Zukunft“ anzudenken, wie die Schweizer Psychotherapeutin und Autorin Verena Kast es nennt, ist für unser Selbstwertgefühl von großer Bedeutung. Denn eines ist sicher: Auch wir Alten haben – bis wir sterben – eine Zukunft, und die wird in Zukunft immer länger dauern. Lasst uns also in dieser verbleibenden Zeit zu Expertinnen und Experten von Lebensentwürfen mit Zukunftscharakter werden. Erforschen wir Wege zu einem neuen, selbstbestimmten, tätigen Leben in voller Zeitautonomie, geprägt durch Selbstmotivation – abseits von Erwerbsarbeit.
Gesucht: eine neue Zeitkultur
Wir aus dem Arbeitsprozess Ausgegliederte verfügen über eine der wertvollsten Ressourcen, die Hans Magnus Enzensberger einmal als „das wichtigste aller Luxusgüter“ bezeichnet hat: die ZEIT.
Wir haben Zeit. Nicht alle Zeit der Welt, aber im Vergleich zu früheren Generationen steht uns ein großzügig bemessenes Zeitkonto zur Verfügung. Unsere Kinder und Enkelkinder dürfen sich auf ein noch längeres Leben einstellen. Ich habe absichtlich das Wort „dürfen“ gewählt, denn diese verlängerte Lebensdauer ist ein in der menschlichen Evolution einmaliges Geschenk. Der emeritierte Soziologe Peter Gross bezeichnet das Wachstum der Lebenserwartung als „die größte zivilisatorische Errungenschaft der letzten Jahrhunderte.“ Es liegt ausschließlich an uns, mit welcher Einstellung wir dieses Geschenk annehmen. Werfen wir es in den Restmüllcontainer, lassen wir die Kostbarkeit im hintersten Eck einer Lade verschwinden, oder freuen wir uns über dieses neue Glück, das uns zu Teil wird, genießen wir die Farben und den Duft unseres Lebensherbstes?
Zunächst gilt es, den neuen zeitlosen Raum zu erkunden. Haben wir nicht früher immer geklagt, keine Zeit zu haben, um Freunde zu treffen, Bücher zu lesen, Wanderungen zu machen, eine Sprache zu lernen? Jetzt steht uns diese Zeit zur Verfügung, und die Frage ist, wie gehen wir mit dieser von uns selbstbestimmten Zeit um? Schlagen wir sie tot, rennen wir ihr hinterher, nutzen wir sie, drehen wir sie zurück, verlieren wir sie, sind wir ihr voraus, gewinnen wir sie, halten wir sie an, nehmen wir sie, gehen wir mit ihr, hinken wir ihr hinterher, halten wir Schritt mit ihr, verschwenden wir sie, brauchen wir sie? Die wenigsten von uns können auf Erfahrungen zurückgreifen, ein Zeitkontingent nach eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu gestalten. Kindergarten, Schule, Lehre, Masterstudium, Job, alles zeitlich durchreglementiert, so dass kaum Raum bleibt, Atem zu holen. Jahrzehntelang waren wir gewohnt, die Gesetzmäßigkeiten einer Arbeitskultur befolgen zu müssen, in der Leistung nach den im Büro oder in der Fabrik verbrachten Stunden gemessen wurde, in der die meisten von uns in einen Acht-Stunden-Tag eingepresst waren, ohne viel mitreden zu können, wann sie welche Arbeiten zu erledigen hatten. Selbstbestimmte Zeit am Arbeitsplatz ist ja reiner Luxus. Nach der Pensionierung finden wir uns in einer Lebensphase mit neuer Zeitkultur wieder, die eine ungewohnte Fülle an Freiräumen bietet. Wir stehen vor der einzigartigen Situation, nicht nur über selbstbestimmte Zeit zu verfügen, sondern diese Zeit mit selbstbestimmten Wünschen, Träumen, Aktivitäten gestalten zu können – vorausgesetzt wir sind halbwegs gesund, müssen nicht einen chronisch kranken Angehörigen pflegen und bekommen eine Pension, die eine Realisierung von Wünschen möglich macht. Ist doch wunderbar, oder? Warum sind dann nicht alle über 60-Jährigen, einschließlich mir, von Glück durchtränkte Geschöpfe, frage ich mich, und mir fällt dazu eine Szene ein, die ich in Südindien beim Besuch eines Elefantendorfes mit der Kamera aufgenommen habe. Ich sehe einen jungen Elefanten, der mit dem rechten Bein an einem Pflock angebunden ist, vor ihm ein paar Äste mit grünen Blättern, hinter ihm ein nackter Baumstamm. Der kleine Elefant bewegt sich unruhig etwas nach rechts, steigt mit einem Bein über den Baumstamm, kommt aber nicht weit, wendet sich zur Mitte, dann wieder nach links. Mehr als maximal ein Meter Bewegungsfreiheit nach vorne ist nicht drinnen. Und dann wieder nach rechts, ein Schritt vor, ein Schritt zurück. Weben nennt sich diese Verhaltensstörung von Elefanten in Gefangenschaft, ein Bewegungsmuster, bei dem der Kleine rhythmisch mit dem Körper schaukelt und den Rüssel hin und her schwingt. Von außen gesehen ein jämmerliches Dasein inmitten eines grünen Baumparadieses. Aus der Perspektive des jungen Elefanten gehört das Angebundensein zum Bestandteil seines Lebens, er kennt nichts anderes.
Ich frage mich, sind wir, gefangen in unserem Arbeits- und Leistungs-Zeitkorsett, dem Elefanten nicht sehr ähnlich? Ist zu erwarten, dass der Elefant im Alter begierig in die Wildnis aufbrechen und große Distanzen zurücklegen wird? Wohl kaum. Wahrscheinlich wird er weiterhin seinen nun imaginären Halbkreis einhalten, weil er immer noch die Fesseln spürt, auch wenn sie nur mehr immateriell vorhanden sind. Wie sieht es mit uns aus, die wir nun im vollen Besitz der Goldwährung Zeit und Herrscher im Königreich Zeitautonomie sind? Einige von uns gleiten langsam aber beständig in den Kokon ,Zeit totschlagen‘, entpuppen sich keineswegs als bemerkenswerte Schmetterlinge, liefern auch keine Seide sondern sitzen täglich stundenlang vor dem Fernsehgerät. Andere leben, wie es so schön heißt, in den Tag hinein, könnten als Protagonist in Lessings „Lob der Faulheit“ auftreten, wieder andere gestalten ihren Alltag ausschließlich nach ihren eigenen, individuellen Bedürfnissen, wie etwa Martin, 68.
Der ehemalige Filialleiter macht seit seiner Pensionierung vor drei Jahren jeden Freitag Eintragungen in seinen Terminkalender, um die kommende Woche zu strukturieren: zweimal Mittagessen mit Freunden, einmal Fitnesscenter, ein Bridge-Nachmittag, ein Abend im Kasino, die restliche Zeit wird mit der ebenfalls pensionierten Partnerin verbracht, die er vor Kurzem kennengelernt hat. Vorgesehen sind weiters pro Jahr zwei Wochen Skifahren, zwei Wochen Wandern und drei Städtereisen. Im Gegensatz zu Alleinlebenden, die den zeitlosen Raum in völliger Autonomie einteilen können, sehen sich Paare vor die Aufgabe gestellt, zwei oft unterschiedliche Rhythmen und Interessen langfristig zu koordinieren.
Ein Beispiel dafür sind meine Freunde Katharina und Bernhard. Beide lieben gutes Essen und Restaurantbesuche. Katharina ist zusätzlich noch an Konzerten, Theater, Lesungen interessiert. Sie hat es sich längst abgewöhnt, Bernhard mitzunehmen, denn Theaterfestivals, Ausstellungen, Vernissagen sind nicht sein Bereich. Dafür erwartet er Katharina zu Hause mit einer Gastro-Spezialität. Zu reden und zu diskutieren gibt es viel, und dann bleibt ja noch die Freude am Körper des Anderen. Wir Älteren lernen zu akzeptieren, dass der Partner, die Partnerin andere Interessen haben darf als wir, und wir machen daraus keinen Beziehungskrieg, denn wir spüren, dass unsere gemeinsame Zeit zu kostbar für Machtkämpfe und Interessenkonflikte ist. Das Einzige was zählt ist, dass der Andere existiert, und gemeinsam kann es ein schöner Abend werden. Natürlich auch nicht immer. Das unterscheidet uns dann nicht so elementar von jüngeren Beziehungen.
Es geht nun nicht darum, die unterschiedlichen Lebensentwürfe zu bewerten und zu beurteilen. Es zeigt sich nur, dass diejenigen unter uns, die das Genussmodell vorziehen, keinerlei Anlass zur Klage haben. Für sie steht alles bereit, immer vorausgesetzt, ihre Pension ist ausreichend: Es gibt Pensionistenclubs, Seniorenrabatte für Theater und Kino, speziell konzipierte Reiseangebote, sie können lebenslang einfach spazieren gehen, nachmittägliche Kaffee- und Kuchensessions abhalten, Heurigenabende verbringen, Wellness-Hotels aufsuchen, Kreuzfahrten unternehmen. Noch funktioniert dieses Modell. Die Frage ist: Kann das Freizeit-Paradies eine Vision für die Zukunft sein? Möchte ich zwanzig, dreißig Jahre auf diese Art und Weise verbringen? Wir dürfen nicht vergessen, unser aller Lebenserwartung steigt. Wir werden nicht nur immer älter, wir werden gesünder älter als die Generationen vor uns. Derzeit gilt 40 als das neue 30,73 als das neue 65, und 80 ist noch lange nicht 80. Ein Kind, das heute auf die Welt kommt, hat die Chance, älter als hundert Jahre zu werden, vorausgesetzt sein Lebensweg wird nicht durch einen tödlichen Unfall oder eine schwere Krankheit vorzeitig beendet.
Ich glaube, wir brauchen als Ergänzung zu den drei klassischen „L“: Laufen, Lieben, Lachen, die drei „A“: Aufgaben, Altersbilder und Alternativen.