Kitabı oku: «Wer wir wären», sayfa 3

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Als ich die Badezimmertür öffnete, stand Martha in einem schwarz glänzenden Nachthemd, das ihr gerade so über die Hüften reichte, im Flur, mit dem Rücken lässig ans hölzerne Geländer gelehnt. Fast hätte ich darüber grinsen müssen, dass sie sogar in der Nacht schwarz zu tragen pflegte, aber dann legte sich mein Blick auf ihre langen, dünnen Beine, und diese Ansicht verjagte rasch alle aufkeimende Komik.

»Hallo Martha«, sagte ich so lässig wie möglich, »ich hoffe, ich habe nicht zu lange das Bad besetzt?«

»Wo schläfst du?«, meinte sie, ohne auf meine Frage einzugehen.

»Na, bei Klaus«, sagte ich. »Warum fragst du?«

»Und mit wem?«

»Wie bitte?«

»Mit wem du schläfst, würde ich gerne wissen.«

»Äh, sorry, wie meinst du das?«

»Schnelldenker bist du jedenfalls keiner«, sagte sie trocken und fügte nach einer kurzen Pause, in der ich die Schultern angehoben und wieder fallen gelassen hatte, hinzu: »Also gut, auf deinen Intellekt heruntergebrochen: Du darfst mich ficken.«

Okay, das war ein Witz. War es das? Dann hätte sie doch lachen müssen. Aber sie lachte nicht. Ich verschluckte mich bei dem Versuch, etwas zu sagen und musste mehrmals husten.

»Du hast schon richtig gehört«, sagte sie. »Ein Männertraum, nicht wahr? Mit einer Frau zu schlafen, ohne sie mühsam anbraten und auf zehn Getränke einladen zu müssen.«

»… also, das ist …« Ich hatte mich immer noch nicht ganz gefangen und wischte mir mit dem Handrücken über den Mund. »Danke, aber …«

»Nichts zu danken«, sagte sie. »Ich könnte es mir natürlich auch selbst besorgen, aber warum sollte ich mich anstrengen?«

Ich stellte mir vor, wie es wäre, mit Martha zu schlafen, und ich sah nur schwarzes Leder, schwarzen Latex, schwarze Peitschen, die knallend auf meinen Hintern niederfuhren, schwarze Fesseln und Stöcke und Schnüre und Masken und Vibratoren. So schön der Körper dieser Frau auch anzusehen war, ich verspürte keinerlei Drang, mich ihr zu nähern. Und das verwirrte und überraschte mich. Und ja, es ärgerte mich. War es ihr Geruch? Konnte ich sie, wie man so schön sagte, nicht riechen? Trotzdem: Welcher Mann würde solch ein Angebot abschlagen? Man musste verrückt sein. Sex ist Sex, da braucht man nicht mehr hineindichten, als vorhanden ist. Und man muss einen Menschen bekanntlich nicht mögen, um mit ihm zu schlafen. Da sind doch nur zwei Körper, die passen immer, zumindest auf die eine oder andere Art, ineinander, egal ob man sich sympathisch findet oder nicht.

»Ich … ich weiß dein Angebot echt zu schätzen«, hörte ich mich sagen und dachte mir, dass diese Worte furchtbar klangen und absolut falsch waren und doch gesagt werden mussten, »aber ich möchte lieber nicht. Und das hat bitte nichts mit dir zu tun«, fügte ich entschuldigend hinzu. »Du bist echt …«

»Makellos«, sagte sie, »ich weiß.«

Sie bewegte langsam ihre Arme in die Höhe und streckte sich, wodurch ihr Nachthemd sich um einige Zentimeter anhob und mir die Sicht auf ihren Slip ermöglichte. Ich fühlte mich wie ein Darsteller in einem billigen Softporno. Verdammt, sagte ich mir, was bist du nur für ein Weichei, was für ein Mann? Das kann doch nicht wahr sein! Nun wäre wohl der richtige Augenblick gewesen (und es hätte ja auch im Porno-Skript gestanden), zu ihr hinzugehen und das Nachthemd langsam nach oben über ihren Kopf zu streifen, wodurch ihre Nippel (die natürlich kurz vor Drehbeginn mit Eiswürfeln behandelt worden wären) steif sich meinem Mund entgegengestreckt hätten und so weiter und so bla bla bla.

Sie ließ ihre Arme wieder nach unten fallen. Wir schauten uns ein paar Sekunden stillschweigend an, und da sah ich diesen eigenartigen Blick in ihren Augen. Ich kannte ihn und spürte deutlich, dass ich meine Meinung nicht ändern würde, denn mit einem Mal erinnerte ich mich: Menschen, die wissen, dass sie schön sind, und das auch noch zur Schau stellen, hatte ich nie anziehend gefunden. Aber darum ging es hier nicht. Ich denke, ich wollte nicht von ihr benutzt werden wie ein Dildo, das hatte ich bereits hinter mir, ebenso die Erfahrung, jemand anderen zu benutzen. Es war schon okay, aber es gab mir nichts; ein Objekt zu sein, das hatte für mich nichts mit wahrer Lust zu tun, und daher schüttelte ich den Kopf.

»Also doch ein Homo«, sagte sie.

»Ich?«, fragte ich, als ob sich noch jemand im Flur befunden hätte. »Nein, bin ich nicht.« Sofern ich ihren Gesichtsausdruck richtig interpretiert hatte, wirkte sie durch ihre Abschätzigkeit hindurch auf einmal verletzt; ihre Augen hatten den Panzer verloren, da schien, so glaubte ich, für einen kurzen Augenblick ein Funken der echten Martha zu mir hindurch. So wie sie nun dastand, mit leicht nach vorne gebeugtem Oberkörper und mit den Augen nach etwas suchend, das ihr Halt geben könnte, hätte man sie fast liebenswert finden können.

»Da ich annehme, dass du kein strenger Katholik bist«, sagte sie und setzte wieder ihre undurchdringliche Miene auf, »kann ich dir mit absoluter Sicherheit sagen, dass du schwul bist.«

»Wenn es dir damit besser geht«, sagte ich, »dann nenn mich halt schwul. Passiert mir nicht zum ersten Mal.«

»Sag ich doch!« Mit diesen Worten ging sie ins angrenzende Zimmer und schlug die Tür zu, sodass ein lautes Krachen durch die Luft des Flurs klang. Klaus erschien im gegenüberliegenden Türrahmen und fragte, ob etwas passiert sei. Nein, sagte ich, nichts passiert, mir sei bloß der Türgriff ausgerutscht.

Wir lagen nebeneinander, er in seinem Bett, ich am Boden auf einer für meinen Geschmack zu weichen Matratze. Wenn ich den Kopf ein wenig nach hinten drehte und meinen Hals leicht überdehnte, konnte ich die schmale Mondsichel durchs Fenster erkennen, die sich wie ein Stempel aus Licht mit scharf gezeichnetem Rand von der ihn umgebenden Dunkelheit abhob. Ich fragte mich, ob am Mond jemals Menschen leben würden und, wenn ja, welche Gesetze es dort gäbe oder ob es, wenn es einmal so weit wäre, im Zweifel gar keine mehr bräuchte. Wer wohl das erste Kunstwerk auf dem Mond erschaffen würde? Ob es bereits irgendwo dort oben existierte, für niemanden sichtbar? Der erste Schritt auf der Mondoberfläche von Neil Armstrong: War das bereits ein Kunstwerk oder nur ein Zeitdokument? Müsste es konserviert werden oder übernähme dies ohnehin die fehlende Atmosphäre? Ist dieser Abdruck, der zu einem bleibenden Eindruck wurde, denn überhaupt noch dort oben – oder dort unten oder dort drüben oder besser gesagt: dort draußen? Die Andeutung von Marthas Schamlippen glitt langsam über die Mondsichel, meine Augenlider wurden schwer und ich merkte, dass ich nicht gegen diese Fantasie, die die Zügel in die Hand genommen hatte, ankämpfen konnte und es – wenn ich es recht bedachte – nun auch nicht mehr wollte. Was hatte mich vorhin nur geritten?

»Bist du noch wach?«, fragte Klaus im Flüsterton.

Ein Zucken durchfuhr meinen Körper. In meiner Vorstellung war der Mond zu einem dunklen Bett geworden, nein, es war nicht dunkel, sondern schwarz glänzend, und Martha lag darauf in einem weißen, durchsichtigen Kleid.

»Ja«, sagte ich. »Bin noch wach.«

»An was denkst du?«

»Ich versuche an nichts zu denken«, log ich, »aber das geht nicht.«

»Es geht«, sagte Klaus, »nur darf man sich dabei nicht anstrengen.«

»Und wenn sich … wenn sich irgendwelche Bilder vors innere Auge schieben?«, fragte ich.

»Dann musst du sie wohl oder übel zulassen«, sagte er. »Damit sie wieder verschwinden können, verstehst du?«

»Zulassen«, sagte ich und dachte an die Fußstapfen von Neil Armstrong und ans erste Kunstwerk im All, das es meines Erachtens dort oben noch nicht gab, und dass wir das All auf keinen Fall allein den Wissenschaftlern und dem Militär überlassen dürfen. Aber was weiß ich schon, sagte ich mir, ich müsste es googeln, aber dazu müsste ich das Handy einschalten, und es würde, auch wenn ich es runterdimmen würde, weh tun in meinen Augen. »Wenn du unendlich viel Geld hättest«, fragte ich Klaus, um auf andere Gedanken zu kommen, »also egal wie viel, welches Kunstwerk würdest du dann kaufen?«

Klaus antwortete lange nicht, sodass ich annahm, er wäre eingeschlafen.

»Wenn ich alles Geld der Welt hätte«, sagte er in die Stille und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, »dann würde ich …« Er hielt inne und meinte: »Aber ich glaube, das geht nicht. Nicht um alles Geld der Welt. Die sind meines Wissens im Staatsbesitz und somit unverkäuflich.«

»Wovon redest du?«

»Ach, entschuldige, ich habe mir nur gedacht, also wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich Folgendes tun: Als erstes würde ich in den Louvre gehen und die Mona Lisa kaufen, ich würde sie in einem Bunker verstecken, du wärst natürlich für die Archivierung und Konservierung zuständig.«

»Natürlich«, sagte ich. »Und warum, wenn ich fragen darf, würdest du das machen wollen?«

»Weil mich diese Kunst-Touristenströme ankotzen, die Leute, die durchs Museum rennen, nicht links und nicht rechts schauen, sondern nur, wo sich das Schildchen mit dem Pfeil zur Mona Lisa befindet, um der Weganweisung blind zu folgen. Ebenso würde ich den Kuss vom Oberen Belvedere entfernen und in den Bunker verfrachten. Im Kunsthistorischen Museum würde ich den Großen Turmbau zu Babel abhängen. In jedes namhafte Museum dieser Welt würde ich reisen, um ähnlich zu verfahren. Und zu guter Letzt in den Vatikan, um die Fresken der Sixtinischen Kapelle hinter einem gut gespannten, undurchsichtigen Tuch zu verstecken, damit die Menschen, die dort unbedingt hinpilgern wollen, sich wieder erinnern, dass sie nicht an diesen Ort müssen, um aus sich hinaus-, sondern um in sich hineinzugehen.«

»Du meinst, um zu beten?«, fragte ich. »Aber das kann man doch überall.«

»Das stimmt«, meinte Klaus, »aber erzähl das mal denen im Vatikan. Kunstwerke sehen und machen, das kann man auch überall, und trotzdem strömen die Leute wie Fremdgesteuerte in die Museen, um dieses eine Gemälde zu sehen, als hätten sie sonst die Stadt nicht wirklich erfasst, als kämen sie sonst mit leeren Händen oder leeren Augen nach Hause.«

»Ich weiß nicht, ob ich dich richtig verstanden habe«, sagte ich, »du willst also nicht, dass die Menschen ins Museum gehen?«

»Ganz im Gegenteil«, sagte er, »nur sollen sie dorthin, um die Kunstwerke nicht nur anzuschauen, sondern vor allem zu sehen, versteht du, was ich meine? Sie sollen mit offenen Augen durch die Ausstellungen schlendern, die Werke unbekannter Künstlerinnen und Künstler entdecken, anstatt in diese eine Ebene zu pilgern und in diesen einen schummrig beleuchteten Raum, um eine Stunde an diese eine Wand zu starren, an der das sogenannte Meisterwerk hängt.«

»Du meinst, wie auf einen Berg zu gehen, nur damit man den Ausblick vom Gipfel genießen kann, nein, nicht genießen, sondern fotografieren, aber auf dem Weg hinauf und hinunter sieht man nichts, keine Tiere, keinen Grashalm, keine Blume, keinen Stein?«

Klaus richtete sich auf, nickte und sagte: »Amen.«

Wir lachten und sprachen anschließend noch eine gefühlte Stunde über den neuesten Marvel-Film, den wir am Vortag in einem großen, hässlich gestalteten Kino in Villach angeschaut hatten. Ich sagte, dass ich mir wünschte, es gäbe einen Heldenfilm, in dem der Bösewicht gewinnen würde, ich meine wirklich gewinnen, nicht nur scheinbar in einem ersten Teil. Es sollte ein hoffnungsvoller Film sein, wie alle anderen dieser Art, damit die Zuschauer sich in Sicherheit fühlen und mitfiebern mit den großen, tapferen Helden, die bestimmt – und warum auch nicht? – in letzter Sekunde gewinnen würden, denn so war es immer und so wird es immer sein, nicht wahr? Aber dann, ganz zum Schluss, käme es anders, und die Helden, siehe da, würden verlieren, sie würden alle nach heroischen Kämpfen getötet werden oder sie töteten sich selbst, und das Böse würde gewinnen. Und es gäbe keine Auflösung nach dem Abspann, keinen Hoffnungsschimmer, der dem Publikum mit nach Hause gegeben würde, damit sie sich denken könnten: Ach, da gibt es dann bestimmt einen zweiten Teil, wo dann das Gute gewinnt. Nein, hier wäre wirklich das Allerschlimmste eingetroffen. Es ginge bergab ins Dunkle und kein Mensch, kein Held und keine Heldin, würde zur Rettung erscheinen; es wäre vorbei, wir wären am Ende der Erzählung angelangt und niemand würde jemals zurückkehren, die Zeit könnte nicht zurückgedreht werden, es gäbe kein alternatives Ende, kein paralleles Universum, wo der Kampf zu einem positiven Ende führen würde. Es wäre der absolute, fatale Schlusspunkt. Die Herzen wären im Keller, und dort blieben sie, weil niemand käme, um die Wunden zu heilen, und weil niemand mehr da wäre, um geheilt zu werden. Da wäre nur noch Abgrund, Angst und Schrecken. Und so, sagte ich, mit diesem Gefühl würde ich das Publikum gerne den Kinosaal verlassen sehen. Mit dem Wissen, dass es keine Fortsetzung gäbe, nicht im Jahr darauf und auch nicht in zehn Jahren. Dass der Film wirklich so konzipiert sei, dass es nicht gut ausgehe. Wir wünschen es uns so sehr, aber das Wünschen wäre umsonst. Weil es doch nicht immer gut ausgehen kann, dieses eine Mal nicht.

VIER

Ich kannte Klaus seit knapp einem Jahr, als eine Einladung zu seiner Geburtstagsparty im Posteingang meines Mailprogramms erschien. Er hatte in den letzten Wochen schon mehrmals davon gesprochen. Es würde die Party des Jahres werden, scherzte er. Und damit mochte er recht haben, aber ich hatte gerade keine Lust auf Menschen, das heißt: Menschen zu sehen, mit Menschen zu reden, Menschen kennenzulernen. Natürlich wusste Klaus Bescheid. Ich hatte ihn noch am selben Tag davon in Kenntnis gesetzt, was mit meinem Bruder geschehen war, und er hatte mir – so gut es telefonisch möglich war – beigestanden, wobei es nicht darum ging, mir beizustehen, ich sollte Leander beistehen, so sollte es sein, aber wie kann man einem Menschen helfen, wenn man selbst nicht weiß, wie diese Situation am besten anzupacken ist? Andererseits war es nicht so, dass es Leander besser ging, wenn ich ihm die ganze Nacht lang die Händchen hielt. Das machte ohnehin schon meine Mutter. Außerdem war er mit seinen neunzehn Jahren alt genug, selbst zu schlafen, er war ja auch alt genug, sich selbst zu töten oder es zumindest zu versuchen. Trotz alledem, sagte ich mir, wäre es wohl nicht angebracht zu feiern. Gleichzeitig ärgerte es mich, dass Leander mit seiner lächerlichen Tat in den Ablauf meines Lebens eingriff, auch wenn es sich bloß um so etwas Unbedeutendes wie eine Geburtstagsparty handelte. Ich stand nicht an seiner Seite, wenn er etwas zu feiern hatte, warum sollte ich dann an seiner Seite stehen, wenn es ihm schlecht ging? Wann hatte er mich das letzte Mal angerufen? Wann ich ihn?

Es war früher Nachmittag, als ich Klaus anrief, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren. Er sprach nicht viel, was ich aber zwischen seinen Worten wahrnahm, sagte mir etwas, das nur ohne Worte zu sagen war. Klar würde er sich sehr freuen, wenn ich zu seiner Feier käme. Er fragte mich nicht, und gerade weil er mich nicht drängte, verspürte ich den Drang, ihm diese Freude zu bereiten. Wir waren inzwischen so etwas wie beste Freunde, auch wenn wir diesen Ausdruck niemals in den Mund genommen hatten. Wir wussten es. Das genügte.

So kam es, dass ich wenige Stunden später tatsächlich vor Klaus’ Wohnungstür stand, in meinen nervös zittrigen Händen ein in Zeitungspapier eingewickelter Roman, der, so fand ich, bereits viel zu lange ungelesen in Vaters altem Musikzimmer gestanden hatte: Sanfter Asphalt. Ich kannte das Buch nicht und hatte daher keine Ahnung, ob es gut war. Laut Mutter hatte es kurz vor Vaters Tod den Weg in sein Bücherregal gefunden. Grund genug, so dachte ich, um anzunehmen, dass es einer gewissen literarischen Anforderung entsprach. Man konnte sich, so hatte ich es mir gerne vorgestellt, Vaters Bücherregal wie einen Filter vorstellen, der für ihn Unbrauchbares sofort wieder ausspuckte. Insgeheim war Vater darauf stolz gewesen, auf die Auswahl seiner Bücher und nicht minder auf die klassische Musiksammlung. Schade, dass er sie nicht mitnehmen konnte. An Klaus’ Tür stehend fragte ich mich, ob dieses Buch, wenn mein Vater es denn gelesen hätte, einen fixen Platz in seinem Regal bekommen hätte, um mit der Zeit den Staub des Alltags aufzunehmen, oder, wie so viele andere Romane auch, dem ungewissen Schicksal eines öffentlichen Bücherschranks übergeben worden wäre. Vielleicht würde es mir Klaus beantworten können. Ich klopfte an die Tür, drehte das Buch in meinen Händen und las auf der Verpackung die Schlagzeilen des gestrigen Tages. Jemand hatte jemanden aus Eifersucht erstochen. Ich hätte eine andere Doppelseite zum Einwickeln verwenden sollen. Nun war es zu spät. Klaus würde es hinnehmen müssen. Bevor ich noch länger darüber nachdenken konnte, rief jemand von innen, dass die Tür offen sei. Ich schaute an mir hinab. Täuschte ich mich oder war mein Bauch etwas runder, größer geworden? Mit der Handfläche strich ich das T-Shirt glatt. Es bewirkte nichts. Ich trat ein.

Die Party war, wie man so schön sagt, bereits in vollem Gange. Durch die Tür sah ich ins Wohnzimmer. Klaus stand dort mit dem Rücken zu mir und unterhielt sich lebhaft mit einem seiner Studienkollegen, den ich von der Diplompräsentation her kannte. Aus den Boxen drang ein monotoner, treibender Beat. Ich betrat den Raum, nickte einigen Leuten zu, die ich vom Sehen her kannte und tippte Klaus auf die Schulter. Er drehte sich um. So sah Klaus aus, wenn er sich freute. Genau deshalb war ich gekommen. Bei diesem Anblick war es schwer vorstellbar, dass einem nicht das Herz aufging. Dann hörte er auf, sich zu freuen, schaute mich mitfühlend an und umarmte mich lange.

»Alles Gute«, flüsterte ich in sein Ohr.

»Es wird schon wieder«, sagte er.

»Schon möglich«, sagte ich, »es ist mir einerlei.«

»Komm schon«, meinte er, »lass uns heut Abend nicht negativ denken, okay?«

»Okay.«

Wir lösten uns aus unserer Umarmung und schauten einander an.

»Okay?«, fragte er abermals, da er in meinen Augen den Rest eines Zweifels entdeckt haben mochte.

»Ja doch«, sagte ich und versuchte zu lächeln. »Lass uns feiern!«

Der Studienkollege hatte sich inzwischen einem anderen Gesprächspartner zugewandt. Ich überreichte Klaus das Geschenk. Er bedankte sich, las die Schlagzeile der Zeitung, lachte und fragte mich, ob dies Rückschlüsse auf den Inhalt zulasse. Ich zuckte mit den Schultern. Er riss das Zeitungspapier in zwei Hälften, sagte, dass er den Autor nicht kenne und fragte mich, woher ich es habe.

»Aus dem Shop im Wien Museum«, log ich. »Keine Ahnung, wie es ist. Ehrlich gesagt habe ich es wegen der Fotos gekauft, die darin sind. Schau mal rein.«

Er öffnete das Buch, las die Widmung, die ich ihm auf die erste Seite geschrieben hatte, und umarmte mich gleich nochmals. Dann erst blätterte er durchs Buch.

»Es kommen keine Menschen auf den Fotografien vor«, sagte er.

»Vielleicht kann der Autor sie nicht ausstehen«, witzelte ich.

»Vielleicht«, meinte Klaus. »Oder es könnte genau andersrum sein.«

»Möglich«, sagte ich. »Oder er hat die Fotos reingetan, damit er nicht so viel schreiben musste.«

Klaus schmunzelte, las die ersten paar Zeilen und bewegte dabei stumm seine Lippen.

»Es wird den vordersten Platz in meinem Regal für die zu lesenden Bücher bekommen«, sagte er. »Komm, hol dir was zu trinken. Bier und Weißwein schwimmen im kalten Wasser in der Badewanne. Die guten Getränke befinden sich im Kühlschrank.«

»Die guten?«, fragte ich.

»Du weißt schon, Gin, Pernod, so Zeugs halt.«

»Wenn das so ist«, sagte ich, »dann findest du mich nebenan.«

Ein Pärchen stand hinter mir und wartete darauf, Klaus zu gratulieren. Ich grüßte sie und ging in die Küche. Die Musik schwappte etwas gedämpft vom Wohnzimmer durch die Tür. Das Licht war gedimmt, ich fühlte mich das erste Mal seit ein paar Tagen wohl in meiner Haut und dachte tatsächlich nicht an Leander, dachte nicht daran, was für ein Idiot er war, dass er es einfach nicht lassen konnte, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, dass sich nichts geändert hatte.

Eine junge Frau öffnete den Kühlschrank und griff mit der linken Hand nach einer Gin- und mit der rechten nach einer Tonic-Flasche, zog sie aus dem Regal und stellte sie unsanft auf dem Küchentisch ab. Etwas an ihrer Erscheinung – oder war es die Art, wie sie sich bewegte? – sprach mich an. Sie hatte kurze braune Haare, dunkle, von einer dünnen Brille umrahmte Augen und markante, fast männlich konnotierte Gesichtszüge. Sie trug ausgewaschene Jeans-Shorts und ein bauchfreies Top, wie es zurzeit wieder in Mode war. Aber es war nicht nur ihr Aussehen, das mich innehalten ließ. Vor mir stand ein Mensch, dachte ich, der sich sicher war. Woran ich das zu erkennen glaubte? An ihrer Art, sich aufzurichten, an der Art, wie sie das Glas vor sich abstellte, die Flaschen aufschraubte, die Flüssigkeiten vermischte. Ein Mensch, der wusste, wer er war und was er tat und warum. Von dieser Sorte gab es nicht viele. Klaus mag einer davon gewesen sein. Mich zählte ich jedenfalls nicht dazu. Vielleicht hielt ich mich deshalb gerne in der Nähe solcher Menschen auf, damit etwas von ihren Qualitäten auf mich abfärbte. Was ich wusste, war Folgendes: Ich wollte diese Frau kennenlernen und einen Gin Tonic trinken. Beides befand sich zwei Meter vor mir.

Beim Sprechen vergaß ich, wer ich war, woher ich gekommen war, wohin ich gehen wollte, was gestern passiert war und was morgen zu erledigen wäre. Da war nur noch das Sprechen, das Erzählen, das Sich-Mitteilen. Es funktionierte aber nur, wenn auf der anderen Seite jemand stand, der die Gabe hatte, zuzuhören, still dazusitzen, von Zeit zu Zeit zu nicken und im richtigen Augenblick gezielte Fragen zu stellen. Es funktionierte nur, wenn man im Gesicht des Gegenübers eine Teilnahme wahrnahm, ein Sich-Hingeben und Fallenlassen, wenn die Augen des Zuhörenden zwei große leere Becken waren, die derjenige, der den Mund öffnete, mit seiner Flut an Sätzen, mit seinen Geschichten, Erlebnissen und Sorgen füllen konnte.

Nun hatte ich also, obwohl ich mir vorgenommen hatte, Leanders Tat an diesem Abend auszuklammern, doch über ihn gesprochen. Meine halbe Lebensgeschichte, und damit in einigen Nebensätzen auch die meines Bruders, habe ich dieser Frau in groben Zügen nähergebracht. Gerade war ich dabei, ihr zu erzählen, dass ich womöglich zu wenig für ihn dagewesen war und dadurch nichts von seinem Vorhaben mitbekommen habe, dass die Schuld sicherlich auch …

»Die Schuld?«, unterbrach sie mich.

»Ja, die … äh, ja, das hat vielleicht auch mit mir …«

»Du glaubst doch nicht im Ernst«, hakte sie nach, »dass du für die Tat deines Bruders verantwortlich bist?«

»Na ja«, stammelte ich, führte das Getränk zum Mund und sog am Röhrchen, um etwas Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. »So zugespitzt würde ich es nicht formulieren. Er war mir immer … irgendwie war er mir immer … na gut, die Wahrheit ist: Er war mir egal. Ziemlich egal. Manchmal sogar scheißegal. Ich schätze, dass das einen Menschen beeinflusst, oder etwa nicht?« Ich wunderte mich, dass ich einem fremden Menschen gegenüber so offen über meine Familienangelegenheiten sprach und schob den Umstand auf den Alkoholspiegel, als sie mich fragte, wie alt Leander sei.

»Neunzehn«, sagte ich, »warum?«

»Glaubst du nicht, dass er, sofern er nicht unter Drogeneinfluss stand, wusste, was er tat?«

»Wahrscheinlich«, sagte ich. »Die Vergangenheit funkt halt rein, die kann man nicht so rausnehmen, oder? Wir sind doch das Produkt unserer Erfahrungen. Und wenn keine Verbindung mit dem Bruder existiert, ist das auch ein Eindruck, der sich einschreibt. Aber egal, es war falsch von ihm.«

»Ja?«

»Natürlich«, gab ich zu verstehen. »Man kann doch nicht einfach … es kann doch nicht jeder, der Lust hat, seinem Leben ein Ende zu bereiten, dieses Vorhaben in die Tat umsetzen.«

»Man kann«, sagte sie. »Es wäre schade, das steht außer Zweifel, aber man kann.«

»Wie kannst du das so sagen?«

»Weil ich aus Erfahrung spreche«, sagte sie. »Ich hatte es nicht leicht in meiner Kindheit, aber darüber möchte ich jetzt nicht reden. Was ich sagen will, ist, dass man einem Erwachsenen durchaus freistellen kann, diesen Schritt zu wagen. In hundert Jahren wird, zumindest in unserer Gegend, niemand mehr daran zweifeln.«

»Also ich weiß nicht«, sagte ich.

»Dann halt in fünfhundert oder in tausend Jahren. Es wird passieren.«

Die Bestimmtheit, mit der sie ihre Aussagen tätigte, schüchterte mich ein und imponierte mir zur selben Zeit. Sie hat eine Meinung, dachte ich, das muss man ihr lassen. Mit gekreuzten Beinen saß sie am Küchentisch, den linken Fuß an der Lehne eines Stuhls abgestützt. Sie sog den letzten Rest des Mischgetränks in ihren Mund und schüttelte das Glas, sodass die Überbleibsel der Eiswürfel gegen den Rand klimperten. Sie erhob sich, ging zum Kühlschrank und mischte sich ein neues Getränk. Meine Aufmerksamkeit legte sich auf ihren halb entblößten Rücken. Die Wirbel, über die sich ihre Haut spannte, waren deutlich zu erkennen. Noch einen? Wie bitte? Ob ich auch noch einen wolle? Ein kurzer Blick auf mein Glas verriet mir, dass es so gut wie leer war. Ich zeigte es ihr und nickte. Wir hatten unsere Gläser, seit wir die ersten vorsichtigen Worte miteinander ausgetauscht hatten, bereits dreimal gefüllt und waren nun beim Pernod angekommen.

»Und die Schuld«, fuhr sie fort, nachdem sie wieder auf dem Tisch Platz genommen hatte, »dieses Wort, ich mag es nicht. Warum sprichst du nicht von Verantwortung?«

Ich hoffte, dass dies bloß eine rhetorische Frage gewesen war, und wartete darauf, dass sie weitersprach, was sie dann zum Glück auch tat.

»Jeder Erwachsene«, sagte sie, wenn ich mich nicht täuschte, bereits leicht lallend, »sollte sich selbst gegenüber Verantwortung tragen. Bei Kindern ist das klarerweise etwas anderes. Aber bei einem Erwachsenen? Das heißt natürlich nicht«, fügte sie mit erhobenem Zeigefinger hinzu, »dass man ihnen keine Hilfe anbieten sollte. Ich selbst habe professionelle Hilfe in Anspruch genommen. In hundert Jahren – ich weiß, ich wiederhole mich –, aber in hundert oder in fünfhundert oder meinetwegen in tausend Jahren wird es völlig normal sein. Ach was, es sollte jetzt schon normal sein! Ich denke nämlich, dass es als Freund, Freundin oder Bruder, als Eltern oder als Geschwister und so weiter, ich denke, dass es da Grenzen gibt. Natürlich können wir jemandem, der Probleme mit der Bewältigung seines Lebens hat, beistehen, aber das geht meiner Ansicht nach nur bis zu einem gewissen Grad und nicht weiter. Denn sei mal ehrlich, welches Kind, auch wenn es erwachsen ist, hört schon auf seine Eltern?«

»Also ich höre auf meine Mutter«, sagte ich und fügte ein unsicheres Manchmal hinzu.

»Dann sind deine Eltern eine Ausnahme. Dann bist du eine Ausnahme.«

»Ich sagte nicht, ich höre auf meine Eltern, sondern ich höre auf meine Mutter. Mein Vater spricht nicht mehr.«

»Warum nicht?«

»Weil er damit beschäftigt ist, drei Meter unter der Erde zu liegen und zu verfaulen.«

Sie lachte. Dann hörte sie auf zu lachen.

»Schon in Ordnung«, sagte ich. »Er ist gestorben. Das passiert manchmal bei älteren Menschen, weißt du?«

In ihr Gesicht hatte sich Verwunderung gelegt, sie schüttelte den Kopf, wie um etwas loszuwerden, und schien nachzudenken. Und ich schaute ihr beim Denken zu.

»Aber was«, fragte ich schließlich, »wenn es sich umgekehrt verhält? Was, wenn du eine Ausnahme darstellst?«

Ich hätte gerne gewusst, was es mit ihrer Familie auf sich hatte, spürte aber, dass es nicht der richtige Moment war, um danach zu fragen. Im Grunde wollte ich gar nicht mehr reden. Ich wollte, ja, ich wusste längst, was ich wollte …

In diesem Moment betrat Klaus pfeifend und sichtlich gut gelaunt die Küche, in der es mittlerweile ziemlich eng und heiß geworden war.

»Ah«, sagte er, »und du bist?«

»Du kennst sie nicht?«, fragte ich. Klaus schüttelte den Kopf. »Das ist …« Da wurde mir bewusst, dass ich sie noch nicht nach ihrem Namen gefragt hatte.

»Ich bin Elisabeth«, sagte sie und streckte Klaus die rechte Hand entgegen. »Anna hat gemeint, dass es kein Problem wäre, wenn ich mitkomme. Ich nehme an, du bist das Geburtstagskind? Gratuliere!«

»Danke«, sagte Klaus und schüttelte ihre Hand. »Sie ist fein.«

»Wer?«, fragte sie. »Anna?«

»Nicht wer«, sagte Klaus grinsend, »sondern was! Ich meine deine Hand. Es fühlt sich gut an, sie zu halten.«

Ich bildete mir ein, dass Elisabeth rote Wangen bekam, wobei es durchaus auch von der in diesem kleinen Raum stehenden feuchten Hitze herrühren konnte.

»Das ist eine ungewöhnliche Aussage«, meinte sie. »Ich nehme an, dass ich mich bedanken kann?«

»Es war nicht als Kompliment, sondern als Feststellung gemeint«, sagte Klaus trocken. »Aber natürlich kannst du dich bedanken. Nur vergiss bitte nicht: Es fühlt sich ebenso gut an, über die papierne Haut der Hände von alten Menschen zu fahren.«

»Aha«, machte sie. »Dann werde ich mich vielleicht doch nicht bedanken.«

»Wie du meinst«, sagte Klaus und ließ ihre Hand los. »Es ändert nichts daran, dass es so ist.«

Elisabeth schien sich nicht sicher zu sein, wie sie darauf reagieren sollte, und schaute mich hilfesuchend an.

»Und du, Albert?«, fragte er. »Fühlst du dich wohl?«

»Ja«, sagte ich, »sehr sogar.«

»Das freut mich«, sagte er, und zu Elisabeth gerichtet fügte er hinzu: »In einer anderen Welt würdet ihr gut zueinander passen, denn auch Albert hat eine weiche Haut. Schau doch!« Er nahm meine Hand und strich mir mit den Fingerkuppen über den Handrücken. An meinen Unterarmen stellten sich die Haare auf. Ich hoffte, dass Elisabeth es nicht gesehen hatte, und fragte mich gleichzeitig, was so schlimm daran gewesen wäre. Behutsam legte Klaus meine Hand auf Elisabeths nackten Oberschenkel, dann prostete er mir zu und schlenderte weiter ins ebenso gefüllte Schlafzimmer, wo er mit einem Happy Birthday empfangen wurde. Ich fühlte nach Elisabeths Haut. Klaus hatte absolut recht, es tat gut, sie zu berühren.

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