Kitabı oku: «KLEINER DRACHE», sayfa 6
»Bist du sicher? Ganz sicher?«
Er hob die Schultern. »Was ist schon sicher auf dieser Scheißwelt? Aber wenn ich Geld hätte, würde ich’s in X-Coin tauschen.«
Xialong hatte keine Ahnung, weshalb sie Kung vertraute. Aber vielleicht ging es auch gar nicht um Vertrauen, sondern um Mut und die Bereitschaft, alle Gewissheiten hinter sich zu lassen und daran zu glauben, dass etwas Neues möglich war.
»Dann tu’s.«
Er tätigte die Transaktion und überspielte das Digitalgeld auf einen USB-Stick. Jetzt hätte er zu Xialong zurückgehen, ihr den Stick übergeben und sie verabschieden können, was für seine eigene Sicherheit vielleicht am besten gewesen wäre. Doch die doppelte Versuchung – der Noser und das Neeze auf dem Nachttisch und der in seinem Kopf unablässig weiterblinkende weiße Block – waren einfach zu groß. Er gönnte sich eine mittelkleine Dosis, und als er leicht geworden war und sein Schlafverlies weit und prachtvoll, loggte er sich in den Tempel der Drei Wahrheiten ein und wählte das Vertrauen, den Raum, in dem Mei ihn erwartete, immerzu und auch jetzt wieder. Er hatte ihr so viel zu erzählen.
Als Kung hinter dem Vorhang hervorkam, hatte er eine Reisetasche dabei. Xialong, die in der Zwischenzeit ein wenig geschlafen hatte, blickte ihm fragend entgegen.
»Ich komme mit«, sagte er.
»Das kannst du nicht machen«, sagte sie schnell.
»Ich hab nachgedacht da drinnen«, entgegnete er. »Wenn sie bei Onkel Wu waren, werden sie über kurz oder lang auch bei mir anklopfen. Und glaub mir, hier gibt es einiges zu finden.« Er stellte die Tasche ab, setzte sich vor die Bildschirmwand, holte den Stick mit den X-Coins aus der Schublade und steckte ihn in die Buchse. Er überspielte etwas, dann hielt er den Stick an sein Schulterimplantat. Den Stick warf er auf den Boden und trampelte darauf herum. Dann steckte er einen zweiten Stick ein. Ein an- und abschwellendes Winseln kam aus den Lautsprechern, auf den Displays wurden die aus dem ganzen Land zusammengetragenen Trauerfeiern für den Kleinen Mönch von einem roten Symbol mit blinkendem Eingabefeld ersetzt. Kung machte eine Tastatureingabe, und Xialong bemerkte, dass seine Hände zitterten.
»Du willst alles löschen«, sagte sie.
»Keine Spuren hinterlassen«, sagte er gepresst. »Nichts zurücklassen. Einfach abtauchen und verschwinden.«
»So plötzlich?«
»Vielleicht habe ich mir das sogar immer gewünscht, weißt du? Aber es ist nicht leicht, das kannst du mir glauben. Für dich ist das hier bestimmt armselig. Aber ich habe Jahre gebraucht, um es mir aufzubauen. Um der zu sein, der ich bin. Jetzt muss ich ein anderer werden.«
Xialong fand seine Entscheidung ein wenig vorschnell, und für ihren Geschmack klang das alles auch ein bisschen zu pathetisch. Reichte es nicht aus, dass ihr Leben in Trümmern lag? Aus Angst, ihn zu verletzen, enthielt sie sich einer Bemerkung. Sie wollte ihm nicht unter die Nase reiben, dass sie älter war als er und möglicherweise trotz all ihrer Beschränkungen auf einen weiteren Erfahrungsschatz zurückgreifen konnte. Und außerdem war es in diesem Moment für sie ein Trost, dass sie in Begleitung eines Menschen ins Unbekannte aufbrechen würde und nicht bloß in Gesellschaft eines Bots, der ihr, das gestand sie sich nüchtern ein, unheimlich war.
Codezeilen jagten über die Bildschirme, das Alarmwinseln hatte aufgehört. Kung stand auf, hockte sich vor die Schlafpritsche, langte darunter und zog den Arm wieder zurück. Staubmäuse mit eingebackenen Fußnägeln klebten an seinem Ärmel, in der Hand hielt er ein altmodisches Tastenhandy. Erstaunlicherweise war der Akku geladen. Er tippte eine Nummer ein. Er wartete, bis die Verbindung hergestellt war, dann sagte er langsam und deutlich: »Der kleine Racker möchte Gassi gehen. Kommst du mit?« Er unterbrach die Verbindung.
»Was war denn das?«, fragte Xialong verblüfft.
»Das war ein Code. Jetzt weiß Nikita, was sie tun soll.«
»Und was soll sie tun?«
»Sich um mein digitales Vermächtnis kümmern!«, fauchte Kung. »Ach, Scheiße.« Er wischte sich über die Stirn. »Es gibt da ein, zwei Accounts, zu denen sie das Passwort hat. Da wird sie sich drum kümmern, solange ich die Füße stillhalten muss.«
Kung richtete sich auf. »Wir können«, sagte er betont forsch. »Hast du schon einen Plan?«
Xialong lächelte zaghaft. »Wie wär’s, wenn wir erst mal etwas essen?«
9
Die rüstigen Alten auf dem Rasen hatten die Form »Der weiße Kranich breitet seine Flügel aus« eingenommen. Da sie auf Flatterbewegungen verzichteten, sah es so aus, als hätten sie sich längst damit abgefunden, dass sie sich nie wieder in die Lüfte erheben würden. Tschoulao fand es realistisch, dass sie sich in ihre Lage schickten, doch da er an diesem besonderen Morgen vielleicht ein wenig empfänglicher als sonst für die unterschwelligen Äußerungen seiner Umgebung war, empfand er auch eine ganz eigene Art von Mitgefühl – eine Art wohliges Bedauern, das ihm umso angenehmer war, als es anderen galt und nicht ihm selbst. Auch die Blicke der Alten auf der Bank schräg gegenüber steigerten sein Behagen. Der eine, ein besonders hässlicher Mann mit einem Glasauge und gelblich-weißem Bart, der an eine alte Klobürste erinnerte, hatte ihm sogar zugenickt. Er wusste, dass nicht Freundlichkeit der Grund war. Aber die Menschen beachteten ihn wieder, und mit der Zeit würden ihre kleinbürgerlichen Aufwallungen einer wenn schon nicht politischen, dann immerhin realistischen Einsicht weichen, und irgendwann würde gewohnheitsmäßige Achtung daraus. Vielleicht würde es sogar wieder ein wenig so sein wie früher im Hutong.
Er hatte allen Grund, mit sich zufrieden zu sein.
Es war ein warmer Morgen, und es würde ein heißer Tag werden. Das Gras, auf dem die Alten die Tai-Chi-Formen der Vorturnerin imitierten, färbte sich bereits gelb. Wenn es so weiterging und nicht bald Regen fiel, würde es ganz und gar verbrennen. Im Fernsehen hatte es geheißen, die Sonnenstrahlung sei dieses Jahr besonders stark und in den Mittagsstunden unbedingt zu meiden. Nun, im Schatten des Gingkobaums scherte ihn das nicht. Er hatte den Stammplatz von Onkel Wu ganz selbstverständlich eingenommen, denn schließlich hatte er ihn sich verdient. Im Nachhinein wunderte er sich, weshalb er den alten Konterrevolutionär so lange hatte gewähren lassen. Das war schließlich ein öffentlicher Park, beziehungsweise ein Park für die Bewohner der Glücklichen Familie, und Privilegien, zumal solche, die jemand sich grundlos selbst zusprach, hatten hier nichts verloren.
Die berechtigten Ansprüche eines alten Dieners der Partei waren natürlich etwas ganz anderes.
Tschoulao lachte glucksend, schraubte die Thermosflasche auf und trank einen Schluck heißen grünen Tee. Er stellte die Flasche ab, dann stand er auf, ging zu einem tiefhängenden Ast und nahm den Haken ab, an dem ein kleiner Holzkäfig baumelte. Der schwere Drachenreif aus Onkel Wus Wohnung rutschte an seinem erhobenen Arm herum, was sich angenehm anfühlte, fast so, als gehörte er schon lange zu ihm. Er setzte sich wieder, stellte den Käfig auf sein Knie und beobachtete die eingesperrte Zikade. Das Tier hatte einen blauschwarzen Körper mit kräftig wirkenden Beinen, fast durchsichtige Flügel und rote Knopfaugen. Es war überraschend groß und hässlich. Nach einer Weile erzitterten die Flügel, und es ertönte ein rhythmisches, durchdringendes Schnarren.
Tschoulao schaute sich um. Auch andere Parkbesucher hatten ihre Zikade dabei. Manche Käfige hingen im Gebüsch, andere standen auf den Bänken, auf denen die Männer rauchten und die Frauen sich unterhielten. Überall zirpte und schnarrte es. Er hatte keine Ahnung, was die Leute daran fanden, aber er würde es herausfinden. Vielleicht war es ja gar nicht so falsch, ein bisschen so zu sein wie die anderen. Vielleicht gehörte das zu seinem neuen Leben, das heute beginnen sollte.
Tschoulao war so sehr mit seiner Zikade beschäftigt, dass er das große Fluginsekt nicht bemerkte, das von der Straße in den Park schwenkte. Es schwirrte heran, umkreiste einmal die Bank, dann ließ es sich auf seinem Nacken nieder, der entblößt war, weil er sich auf den Holzkäfig vorgebeugt hatte. Er nahm ein Kitzeln wahr, doch ehe er das lästige Insekt verscheuchen konnte, stach es zu. Verblüfft rieb er über die Stelle, an der eben noch die Motte gesessen hatte. Der Einstich brannte, und das Brennen breitete sich rasch aus. Es strömte in seinen Kopf und löschte den Park aus, den Tag und die Erinnerung an gestern und die Tage davor.
Tschoulao vergaß und starb.
Teil 2
10
Herr Cheng war ein strenger, aber gerechter Lehrer. Obwohl er meistens hinter seinem Steuerpult saß, bekleidet mit weißem Hemd und mal hell-, mal dunkelgrauer Jacke, das schwarz glänzende Haar stets makellos gekämmt, hatte er die ganze Klasse im Blick. Er hatte Augen in der Rückwand und an der Decke. Ihm entging nichts. Er erwischte stets den Schuldigen. Wenn jemand Unsinn machte oder beim Nachbarn abschrieb, musste er nach vorne kommen und neben dem Pult niederknien. Dann drehte Herr Cheng sich auf dem Stuhl herum und ohrfeigte ihn mit der immerzu gleichen langsamen Armbewegung, die dem Missetäter das Ausweichen leicht machte. Für sein Opfer kam es darauf an, nicht zu früh auszuweichen, denn dann bemerkte Herr Cheng die Finte und wiederholte die Strafe ebenso gemessen und langsam wie zuvor, als käme es ihm vor allem darauf an, der Gerechtigkeit Genüge zu tun, ohne dass ihm ein Härchen aus der Frisur rutschte.
Manchmal stand er auf, rollte auf seinen steifen Beinen zur Tafel und malte etwas darauf, obwohl er das ebenso gut von seinem Pult aus hätte erledigen können. Das nannte er variable Unterrichtsgestaltung. Zur Auflockerung erzählte er hin und wieder Witze, doch sie zündeten nicht – niemals. Während Herr Cheng mit einem erwartungsvollen Lächeln auf die Klasse schaute, herrschte gelangweiltes Schweigen, bis ihn jemand bat, den Witz zu erklären, was er auch geduldig tat. Pflichtschuldiges Gekicher war der Lohn.
Trotz seiner Strenge, seiner Schwächen und Marotten genoss Herr Cheng Respekt bei den Schülern, nicht zuletzt wegen seines Wissens, das ihn in die Lage versetzte, jede noch so ausgefallene Frage zu beantworten. Wenn er wollte, konnte er alle fünfhundertdreiundzwanzig Haiarten aufzählen. Er kannte jedes einzelne Schriftzeichen, egal wie alt es war. Machte Drugda sich dennoch einmal zu Hause über ihn lustig, tadelte der Vater sie und sagte, Herr Cheng sei eben ein altes Modell, und das habe Vor- und Nachteile. Welches die Vorteile waren, sagte er nicht. Aber: In ihrer kleinen Stadt müsse man froh sein, überhaupt einen so tüchtigen Lehrer zu haben.
Herr Cheng gab auch Nachhilfeunterricht. Die Kabinen standen gleich auf dem Flur, der so breit war, als wälzten sich noch immer die Kinder all derer durch die Gänge, die in den vergangenen Jahren das Grenzgebiet verlassen hatten, um in den großen Städten im Landesinneren und an der Küste ihr Glück zu versuchen. Acht weiße Türen waren an der Außenwand des Klassenzimmers aufgereiht, und Drugda wusste sogar, wie es drinnen aussah: Die Schüler saßen vor einem schmalen Schreibpult, auf dem sie ihr Convertible abstellen konnten, und blickten auf einen großen Monitor, aus dessen rechter unterer Ecke Herr Cheng hervorsah. Wer in einer der Kabinen Platz nahm, hatte ihn ganz für sich allein. Praktisch jeder, der später studieren wollte, nahm bei ihm Nachhilfe, und auch Drugda hätte dies liebend gern getan, doch sie durfte nicht. Ihr Vater meinte, sie hätten zu wenig Geld. Vielleicht hätte es gerade noch für Herrn Cheng gereicht, nicht jedoch für ein Studium in der großen Stadt, und deshalb sei es besser, wenn sie sich erst gar keine Hoffnungen mache.
Aber kann man ohne Hoffnung denn leben?, fragte sich Drugda, als ihr sehnsuchtsvoller Blick an einer sich schließenden Kabinentür abglitt. Sie hatte den Klassenraum als Letzte verlassen, hatte solange gewartet, bis Herr Cheng, das Ladekabel schon im Schaltpult eingestöpselt, ihr auffordernd zugenickt hatte. Immer war sie die Letzte, und das hatte einen Grund, und der hieß Pai.
Er ging in die Klasse über ihr, und vor zwei Wochen hatte er sie in einen Abstellraum gedrängt und von ihr verlangt, dass sie ihm die Hand in die Hose steckte. Aus Angst hatte sie getan, was er wollte. Die Hose hatte einen Gummizug, deshalb kam sie leicht hinein. Als dann aber sein Ding anschwoll und er seinen Mund auf ihren drückte und ihr die Zunge zwischen die Lippen schieben wollte, hatte sie Panik bekommen und ihn in die Backe gebissen. Dann war sie weggerannt. Tagelang lief Pai mit einem violetten Gebissabdruck im Gesicht herum und tat so, als habe er sie nie gesehen.
Dann fing er an, sie nach der Schule mit seinen Freunden abzupassen. Sie schubsten sie und beschimpften sie als Mongolin. Ihr Vater sagte, Mongolen sähen nicht anders aus als Chinesen, und auch sonst gebe es keine Unterschiede, sie seien Asiaten, alle miteinander. Aber Pai und die anderen Jungs nannten sie auch Schlampe, Fotze und Schlimmeres, und allmählich bekam sie Zweifel, ob ihr Vater wirklich recht hatte.
Sie war flink auf den Beinen, und obwohl der lange Rock, den ihr Vater sie zu tragen zwang, sie behinderte, konnte sie sich meistens selbst befreien und weglaufen. Einmal, als sie bereits an der Lippe blutete, rettete sie ein AnBot auf Patrouille, der die Bande mit einer gezielten Wolke Pfefferspray vertrieb.
Heute aber war es besonders schlimm. Herr Cheng hatte die Ergebnisse der Tests von vergangener Woche mitgebracht, und die Ergebnisse konnten Pai nicht gefallen haben. Jedenfalls musste er sich abreagieren, und kein Bot war in Sicht, der ihr hätte helfen können. Ghi und Feng hielten sie fest, und Pai ohrfeigte sie. Er kam ganz nah an sie heran, zerrte sie an den Haaren und spuckte ihr ins Gesicht.
»Mongolenschlampe!«
Sie biss sich auf die Lippe, um nicht zu weinen, und schmeckte Blut. Pai war ein Jahr älter und viel größer als sie. Sie konnte sich nicht wehren. Sie war ihm ausgeliefert.
»Es ist aus mit der Uni, hab ich recht?«, zischte sie. »Manche Leute werden dumm geboren, und es gibt nichts, was sie klüger macht.«
Pai rammte ihr die Faust in den Bauch. Pfeifend platzte ihr die Luft aus der Lunge, sie klappte zusammen. Anstatt sich gleich wieder aufzurichten und sich einen Rest von Würde zu bewahren, nutzte sie den Schwung der Bewegung und warf sich nach vorn, ihrem Peiniger entgegen. Ghi und Feng, die damit nicht gerechnet hatten oder vielleicht sogar ein wenig über Pais Brutalität erschrocken waren, ließen sie los, sodass sie ihn mit dem Kopf in der Magengrube traf. Er taumelte japsend zurück, und Drugda fiel auf den Bauch, fing den Sturz aber mit den Händen ab. Sie rappelte sich hoch, raffte den Rock und begann zu rennen. Obwohl sie kaum Luft bekam, lief sie immer weiter, ohne zu verschnaufen oder sich umzusehen, und erst als ihr Brustkorb und ihr Schlund so sehr brannten, dass sie meinte, aus ihrem Mund müssten Flammen schlagen, blieb sie stehen, beugte sich vor, stützte sich auf die Knie und atmete, atmete.
Als sie wieder Luft bekam, richtete sie sich auf und schaute sich zitternd um. Pai und dessen Kumpane waren nicht zu sehen, doch das musste nicht viel heißen. Sie befand sich in einer schmalen Nebenstraße, gesäumt von hässlichen Wohnblocks und kleinen Geschäften. Am Straßenrand lagen ausgeschlachtete Einkaufs- und Botenbots, die an tote Tiere erinnerten. Auf windschwankenden Bannern versuchten blinkende Pfeile, winkende Zeigefinger und halb nackte oder ganz nackte Frauen die wenigen Passanten in die Läden und Lokale zu locken. Ohne es zu merken, war sie in das Viertel gelaufen, das zu betreten ihr Vater streng verboten hatte.
Sie schaute sich hektisch um, voll Angst, Pai und seine Kumpane könnten irgendwo auftauchen. Unmittelbar neben ihr lag ein unkrautüberwuchertes Grundstück mit einem etwas zurückgesetzten ausgebrannten, rußgeschwärzten Gebäude. Früher war es vielleicht mal eine Schule gewesen, ein Verwaltungsgebäude oder ein kleiner Betrieb. Jetzt war es eine Ruine mit leeren Fensterlöchern und einer Fassade, die von einer tödlichen Pilzkrankheit befallen schien. Im Zaun war ein Loch. Sie hob den Maschendraht an und kroch durch das Loch. Auf dieser Seite des Zauns fühlte sie sich sehr viel sicherer als auf der Straße. Ein Trampelpfad zog sich durchs hohe Gras zur Ruine. Sie folgte ihm ein paar Schritte weit, dann bog sie ab und versteckte sich in einem Minicontainer, dessen verrostete Tür offen stand.
Als sie erwachte, war es dunkel. Das Gehäuse, in dem sie geschlafen hatte, knackte. Ein starker, fast betäubender Geruch nach Pflanzen und erhitztem Metall lag in der Luft. Durch die offene Tür sah sie einen Teil des ausgebrannten Gebäudes. Die Umrisse hoben sich schwarz vom Himmel ab. Sie hatte geglaubt, es wäre unbewohnt, doch jetzt waren mehrere Fenster erleuchtet. An der Decke eines Raums im ersten Stock flackerte Feuerschein. Schattengestalten bewegten sich durchs Licht. Oben auf dem Dach sang leise ein unsichtbarer Mann.
Sie betastete ihre aufgeplatzte Lippe, auf der sich bereits Schorf gebildet hatte. Der Vater würde schimpfen und sie bestrafen. In letzter Zeit waren seine Strafen härter geworden. Manchmal musste sie sich vorgebeugt an die Wand lehnen, und er peitschte ihr den Rücken mit dem Gürtel. Das kam daher, dass sie im Begriff war, zur Frau zu werden, hatte er ihr erklärt. Wenn sie jetzt nicht lerne, wie man sich benehme, sei es bald zu spät.
Erst einmal aber musste sie nach Hause kommen.
Sie richtete sich auf und streifte den Schulrucksack über, den sie als Kopfunterlage benutzt hatte. Sich immer wieder angstvoll zur Ruine umblickend, ging sie zum Zaun zurück und kletterte durch das Loch nach draußen. Ihr Rock verfing sich an etwas Scharfem, sie hörte, wie er zerriss. Ein Unglück zog eben neues Unglück nach sich, so war das. Sie biss die Zähne zusammen und wandte sich in die Richtung, in der sie ihr Zuhause vermutete.
Die Straße, das ganze Viertel hatte sich verändert. Licht strahlte in den Himmel hoch und bildete eine Art Glocke, in deren Schutz eine neue Art von Leben gedieh. Die Menschen waren zahlreicher geworden, sie bewegten sich auch anders als noch am Nachmittag. Sie waren in Gruppen unterwegs, unterhielten sich lautstark und wirkten selbstbewusster, gefährlicher. Verschiedene Musiken vereinigten sich zu einem aufpeitschenden Plärren. Die winkenden, lockenden Frauen auf den die Straße überspannenden Bannern hatten sich befreit und tanzten, flankiert von pulsierenden gelben, roten und grünen Schriftzeichen, als überlebensgroße Hologramme im leeren Raum, winkten, zeigten und lockten. Drugda schämte sich ihrer Nacktheit. Und dann fielen sie auf einmal in sich zusammen, und an ihrer Stelle erschienen einzelne Worte: Versenkung, Verehrung, Vertrauen, gefolgt von drei Querstrichen – dem Zeichen für die Zahl Drei. Alles war hier falsch, nichts war, wie es sein sollte. Sie schlug den Blick nieder und ging weiter. Wenn sie niemanden ansah, würde alles gut werden – vielleicht.
»Hallo, du.«
Eine Frau hatte sie angesprochen. Sie lehnte an einer Hauswand, die langen Beine überkreuzt, das Becken schamlos vorgeschoben. Ihr Lederrock war so kurz, dass Drugda den Ansatz ihrer Spalte sehen konnte. Sie trug eine Art Lederweste, mit einem Loch über den Brüsten, aus denen die rot geschminkten Nippel hervorschauten. Drugda wollte an ihr vorbeigehen, doch die Frau fasste sie beim Arm.
»Kleine Mädchen wie du sollten um diese Zeit hier nicht unterwegs sein.«
»Ich bin kein kleines Mädchen«, sagte Drugda und versuchte sich loszureißen. »Und ich bin nicht zum Spaß hier.«
»Ich auch nicht«, sagte die Frau und lachte. Ihre Stimme klang warm und auf eine besondere Art erwachsen. Drugdas Mutter, die vor zwei Jahren verstorben war, hatte sich nie so angehört.
»Lassen Sie mich los«, sagte Drugda. »Bitte.«
»Ich lasse dich los, wenn du nicht gleich wegläufst, einverstanden?«
Drugda überlegte einen Moment, dann nickte sie. Die Frau sah nicht böse aus. Sie hatte ein vollkommen makelloses Gesicht, war aber nicht mal geschminkt, von den glänzenden Lippen und den roten Nippeln einmal abgesehen.
»Gut. Hast du Lust, mir zu erzählen, was du hier machst?«
Nein, dazu hatte Drugda keine Lust, nicht die geringste. Aber sie hatte die ganze Zeit über, eigentlich seit dem Aufwachen, gegen ein Weinen angekämpft, und jetzt, da jemand mit ihr sprach, konnte sie es nicht mehr halten. Schluchzend erzählte sie von ihrem Horrortag. Die Frau hörte ihr zu, und nach einer Weile nahm sie ihren winzigen Rucksack ab und holte ein Päckchen heraus, das sich zu einem schlichten grauen Umhang entfaltete. Sie legte ihn um. Als sie losmarschierten, ertappte Drugda sich dabei, dass sie nach der Hand der Unbekannten griff. Die Frau ergriff sie, und nach kurzem Zögern ließ sie sich von ihr führen.
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