Kitabı oku: «KLEINER DRACHE», sayfa 4

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Tschoulao liebte die Ordnung. Die Ordnung verlieh dem Leben Sinn. Ordnung bedeutete, zwischen gut und richtig, wahr und falsch zu unterscheiden. Ordnung war größer als der einzelne Mensch mit seinen kleinlichen Wünschen. Ihm stand es gut an, sich unterzuordnen, wenn er des großen Sinns teilhaftig werden wollte. Die Alten hatten dies gewusst, sonst hätte das Reich mit seiner langen Abfolge von Kaisern nicht Jahrtausende überdauert und wäre nicht aus jeder Krise in neuer Pracht wiederauferstanden. Und auch die Partei wusste es und duldete keine Widersacher neben sich, welche die Menschen hätten in Verwirrung stürzen und das kostbare Gebäude des Staates gefährden können. Indem sie ihre Macht eifersüchtig hütete, schützte sie das große Ganze. Die Partei war klüger als der Einzelne. Der hatte nur zwei Augen. Die Partei hatte viele.

Auch Tschoulao hatte sein Leben lang seinen Beitrag geleistet, und er tat es noch immer, als Nachbarschaftswächter. Im Hutong war das einfach gewesen. Die Hälfte des Lebens spielte sich auf den Gassen und in den kleinen Innenhöfen ab. Jeder kannte jeden, nichts blieb verborgen. Er war ein respektierter Mann gewesen, mit dem man gerne sprach und den man um Rat fragte, wenn es Probleme mit der Ausbildung der Kinder oder der Medikamentenrechnung gab. Seine »Drähte« – so nannte er die Kontaktleute, denen er zweiwöchentlich Bericht erstattete – waren kein Stigma gewesen, sondern Ansprechpartner, an die man sich wandte, wenn es irgendwo hakte. Sie waren ein Teil des Lebens gewesen, so wie er ein Teil des wimmelnden, stinkenden, verfallenden Hutongs gewesen war.

Jetzt wohnten sie in neuen, modernen Häusern. Sie sahen fern an der Wand, es stank nicht mehr nach Schimmel und Pisse, doch die Probleme waren nicht geringer geworden. Mal war das Leitungswasser rot von Rost, mal kam es in den obersten Stockwerken gar nicht erst an. Mal gab es einen Kurzschluss in der Wand, dann wieder war der Lift ausgefallen, oder jemand hatte das Treppenhaus verunreinigt. Geld hatten die Leute auch nicht mehr als früher, doch es schien so, als wären mit der Höhe ihrer Behausungen ihre Ansprüche ins Unermessliche gewachsen. Hatte er etwa die Kabel mit der brüchigen Isolierung in die Wand eingebaut? Konnte er etwas dafür, wenn der Wasserdruck in den Leitungen nicht ausreichte? Und weshalb verstellten sich andauernd ihre Fernsehwände? Mit allem Ärger, ob berechtigt oder nicht, kamen sie zu ihm, und ihm blieb nichts anderes übrig, als die Beschwerden an den Hausmeisterservice weiterzugeben, der allzu selten mit seinem schicken roten Lieferwagen vorfuhr und allzu schnell wieder weiterzog. Seine Drähte halfen auch nicht weiter, denn er hatte nichts mehr zu berichten, was sie mit Gefälligkeiten hätten erwidern mögen. Die Wohntürme der Glücklichen Familie waren für ihn undurchsichtig. Von dem Leben, das sich hinter den Wänden abspielte, war er ausgeschlossen. Die Menschen vertrauten ihm nicht mehr, sie erzählten ihm nichts. Kam er in ihre Nähe, wurden sie stumm wie Fische. Zu ihm kamen sie nur, wenn es etwas zu schimpfen gab. Ansonsten warfen sie ihm böse Blicke zu, als wäre er persönlich schuld an ihrer Umsiedlung. Dabei hätten sie dankbar sein sollen, dass die Partei sie aus dem stinkenden Schmutz herausgeholt hatte.

Manchmal kam er sich überflüssig vor.

Heute war es anders. Eine Frau war aus Onkel Wus Wohnung gekommen.

An der Wand des Wohnraums liefen, säuberlich aufgeteilt in acht Reihen, die Programme des staatlichen Fernsehens und die Bilder der Flurkameras aus dem Block, in dem er wohnte. Alle paar Minuten wurde automatisch auf eine andere Auswahl von Kameras umgeschaltet. Praktisch konnte er das Kommen und Gehen im ganzen Haus verfolgen. Dass er den Bildern vielleicht nicht immer genügend Aufmerksamkeit schenkte, lag daran, dass sie ihn verwirrten. Die moderne Technik war etwas für die Jungen, so war das nun mal. Im Grunde war sie doch nur eine teure, schick gemachte Krücke für all die Dinge, die sich früher von selbst ergeben hatten.

Dass er die Frau bemerkt hatte, lag daran, dass Onkel Wu so gut wie niemals Frauenbesuch bekam. Tschoulao hatte schon seit Jahren ein Auge auf ihn, denn er hatte den Eindruck, hinter der gelassenen Maske des alten Mannes verberge sich gefährlicher Hochmut und tief verwurzelte Verachtung für die Partei. Dass die Leute ihn mochten und dass die alten und auch jüngeren Männer zu ihm kamen, um Tee zu trinken und Go zu spielen, war unverständlich und auch ungerecht. Auch Tschoulao beherrschte das Spiel, obwohl es von den Japanern erfunden worden war. Auch er hätte gern hin und wieder eine Partie gespielt, doch bei ihm klopfte niemand an, und wenn er irgendwo vorstellig wurde, speiste man ihn mit billigen Ausflüchten ab.

Er vergrößerte das Bild der Frau. Sie war jung, schön und teuer gekleidet, machte aber einen nervösen, erschöpften Eindruck. Ihr Blick huschte unruhig umher – verdächtig. Er beobachtete, wie sie im Treppenhaus verschwand – der Lift funktionierte nicht, und sämtliche Kameras waren dort defekt, von kriminellen Elementen zerstört. Als die junge Frau auf die Straße trat, hatte sie eins dieser selbstfahrenden Räder bei sich. Offenbar hatte sie es vorschriftswidrig in einem unabgeschlossenen Putzmittelraum abgestellt. Sie stellte sich aufs Trittbrett, platzierte ihren kleinen Hintern auf dem Sitz und fuhr los.

Tschoulao packte eine Portion scharfen Bratreis ab, tat ihn zusammen mit einer Thermoskanne grünen Tee in seinen Rucksack und legte für den Fall, dass ihm die Zeit lang werden sollte, ein Buch dazu, »Über die Freuden der Pflicht« von Meister Chen, ein Klassiker aus dem siebzehnten Jahrhundert, der heute leider zu Unrecht nahezu vergessen war.

Vor dem kleinen Schrein neben der Tür hielt er einen Moment inne. Angestrahlt von der Ewigen Kerze hing links ein kleines Porträtfoto seiner früh verstorbenen Frau und rechts davon ein größeres Abbild des amtierenden Ministerpräsidenten, der in seinem dunklen Anzug streng auf ihn herabsah.

Er schob den Fotorahmen beiseite. Dahinter kam ein Foto Mao Zedongs zum Vorschein. Das gütige Lächeln des unsterblichen Großen Vorsitzenden wärmte ihm das Herz. Der Partei galt seine Treue, Mao seine Liebe. Sicher, der Große Vorsitzende hatte Fehler gemacht, aber wer handelte, machte sich nun mal die Hände schmutzig, so einfach war das. Und niemand hatte mehr getan für China als er.

Tschoulao beugte sich vor und küsste Mao auf die rosige Wange, auf der sich ein bräunlicher Fleck abzeichnete – kein Muttermal, sondern die Spur der Verehrung. Er ließ den gerahmten Ministerpräsidenten zurückgleiten, dann trat er auf den Flur und wandte sich zum Ausgang. Im Treppenhaus stank es nach gebratenem, eingelegtem und gekochtem Kohl und nach verbranntem Plastik. Draußen roch es anders, nach Staub und Hitze. Er stieg die Treppe der Überführung hoch, hielt Ausschau nach der jungen Frau, doch sie war natürlich nicht mehr zu sehen. An der Seite der Überführung war eines dieser neuartigen Banner angebracht. Er wusste, dass sie auf die unter ihnen vorbeifahrenden Autos reagierten und den Insassen genau das anzeigten, woran sie gerade dachten oder was sie sich insgeheim wünschten. Er hatte keine Ahnung, wie das funktionierte, aber eines war sicher: Unter dem Großen Vorsitzenden hätte es so was nicht gegeben.

Im Park setzte er sich auf eine Bank, von der aus er durch das Gebüsch und den Zaun hindurch den Eingang des vierten Turms der Glücklichen Familie im Auge behalten konnte, und packte den Reisball aus. Er stellte die Thermosflasche daneben und steckte sich den ersten Brocken in den Mund. Die Gewürzmischung hieß »Bunter Süden« und schmeckte nach salzigem Tang.

Es war Vormittag, und die Bäume an der Ostseite warfen ovale Schatten. Dort hatten sich auf den Bänken die Alten versammelt, wiegten die Köpfe und taten so, als ob sie sich über ihre Zikaden unterhielten. In Wirklichkeit lästerten sie über die Partei, ganz bestimmt. Nach einer Weile tauchte Onkel Wu auf. Köpfe nickten, Hände wurden grüßend gehoben, ein ausgemergelter Greis stemmte sich mühsam hoch und klopfte Onkel Wu auf die Schulter. Lächelnd ging er zu seiner Lieblingsbank, auf der immer ein Platz für ihn frei war, und hängte, bevor er sich setzte, seinen Zikadenkäfig mit einem Doppelhaken an einen tief herabhängenden Ast des Gingkobaums. Dann machte er die Beine lang und unterhielt sich mit seinem Banknachbarn.

Tschoulao packte den halb verzehrten Reisball zusammen mit der Thermosflasche in den Rucksack. Niemand hatte sich zu ihm gesetzt, niemand hatte ihn angesprochen. Heute war ihm das egal. Er verließ den Park durch den stadtzugewandten Ausgang und ging außen herum zur Glücklichen Familie zurück. Niemand wusste, dass er einen Generalschlüssel besaß, der ihm Zugang zu allen Wohnungen verschaffte. Damit sein kleines Geheimnis nicht bekannt wurde, machte er nur selten von seinem Vorrecht Gebrauch. Heute war das anders. Nachdem er den Rucksack in seiner Wohnung abgelegt hatte, stieg er langsam die Treppe hoch. Wu wohnte in der dritten Etage. Als er schnaufend vor dessen Wohnungstür stand, drückte er den Schlüssel auf das Identfeld an der Wand. Die Tür sprang auf. Er trat rasch ein und schloss hinter sich die Tür. Der Schnitt der Wohnung war der gleiche wie bei allen Einpersonenunterkünften. In der kleinen Küche Spuren der milden Verwahrlosung, der alleinlebende alte Männer nicht entgehen konnten (wie Tschoulao aus eigener Erfahrung wusste). Das Bett im schmucklosen Schlafraum hingegen ordentlich gemacht. Im Wohnzimmer ein paar Andenken ans Hutong – hier ein Holzschemel, dort ein Foto, das ein älteres Paar vor einem Gemüseladen zeigte, der Mann mit spitzem Hut, die Mutter verschämt lächelnd, vielleicht Wus Eltern. Ein größeres Viddy mit den herumtollenden ersten chinesischen Mondastronauten, im Hintergrund die funkelnde Landefähre und die blaue Erdkugel. Abgegriffene Bücher, ein Tab mit gesprungenem Display. Kein Foto des Ministerpräsidenten, dafür ein Koffer neben dem Sofa. Er klappte ihn auf: Damenunterwäsche, Strümpfe, zwei Blusen, eine Hose, Strümpfe, eine dunkelrote Ledertasche, darin Toilettenartikel, Frauenkram. Und unter einem Pullover eine kleine, rotbraune Schlange. Er starrte sie an, wartete auf eine Bewegung, doch sie regte sich nicht. Die Schlange war wie tot. Was hatte sie im Koffer verloren? Vorsichtig streckte er die Hand aus, tippte sie in der Körpermitte an. Die Schlange färbte sich smaragdgrün. Blitzschnell spannte sie sich wie eine Feder, schnellte hoch, legte sich um sein Handgelenk und zog sich zusammen.

Tschoulao schrie. Er schlenkerte voll Abscheu die Hand, doch die Schlange löste sich nicht. Schließlich packte er sie mit der Linken. In dem Moment, da er sie berührte, wich die Spannung aus der Schlange, und er konnte sie mühelos entfernen. Sie hing zwischen Daumen und Zeigefinger wie ein toter Wurm, wieder gelbbraun wie zuvor. Er wollte sie gegen die Wand schleudern, hielt aber plötzlich inne und besah sich den Schlangenwurm in seiner Hand. Allmählich begriff er, dass es sich um Schmuck handelte – um einen Armreif. Und es war gar keine Schlange, sondern ein sehr schlanker Drachen mit reliefartig angedeuteten Pranken und Flügeln. Fluchend ließ er ihn auf den Tisch fallen.

In diesem Moment schaltete sich die Fernseherwand ein. Er nahm die Lichtveränderung aus den Augenwinkeln wahr und drehte sich um. Von schräg oben blickte er auf einen Platz mit grauem Pflaster, auf dem mehrere erdfarbene Zylinder standen. Bis auf einen standen alle still. Tag zwölf wurde rechts unten angezeigt. Im Hintergrund waren schneebedeckte Berggipfel zu sehen, dann kam ein weißes, mehrstöckiges Gebäude mit dunkelrotem Aufbau und zahlreichen Fenstern in Sicht. Das war der Palast des Dalai Lama, den die Rote Garde seinerzeit aus unerfindlichen Gründen verschont hatte. Und in dem sich drehenden Zylinder zog angeblich der Kleine Mönch seine Runden und wiegelte die Leichtgläubigen zu staatsfeindlichem Denken auf, dem irgendwann terroristische Taten folgen würden.

Ha! Onkel Wu, der harmlose, freundliche Alte mit der Zikade, war ein Volksverräter! Der verbotene Fernsehsender und der Besuch der jungen Frau deuteten sogar darauf hin, dass er einer Widerstandsgruppe angehörte und aktiv gegen den Staat arbeitete. Tschoulao hatte es geahnt, und jetzt war seine Vermutung Gewissheit geworden. Der nachklingende kalte Schock verwandelte sich in glühenden Hass. Er stürzte in die Kochnische, wühlte mit zitternder Hand ein Messer aus einer Schublade, eilte in den Wohnraum zurück und begann die Wand zu zerkratzten. Die Kratzer verbreiterten sich in der Displayschicht zu schwarzen Kanälen, was aussah, als werde Tibet von einem Erdbeben heimgesucht, das den Palast der Volksverdummer mitsamt den lächerlichen Gebetsmühlen und den verblendeten Gaffern verschlingen würde.

Es knisterte, dann wurde die Wand erst schwarz, dann grau.

Tschoulao stemmte die Hände in die Seite und betrachtete sein Werk voll Genugtuung, dann steckte er das Drachenarmband in die Tasche und ließ sich per Sprachwahl mit seinem Vertrauensoffizier verbinden.

»Ich möchte Anzeige erstatten«, sagte er, als die Automatenstimme sich meldete. »Es geht um einen Nachbarn.«

7

Es war später Abend, doch davon war in Kungs gruftartiger Behausung nichts zu merken. Hier herrschte ewiges Halbdunkel, in dem die Displays und Kontrollleuchten glommen wie das Cockpit eines Raumfahrzeugs. Es war, als habe sich das normale Leben auf einen anderen Planeten zurückgezogen, und die einzige Verbindung zwischen dieser zeitlosen Kapsel in der Leere des Raums und dem Alltag der Menschen seien schmale Funkbänder und flackernde Bilder, die umso unverständlicher erschienen, je länger man sie anschaute. Sie gehörten einer fremden Welt an, in der andere, undurchschaubare Regeln galten.

Xialong war es recht. Der schummrige Raum mit seinen bunten Punktlichtern übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus, ganz so, als wären mit den momentanen Sorgen auch die dahinter verborgenen Probleme verschwunden.

Kung wusste, dass dies ein Irrtum war.

»Gib mir mal dein Com«, sagte er.

»Das hab ich bei Onkel Wu gelassen, weil es nicht mehr richtig funktioniert hat. Ist übrigens das Gleiche wie deins.«

»Meins ist ein Plagiat.«

»Oh.«

»Jedenfalls müssen wir das holen.«

»Holen?« Hieß das, sie durfte nicht bei Onkel Wu bleiben? Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie gehofft hatte, er werde sie solange bei sich aufnehmen, bis sich alles geklärt hätte. Und dass es sich aufklären würde, glaubte sie noch immer. Die verstörenden Geschehnisse der letzten Stunden würden sich als böser, aber letztlich substanzloser Albtraum entpuppen, und sie würde wieder einschwenken auf die schnurgerade in die Zukunft weisende Bahn, der sie ihr Leben lang gefolgt war. Anders konnte es nicht sein. Es wäre ebenso absurd gewesen, als wenn auf einmal zwei Sonnen am Himmel gestanden hätten.

Kung seufzte. Sein Gesicht war ein heller Fleck, zusammengesetzt aus kleineren bunten Flecken. Er schwenkte den Teebecher in der Hand, ohne zu trinken.

»Also, wie ich das sehe, hat jemand deine Identität angenommen und deine Passwörter und Log-ins geändert. Du hast gemeint, dieser Sammo habe deine Anwesenheit im Geschäft bestätigt?«

»Das hat der Polizist gesagt. Ich habe nicht mit ihm gesprochen.«

»Dafür gibt es zweierlei Erklärungen: Entweder Sammo steckt mit dem Identitätsdieb unter einer Decke und hat der Polizei gegenüber gelogen, oder er wurde von ihm getäuscht.«

»Aber wie denn getäuscht? Dann müsste er ja so aussehen wie ich.«

»Und wenn er das tut?«

»Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Ich mir auch nicht.« Kung stellte die Wasserflasche ab, seine Finger zuckten. Gierig starrte er den Noser an, der zwischen zerknautschten PB-Tüten und einer aufgeklappten Plastbox mit Speicherelementen lag, die wie metallisierte Käfer aussahen.

»Trotzdem«, sagte er. »Jemand hätte dich erkennen müssen. Die Angestellten waren im Geschäft. Sie hätten wissen müssen, dass du nicht in deinem Büro warst.«

»Der Polizist hat mit Sammo gesprochen, und dann wollten sie mich festnehmen.« Xialong sah ihn flehentlich an, dabei kannte sie ihn gar nicht. Dieser hagere, nervöse Bursche mit der bleichen, fadenscheinigen, welken Haut war ihr fremd und unheimlich, und trotzdem hatte sie das Gefühl, er sei der Einzige, der ihr helfen konnte. Offenbar war ihre Lage verzweifelter, als sie sich eingestehen mochte.

»Trink einen Schluck«, sagte Kung, der vergessen hatte, ihr Tee anzubieten. Er schob ihr seine Wasserflasche hin. »Ich verschwinde mal eben nach nebenan. Wenn ich zurückkomme, gehen wir zu Onkel Wu, holen deine Sachen und das Com, und dann probiere ich, in deine Accounts reinzukommen. Wird schon klappen.« Er sprang auf, schnappte sich den Noser vom Tisch und verschwand in der Vielzwecknische. Er zog das Fläschchen mit dem Neeze aus der Tasche, klappte den Toilettendeckel hoch, ließ die Hose herunter und setzte sich auf die Schüssel. Der Noser sah aus wie eine Miniaturbrille mit runden, dicken Gläsern. Er klappte ihn auf und träufelte je fünf Tropfen auf die luftdurchlässigen Schwämme, dann steckte er die Flasche ein, klappte den Noser zu und drückte ihn in die Nasenlöcher.

Und atmen – durch die Nase ein, durch den Mund aus.

Ein … und aus.

Ein … und … aus.

Das inwendige Zittern hörte auf. Irgendetwas entspannte sich im Unterleib, er pinkelte in die Schüssel, ein glockenhelles Rieseln, ein anstrengungsloser Zeugungs- und Schöpferakt. Köstliche Ruhe breitete sich in ihm aus. Er war bei sich. Er war ganz. Und doch schwang in diesem großen, leeren Raum, der er war, eine Art Sehnsucht, ein zarter Wunsch mit: sich anzuvertrauen, seine stille Ekstase zu teilen. Er streckte die Hand zum Waschbecken aus, doch das HeadGear war nicht da, er hatte es nicht mitgenommen, als er – vor wie langer Zeit? – hierhergekommen war.

»Kung?«

»Ja?«, antwortete er automatisch.

»Was machst du? Ich glaube, ich hab Angst.«

Die Frau nebenan, er hatte ihr etwas versprochen.

»Das brauchst du nicht«, sagte er. »Ich bin gleich fertig.« Er richtete sich auf, zog die Hose hoch, packte Neeze und Noser ein und spülte.

»So!«, sagte er zu laut, zu energisch, als er wieder ins große Zimmer trat. Am liebsten hätte er sich auf die Schenkel geklopft und einen kleinen Egotanz hingelegt, ahnte aber, dass er Xialong damit noch mehr beunruhigt hätte. »Auf zu Onkel Wu!«

Der Dschungel leuchtete. Diffuses grünliches Licht strahlte von den Fassaden der Glücklichen Familie aus. Sie schienen in einem Rhythmus zu atmen, der als Welle an den Gebäuden entlang floss, an der rechten Seite im Dunkel der Nacht verschwand und sich von links her erneuerte. Die Blattteppiche waren so dicht gestaffelt und die oberschenkeldicken Lianen so eng miteinander verwoben, dass man meinte, ins Innere eines hypertrophen Organismus zu blicken. Die Flaschenblüten mit ihrem roten Aufdruck glichen Symbionten, die sich über die Stängel von unsichtbaren Organen nährten.

Vor dieser morbiden vegetabilen Pracht wirkte der graue Wagen am Straßenrand unwirklich, und die kleinen Gestalten der Zuschauer, die sich vor dem Eingang des dritten Turms der Glücklichen Familie versammelt hatten, erschienen wie Zwergengeister, die sich jeden Moment verflüchtigen mochten. Doch es verhielt sich genau umgekehrt: Der Wagen war wirklich, und die beiden Anzugträger, die einen alten Mann auf den Rücksitz stießen, waren es auch, desgleichen der dürre Typ mit dem Strohhut, der ein wenig abseits der Gaffer stand und ein paar Worte mit dem rauchenden Fahrer wechselte, bevor der sich hinter das Steuer setzte und mit den Anzügen und dem Alten davonfuhr.

»Ich glaube, es ist schlimmer, als wir gedacht haben«, sagte Kung, dann bemerkte er, dass Xialong erstarrt war, ihr Gesicht eine verzerrte Fratze der Angst.

»Na komm«, sagte er leise. »Lass uns hinsetzen.« Er geleitete sie durchs Tor in den Park und setzte sich mit ihr auf eine dunkle Bank unter einem Gingkobaum. In einem vergessenen Holzkäfig zirpte laut eine Zikade, und der kleine Menschenauflauf, der durchs Gesträuch und den Zaun undeutlich zu erkennen war, verlief sich allmählich. Außer ihnen hielt sich kein Mensch im Park auf.

Als Kung der jungen Frau an seiner Seite behutsam den Rücken streichelte, löste sich ihre Erstarrung, und sie begann, heftig zu zittern. »Das ist meine Schuld«, schluchzte sie und schlug sich die Hand vor den Mund. »Sie sind hinter mir her, und jetzt haben sie Onkel Wu …«

»Sie?«, sagte Kung. »Wer sind ›sie‹?«

»Ich weiß es nicht!«, jammerte Xialong. »Ich weiß es doch nicht! Ich weiß gar nichts!«

»Trotzdem müssen wir überlegen, wie es jetzt weitergeht«, sagte Kung. Ihr Weinen machte ihn verlegen, und jetzt, da die Wirkung des Neeze nachließ, beschlich ihn kalte Angst. Auf einmal erschien es ihm durchaus möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich, dass auch er die unsichtbare Grenze zwischen Unbeteiligtem und Mittäter längst überschritten hatte, auch wenn nach wie vor unklar war, worum es überhaupt ging. »Du musst irgendwo untertauchen«, sagte er. »Erst einmal zur Ruhe kommen. Bei einem Freund.«

»Ich habe keine Freunde«, schniefte sie.

»Das glaube ich nicht. Jeder hat doch Freunde – ich meine, jeder außer mir. Zumindest irgendwelche Bekannte, die er um einen Gefallen bitten kann.«

Xialong schüttelte den Kopf und überlegte angestrengt. Ihr Lover Choum? Sie hatte mit ihm geschlafen, doch sie kannte ihn nicht, und er kannte sie nicht. Er wollte morgen nach Honkong zurückfliegen. Würde er bereit sein, die Rückreise zu verschieben, wenn sie ihn um Hilfe bäte? Und was könnte er überhaupt für sie tun, außer sie mit verlegenen Allgemeinplätzen beschwichtigen? Er war hier ein Fremder, kannte sich nicht aus.

Dann vielleicht Tse Ma, ihre Nachbarin aus dem Wohnturm, deren Ameisen sie manchmal fütterte, wenn sie verreist war? Außer ein paar Bemerkungen über das erstaunlich komplexe System der Plexiglasröhren, die ihre ganze Wohnung durchzogen, hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt. Zhang Sammo hatte sie noch nie privat getroffen, die Angestellten kannte sie nur aus dem Geschäft. Sa Sun, die Tochter ihres Englischlehrers, mit der sie einige Male ausgegangen war, hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen, nicht einmal übers Com. Und ihre Mutter … ihre Mutter war vorerst nicht zu erreichen. Abgesehen davon wusste sie ihre Comadresse nicht, kannte nicht einmal ihre Mailadresse auswendig, das hatte alles Ken für sie arrangiert, und das, was von ihm noch übrig war, war auf ihrem Com gespeichert, das sie bei Onkel Wu liegen gelassen hatte und das jetzt vermutlich in den Händen der Leute war, die ihn entführt oder verhaftet hatten. Es hätte auch keinen Sinn gehabt, am Tor des Kleinen Himmels zu klingeln und darauf zu hoffen, in der Wohnung ihrer Mutter jemanden anzutreffen, der ihr helfen konnte. So wie die Dinge standen, wäre das zu gefährlich gewesen. Und sonst … sonst gab es niemanden. Sie hatte keine Freunde. Sie war reich, erfolgreich, zu Großem bestimmt – und doch mangelte es ihr am Grundlegendsten, Einfachsten, Allgegenwärtigsten des Lebens – an Freundschaft. Sie war allein. Das war merkwürdig, und noch merkwürdiger war, dass es ihr all die Jahre über nichts ausgemacht hatte, ja, dass es ihr nicht einmal aufgefallen war. Sie hatte in einem wohltuenden, betäubenden Nebel gelebt. Jetzt lichtete sich der Nebel, und zum Vorschein kam eine neue Welt, auf die sie nicht vorbereitet war.

»Wir müssen ins Geschäft«, sagte sie unvermittelt.

»Was?«

»Wir müssen ins Geschäft«, wiederholte sie. »Jetzt gleich.«

Das Himmlische Geschöpfe hatte drei Eingänge: das Kundenportal an der Straßenecke mit dem kleinen Platz davor, das Lieferantentor, das zum Innenhof hinausging, und den unauffälligen Beschäftigteneingang neben dem Schaufenster, der in ein schmales Treppenhaus führte. Exakt drei Personen hatten zu jeder Tages- und Nachtzeit Zugang zu Himmlische Geschöpfe: Zhang Sammo, der stellvertretende Geschäftsführer, Tsema, der Lagerchef (für den Fall, dass eine dringende Lieferung außerhalb der Geschäftsstunden eintraf), und Xialong. Normalerweise identifizierten sie sich mit der ID-App des Coms, doch darauf konnte sie nicht mehr zugreifen, da sie das Com in Onkel Wus Wohnung zurückgelassen hatte, und es hätte wohl auch nicht mehr funktioniert. Der Annäherungssensor, der ihre Anwesenheit bemerkt hatte, verlangte bereits zum dritten Mal mit metallisch schnarrender Stimme: »Bitte identifizieren Sie sich!« Xialong wusste, dass nach der sechsten Aufforderung bei der zuständigen Überwachungsfirma ein automatischer Alarm ausgelöst werden würde. Dann würde es keine zehn Minuten dauern, bis ein Wagen hier eintreffen würde.

»Und jetzt?«, flüsterte Kung, nervös von einem Bein aufs andere tretend. Sie standen dicht beieinander, und er bekam mit, dass sie mindestens zwei Tage lang nicht geduscht hatte. Er war in dieser Beziehung unempfindlich – gegen sich selbst und andere.

»Es gibt ein Failsafe«, sagte Xialong.

»Ach ja? Und wie funktioniert das?«

»Kombinierte Stimm- und Gesichtserkennung.«

»Nicht gerade der neueste Standard.«

Xialong grinste. »Override«, sagte sie. Das Sensorfeld färbte sich dunkelgrün, und einen Moment lang spiegelte es ihr Gesicht, dann klickte das Schloss, und die Tür sprang auf. Sie zwängten sich in den schmalen Flur. Xialong zog die Tür hinter sich zu.

Kung holte die Kopfleuchte aus seinem Rucksack, setzte sie auf und schaltete sie ein. Auch für Xialong hatte er eine Kopfleuchte eingepackt. »Und wenn jemand das Passwort geändert hätte?«, sagte er, als er ihr das elastische Band über den Kopf streifte.

»Das war kein Passwort, sondern ein Systembefehl.«

Kopfschüttelnd stapfte er hinter ihr über die schmale Fluchttreppe zur ersten Etage hoch. Vom Geländer der Empore aus blickte er in den dunklen Geschäftsraum hinunter. Die Bots ruhten unter ihren grauen Staubhüllen, schlafende Maschinen, von den draußen vorbeifahrenden Autos und der Straßenbeleuchtung in ein unstetes Halblicht gehüllt. Xialong hatte inzwischen die Tür zu ihrem Büro geöffnet, ebenfalls mittels Gesichtsidentifizierung. Sie kicherte leise; die Heimlichtuerei machte ihr offenbar Spaß.

Kung hingegen war beklommen zumute. Er kam sich vor wie ein Einbrecher, und auch wenn dieses Gewerbe eine gewisse Verwandtschaft zum Hacken aufwies, war das hier doch etwas grundlegend anderes. Es war die Realität, und wenn man erwischt wurde, reichte es nicht aus, die Datenleitung zu kappen.

Xialong hatte inzwischen hinter dem Schreibtisch auf ihrem Sessel Platz genommen. Ein Display fuhr hoch und beleuchtete fahl ihr Gesicht. Auf einmal sah sie aus wie eine Schauspielerin – wie eine Agentin in einem Thriller. Ihre Finger flogen über die Tastatur.

»Du kannst zehn Finger?«, fragte Kung.

»Du nicht?«

Nein, konnte er nicht. Das chinesische Schreibsystem mit Umschrifteingabe und Auswahl des Zeichens aus der Ergebnisliste hatte er nie gemocht. Er verwendete eine amerikanische Tastatur im Zweifingersystem mit zusätzlicher Spracheingabe.

Während Xialong auf den Bildschirm starrte und hin und wieder eine Handgeste für die Kamera vollführte, behielt er den Verkaufsraum und die Straße im Auge. Der Autoverkehr war stark, doch es waren relativ wenige Fußgänger unterwegs. Zwischen ihnen bewegten sich die kleineren Bots, die keinen Unterschied kannten zwischen Tag und Nacht und für ihre Besitzer Aufträge ausführten, während diese schliefen. Sie kauften ein, holten Pakete ab, entsorgten Müll und führten Hunde aus. Fast konnte man meinen, sie seien die eigentlichen Bewohner dieser Stadt, die ihren vermeintlichen Herren nur dann einen kurzen Auftritt gestatteten, wenn die Sonne die Staubglocke erhellte.

Ein erstickter Aufschrei kam vom Schreibtisch. Er ging hinüber. Xialong fixierte das Display, die Hand vor den Mund geschlagen.

»Was hast du?«, fragte er und legte ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter. Er spürte, wie sich etwas in ihr verflüssigte. Auf dem Display liefen die Bilder von vier Überwachungskameras. Xialong zeigte auf einen Punkt der Zeitschiene. Das Bild sprang um.

»Da!«, sagte Xialong. »Siehst du?«

Im linken oberen Fenster war der Eingang des Geschäfts zu sehen. Eine schwarze Schwebelimousine hielt auf dem Vorplatz, zwei Männer in dunklen Anzügen sprangen heraus. Hinten stieg eine Frau aus: Xialong, bekleidet mit einem hellen, eng geschnittenen Kostüm. Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn, schaute ein wenig verwirrt oder abgelenkt zur Seite, dann trat sie durch die Glastür in den Präsentationsraum. Im zweiten Kamerafenster durchquerte sie den Raum, nickte nach rechts und links Angestellten zu. Kurze Zeit später tauchte sie auf der Empore auf.

»Das bist du«, sagte Kung.

»Nein«, widersprach Xialong und deutete auf die Zeitliste. »Das war vorgestern um siebzehn Uhr zwölf. Ich habe das Geschäft am Vormittag verlassen und bin nicht wiedergekommen. Um die Zeit habe ich draußen ein Stück weiter auf einer Bank gesessen. Ich habe gesehen, wie der Wagen vorgefahren ist. Ich habe gesehen, wie diese Frau ins Geschäft gegangen ist.«

»Und dann?«

»Bin ich zu mir nach Hause gefahren und wurde von der Mottendrohne angegriffen.«

»Ich verstehe«, sagte Kung, obwohl er nichts verstand. Xialong ließ die Videoaufzeichnungen noch einmal ablaufen: Ankunft des Wagens, Betreten des Geschäfts, Durchquerung des Präsentationsraums, Empore. Beim dritten Mal zoomte sie auf das Gesicht der Frau. Ein Irrtum war ausgeschlossen: Das war sie und war es auch wieder nicht.

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