Kitabı oku: «Übungen im Fremdsein», sayfa 4
Verstand gegen Verstand – Singer
Peter Singer ist der radikalste Ethiker unserer Zeit. Wir kennen seine erhellende und schlüssige Argumentation für die Rechte der Tiere. Seit Jahren legt er dar, wie irrational und unlogisch unser Verhältnis zu diesen Wesen ist. Seine Methode ist die des Philosophen: die Ordnung der Vernunft dort einzuführen, wo Vorurteile und Inkonsequenz herrschen.
Für Singer ist das fundamentale Prinzip, auf das sich die Gleichheit aller menschlichen Wesen stützt, das Prinzip der gleichen Abwägung von Interessen. Dem wird jeder zustimmen, der die Rassen- oder Frauendiskriminierung zu den drängendsten moralischen und politischen Fragen zählt. Niemand bezweifelt heute mehr, dass eine derartige Diskriminierung ethisch verwerflich ist. Singer geht noch weiter und fordert, das Gleichheitsprinzip als sittliche Grundlage der Beziehungen zu anderen Menschen auf das Verhältnis zu den Tieren auszuweiten. Warum? Weil die Sorge für die anderen nicht davon abhängen dürfe, was sie seien und welche Fähigkeiten sie besäßen (wenngleich natürlich auch von ihren unterschiedlichen Merkmalen und Eigenschaften abhänge, was wir für sie tun könnten). Dass manche Menschen nicht unserer Rasse angehörten, berechtige uns schließlich nicht, sie auszubeuten. Dasselbe habe für die Tiere zu gelten – die Tatsache, dass sie nicht unserer Gattung angehörten, berechtige uns nicht, ihnen Leid zuzufügen.
Singer ist Utilitarist, das heißt, ethisch ist für ihn ein Verhalten, das für die Betroffenen die bestmöglichen Konsequenzen hat. »Bestmögliche Konsequenz« ist für Singer, was der Verwirklichung ihrer Interessen dient und nicht nur – wie im klassischen Utilitarismus Benthams – ihr Wohlbefinden steigert und ihren Schmerz mindert. Mit Bentham verweist Singer auf die Fähigkeit zu leiden als wesentliches Merkmal, das gleichsam jedem Wesen das Recht gebe, mit anderen leidenden Wesen, auch mit dem Menschen, auf eine Stufe gestellt zu werden.
In der buddhistischen Philosophie gibt es den Begriff des »fühlenden Wesens«. Er wird allgemein als Bezeichnung sowohl des Menschen als auch anderer, nichtmenschlicher Lebewesen gebraucht. Es ist eine besondere, ungewöhnliche Kategorie, die nichts mit der Vernunftbegabung zu tun hat, sondern sich auf die Fähigkeit zum Empfinden von Leid und Freude, zur körperlichen und geistigen Teilhabe an der Welt bezieht. Einen solchen Zugang hat unsere Philosophie erst vor zweihundert Jahren entdeckt. Singer begreift die Fähigkeit zu leiden in eben diesem Sinne und ist darin stark dem buddhistischen Denken verpflichtet. Zugleich meint er, dass sich die Widersprüche und Missverständnisse im Denken über die Tierrechte mithilfe des Verstandes lösen ließen. In Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere zeigt er seinen Lesern, wie sie ihren Standpunkt logisch und rational darlegen und auf Gegenargumente erwidern können. Er glaubt, dass der Gegner seine Ansichten ändert, wenn man ihm Unlogik oder Inkonsequenz nachweist.
Zusammenfassend können wir sagen: Singer zeigt auf, dass unser von Grausamkeit geprägtes Verhältnis zu den Tieren eigentlich unreflektiert ist. Es gründet auf Vorurteilen und entbehrt jeglicher Logik. Es ist ein Fehler im logischen Denken, der das selbstsüchtige und primitive Beharren auf den Privilegien rücksichtsloser Ausbeuter rechtfertigt. Und wenn wir nur erst unseren Verstand in seinem vollen Umfang nutzen, wie er es verdient, dann werden wir erkennen, wie primitiv und inkohärent die cartesianische Logik ist.
Können Einsicht und Empathie Instrumente der Erkenntnis sein?
Betrachten wir nun ein Buch von John Maxwell Coetzee. Für mich ist das eine Literatur, die mit einfachen (oder einfach wirkenden) Mitteln konsequent und kühl alles auf die Probe stellt, was wir für offensichtlich und gesichert halten. Die Resultate dieser plutonischen Revisionen erweisen sich meist als schockierend.
Das Leben der Tiere ist ein in vielerlei Hinsicht besonderes Buch. Bemerkenswert ist vor allem die Geschichte seiner Entstehung. Als der bekannte Schriftsteller J.M. Coetzee eines Tages zu einem Vortrag über ein beliebiges Thema an die ehrenwerte Princeton University eingeladen wird, verfasst er keinen Vortrag, sondern eine Novelle über eine fiktive Schriftstellerin, die zu zwei Vorträgen an eine andere ehrenwerte Universität kommt. Auf diese Weise wird Elizabeth Costello ins Leben gerufen, eine anerkannte siebzigjährige Autorin. Costello ist fortan mindestens ebenso real wie Coetzee – der Autor. Eigentlich ist sie sogar realer, weil die Fiktion in gewisser Hinsicht mächtiger ist als die Wirklichkeit und ihre Figuren echter sind als die lebenden Menschen. Das ist das große Geheimnis der Literatur. Coetzee – ein Meister der Distanz – weiß das genau und tritt aus dem eigenen Vortrag zurück in den Schatten, hinter die Kulissen der Bühne, die er vor unseren Augen errichtet.
In ihren Vorträgen spricht Elizabeth Costello über Tiere, obwohl das Publikum eher ein literarisches Thema erwartet. Wir verfolgen die Auftritte der Schriftstellerin wie reale Ereignisse, wir verfolgen ihre Gedankengänge, aber dank unserer bevorzugten Stellung als Leser erfahren wir darüber hinaus auch etwas über den psychologischen und biographischen Hintergrund der Vorträge. Coetzee scheint zu sagen, man könne die Ansichten eines Menschen nicht von ihm selbst trennen; die Auffassungen und Überzeugungen einer Person ließen sich nur im Zusammenhang betrachten, im Gesamtbild dessen, was diese Person ausmache – ihre Beziehungen zur Welt, ihre Emotionen, ihre Taten. Entgegen dem, was an den Universitäten gelehrt werde, und entgegen der mächtigen Institution der nach maximaler Objektivität strebenden Wissenschaft müsse deshalb jede Artikulation von Ansichten subjektiv bleiben. Unsere Kommunikation sei bedeutungsvoll und tiefgründig, insofern sie ein Austausch von Subjektivem und somit nicht restlos Kommunizierbarem bleibe. Und er sagt weiter: Nur die literarische Fiktion vermöge die Subjektivität des Menschen (und zugleich sein Gesamtbild) wiederzugeben, nur die Fiktion mit ihren Möglichkeiten, eine ganze Person aufzubauen, sei den Argumenten des Verstandes (und somit der traditionellen Form des akademischen Vortrags) überlegen.
Die Protagonistin des Buchs ist eine ältere Frau, eine Schriftstellerin, die zu Ruhm gekommen ist und sich nun in einer Lebensphase befindet, in der man eher Dinge, die einem wichtig sind, zu Ende bringt und resümiert, als Neues zu beginnen. Dass sie die Einladung zu den Vorträgen annimmt, entspringt wahrscheinlich ihrem Bedürfnis, über Fragen zu sprechen, die ihr persönlich bedeutsam sind, zu sagen, was sie fühlt und denkt, ohne Rücksicht auf den Eindruck, den sie auf andere macht, oder auf das Prestige. Deshalb gestattet sie sich eine radikale Haltung und schreckt weder vor Pathos noch vor dramatischen Vergleichen zurück. Die Themen ihrer Vorträge – »Die Philosophen und die Tiere« und »Die Dichter und die Tiere« – dienen ihr letztlich als Vorwand, einen sehr persönlichen, emotionalen und von Empörung getragenen Standpunkt zur jahrhundertealten Tradition des menschlichen Umgangs mit anderen Lebewesen zu formulieren. Wie kann es sein, dass wir die Grausamkeiten, die wir ihnen unablässig zufügen, nicht sehen und nicht darauf reagieren? Worin gründet die rationale Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, was sind ihre philosophischen Prämissen, und können wir diesen überhaupt vertrauen, wenn sie uns gleichgültig machen gegen offensichtliche Tatsachen?
Der Mensch habe den Krieg mit den Tieren gewonnen, sagt Costello. Sie seien heute unsere Gefangenen und Sklaven, denen wir – um diesen abscheulichen Zustand zu legitimieren – ihre Rechte als Subjekte genommen hätten. Wir bedienten uns dabei des Verstandes, den wir den Tieren konsequent absprechen. »Natürlich wird der Verstand sich selbst zum obersten Prinzip des Universums erklären – was sollte er auch sonst tun?«[2], fragt Costello. »Sowohl der Verstand als auch sieben Jahrzehnte Lebenserfahrung sagen mir, dass die Vernunft weder das Wesen des Universums noch das Wesen Gottes ist. Nein, die Vernunft sieht mir verdächtig nach dem Wesen des menschlichen Denkens aus; schlimmer noch, nach dem Wesen einer bestimmten menschlichen Denkweise.«[3]
Wie der menschliche Verstand sein Territorium ebnete und absteckte, zeigt Costello am Beispiel der 1917 von Wolfgang Köhler durchgeführten Pionieruntersuchungen an Schimpansen. Die Schriftstellerin versucht, sie neu zu interpretieren, indem sie sie nicht aus der Sicht des Menschen, sondern aus der Sicht des untersuchten Affen betrachtet. Auf diese Weise entlarvt sie die verborgenen – und sicher unbewussten – anthropozentrischen Prämissen dieser Forschungen, deren Wert dadurch völlig infrage gestellt wird. Wir wissen nicht, ob Affen einen Verstand haben oder nicht und ob er wie unserer beschaffen ist oder gänzlich anders. Doch selbst, wenn er anders beschaffen wäre – würde das unsere Taten rechtfertigen?
Die beiden Vorträge sind nicht nur eine Reflexion über die philosophischen Argumente, die dem westlichen Verhältnis zu den Tieren zugrunde liegen, und nicht nur eine Umdeutung ethologischer Studien. Coetzee fordert, wie ich glaube, durch Costellos Mund eine Aufwertung zweier vergessener, unterschätzter und marginalisierter Weisen der Welterfahrung: der Einsicht und der Empathie. Er erhebt sie in den Rang gleichberechtigter, dem Menschen vielleicht sogar angemessenerer Instrumente der Erkenntnis.
In der letzten Szene der Novelle fragt Elizabeths Sohn, während er sie zum Flughafen bringt, warum sie begonnen habe, sich derart intensiv mit den Rechten der Tiere zu befassen. Ihre Antwort ist vage und beunruhigend: »Eine bessere Erklärung dafür ist, dass ich dir den Grund […] nicht zu sagen wage […]. Wenn ich an die Worte denke, kommen sie mir so ungeheuerlich vor, dass sie am besten in ein Kissen gesprochen werden oder in eine Grube, wie in der Geschichte vom König Midas. […] Ist es denn möglich, frage ich mich, dass sie alle an einem Verbrechen unvorstellbaren Ausmaßes teilhaben? Phantasiere ich mir das alles zusammen? Ich muss wohl verrückt sein! Aber tagtäglich sehe ich die Beweise. Eben die Leute, die ich verdächtige, liefern den Beweis, stellen ihn zur Schau, bieten ihn mir an. Leichen. Leichenteile, die sie mit Geld gekauft haben. […] Doch ich träume nicht. Ich schaue in deine Augen, in Normas Augen, in die Augen der Kinder, und ich sehe nur Freundlichkeit, menschliche Freundlichkeit.«[4]
Costello scheint zu den Menschen zu gehören, die gesehen haben und sich bewusst geworden sind, oder vielleicht sollte man besser sagen, die das grundlegende, entsetzliche Wesen der Welt erkannt haben, denn das Wort »erkennen« impliziert einen singulären Wahrnehmungsakt. Es ist erstaunlich, dass wir den Horror im Alltag übersehen, dass er uns verborgen bleibt, dass wir nicht in Grauen erstarren. Wirken die Abwehrmechanismen so stark – die alltäglichen, pragmatischen Argumente, aber auch die philosophischen, die wir unter anderem bei Descartes und Thomas von Aquin finden? Ist es vielleicht die typisch menschliche Furcht vor Erschütterungen, die gewohnheitsmäßige perzeptive Trägheit, der Mangel an Reflexion, die Bequemlichkeit der Ignoranz? Es genügt uns, dass die gegebene Welt ist, wie sie ist. Doch unsere perzeptive Passivität hat eine moralische Dimension – sie verstetigt das Böse. Wenn wir uns dem Erkennen verweigern, werden wir zu Komplizen des Bösen, zu Mitschuldigen. Die moralische Anstrengung ist also im Grunde eine kognitive – wir müssen auf neue, schmerzliche Weise erkennen.
Wer einmal das ganze Grauen gesehen hat, das die Menschen den Tieren bereiten, wird nie wieder ruhig bleiben. »Rings um uns herrscht ein System der Entwürdigung, der Grausamkeit und des Tötens, das sich mit allem messen kann, wozu das Dritte Reich fähig war«[5], sagt Costello. Dieser Vergleich ruft umgehend Protest und Empörung hervor, doch Costello verteidigt sich nicht.
Der für Entrüstung sorgende Holocaust-Vergleich bezieht sich sowohl auf die Gleichsetzung der Massentötung von Tieren mit der Vernichtung der Juden als auch auf die Frage nach der Rolle der stummen Zeugen des Verbrechens, die zwar nicht mit eigenen Händen mordeten, aber schweigend danebenstanden – Deutsche, Polen, Amerikaner, Briten und alle, die nicht glauben wollten, was sie auf Fotografien sahen.
Einsicht ist die plötzliche, umfassende und spontane Vergegenwärtigung des Wesens dessen, was wir wahrnehmen. Sie ist eine besondere Art der Wahrnehmung – vielschichtig und simultan. Das Was, Wo, Wie, Warum und Zu-welchem-Zweck fallen in eins zusammen; es ist ein zugleich intellektuelles, emotionales und intuitives Erkennen.
Die Einsicht ist einmalig. Sie ist ein Moment, hat aber ihre Konsequenzen in der Zeit – es gibt kein Zurück zum vorherigen Zustand. Das neue Bewusstsein kann schmerzlich und schrecklich sein, es kann die Erfahrung eines Grauens bedeuten, das sich nur ins Kopfkissen flüstern lässt. Von nun an wird jedes Ereignis zu dieser neuen Sensibilität beitragen, und man wird die Welt mit neuen Augen sehen – als eine radikal grausame. Und man wird in ihr leben müssen. Costello findet ihre eigene Lösung: Wenn man einmal »erkannt« hat, ist das Einzige, was einem bleibt, eine »mitfühlende Vorstellungskraft«[6] zu entwickeln, das heißt Mitgefühl oder, in der Begrifflichkeit der westlichen Psychologie, Empathie.
Insbesondere die Empathie ist das Thema von Costellos zweitem Vortrag, und ein großer Teil der Diskussionen in Das Leben der Tiere kreist um diese Frage. Die Schriftstellerin verweist auf Philosophie und Literatur – Bereiche, die in der Lage sind, über die rationale, praktische Sprache hinauszugehen und es einem menschlichen Wesen zu ermöglichen, ein anderes Wesen zu verstehen. Die Wissenschaft hat uns in die Irre geleitet. Allen Untersuchungen und wissenschaftlichen Experimenten zum Trotz konnten wir nicht herausfinden – und werden es wahrscheinlich nie –, was im Gemüt einer Kuh oder eines Hundes vorgeht. Wir können lediglich spekulieren und uns auf Annahmen stützen, die oft Vorurteilen gleichkommen, während wir Hunde konditionieren, Labyrinthe für Ratten bauen und zulassen, dass gleichzeitig die Maschinerie des Todes und der Grausamkeit auf vollen Touren weiterläuft.
Warum nehmen wir an, dass die Tiere weder Verstand noch Bewusstsein haben?, fragt Costello. Wenn wir es nicht wissen, könnten wir doch ebenso gut das Gegenteil annehmen, oder? Doch das tun wir nicht.
Einem Menschen, der sich in einer ähnlichen Situation befindet wie Costello, weil ihm bewusst geworden ist, dass er in einer Welt lebt, in der täglich Millionen Tiere getötet werden, ergeht es wie ihr: Er fühlt sich einsam, hält sich vielleicht sogar für verrückt. Er sieht etwas, was andere nicht wahrnehmen. Er erlebt seine Machtlosigkeit: Was kann man tun? Andere wollen nicht einmal darüber sprechen, womöglich, weil sie sich tief im Inneren doch schuldig fühlen. »So ist das Leben«, konstatiert Costello. Und fragt sich selbst: »Alle anderen finden sich damit ab, warum kannst du es nicht? Warum kannst du es nicht?«[7]
Sprechen. Die Schriftstellerin möchte in ihren Vorträgen alles auf einmal sagen. Sie versucht, mit ruhigen und logischen Argumenten zu operieren. Doch ihre Wahrheit ist größer als jedes Argument, sie lässt sich nicht in den akademischen Rahmen einschließen. Ihre Ausführungen können das in akademischen Debatten geschulte Universitätspublikum nicht überzeugen, sie lassen sich leicht widerlegen, verlachen, anzweifeln oder – wie es Norma tut, die Schwiegertochter der Schriftstellerin – als Ego-Spielchen deuten. Und doch wird diese persönliche Verweigerung der Mitwirkung an dem fortwährenden, von der Mehrheit unbemerkten Auschwitz zu einem heroischen Akt, und zwar umso mehr, als Elizabeth Costello offenbar scheitert. Sie vermag niemanden zu überzeugen. Die Zuhörer fühlen sich peinlich berührt.
Costello ist, wie wir alle, Teil einer Welt, die genüsslich alle möglichen Tabus auf die Probe stellt und für nichtig erklärt. Doch dieses eine, letzte, hält uns mit aller Macht auf Distanz. Über Tiere und ihr Leiden zu sprechen, löst Verlegenheit aus, es ist »abgehoben« – wie der Vegetarianismus oder die Forderung nach Tierrechten. Es gilt als Wunderlichkeit, als peinliche Idiosynkrasie.
Das mehrdeutige Ende des Buches eröffnet überraschend eine weitere Interpretationsmöglichkeit. Der Sohn flüstert der Schriftstellerin zu: »Na na. Bald ist es vorbei«[8], und diese tröstenden Worte lassen sich als Schuldbekenntnis deuten, vor allem aber als Eingeständnis dessen, dass wir alle uns der eigenen Grausamkeit bewusst sind und sie als integrales Merkmal der menschlichen Existenz, als Eigenschaft der Welt betrachten. Wir wissen, aber wir schweigen. In dieser Lesart erhält Coetzees Werk eine ganz andere, düstere Bedeutung, es wird zur manichäischen Diagnose der existenziellen Verstrickung des Menschen in die Finsternis, aus der einzig der Tod hinausführt.
In der Originalausgabe von The Lives of Animals wurden Costellos Quasi-Vorträge vom Verlag durch Kommentare renommierter Wissenschaftler ergänzt. Indem nun die von Coetzee verfassten Vorträge Elizabeth Costellos von anderen kommentiert werden, wiederholt sich das Schema der Erzählung. Dabei wird erkennbar, wie gehaltvoll der Text des Schriftstellers ist, welche unterschiedlichen Reaktionen er hervorruft, in wie viele Richtungen die Lektüre gehen kann. Sollte man Bücher nicht immer so lesen – in guter Gesellschaft? Zumal die Bücher von Coetzee. Seine ernsthafte, scheinbar überaus konkrete und transparente Prosa wirkt nur auf den ersten Blick intellektuell oder gar didaktisch. Im Grunde arbeitet er mit Situationen und Bildern, die offenbleiben und die sich sowohl auf die Emotionen und den gesunden Menschenverstand als auch auf den intellektuellen Diskurs beziehen.
Costellos Vorträge stützen sich auf andere kognitive Instrumente, und die Form von Coetzees Vortrag – die literarische Fiktion – bietet keine Anknüpfungspunkte für eine sachliche philosophische Diskussion. »Coetzee muss sich nicht einmal groß bemühen, den Vortrag zu strukturieren«, klagt Peter Singer in seinem Kommentar zu Das Leben der Tiere. »Wenn er bemerkt, dass Costello anfängt, wirres Zeug zu reden, genügt es, dass er Norma feststellen lässt, dass sie wirres Zeug redet.«[9] Als subjektive und damit auch »vollständige« Person, muss Costello in ihren Ansichten radikal sein, und es ist auch verständlich, dass sie sich einer anderen Argumentation bedient (wenn man die Forderung nach einer »mitfühlenden Vorstellungskraft« für einen Philosophen überzeugend nennen kann). Für seine Auseinandersetzung mit Costellos Argumenten nutzt Singer raffiniert die Form eines fiktiven Dialogs mit seiner Tochter, in dem er die Philosophie gegen die Angriffe der Schriftstellerin verteidigt. »Wir dürfen unsere Gefühle nicht für moralische Daten halten, die gegen rationale Kritik immun sind«[10], sagt er und widerspricht damit der Auffassung von Empathie als moralischer oder epistemischer Kategorie.
Die Empathie ist in der Geschichte der Menschheit eine recht junge Erscheinung. Erstmals zeigte sie sich vermutlich mehr als sechs Jahrhunderte vor Christus im Fernen Osten, in der buddhistischen Lehre. Jedenfalls benannte und würdigte niemand zuvor diese neue Haltung: den anderen so zu betrachten, als wäre man es selbst; der scheinbaren Grenze zu misstrauen, die uns von anderen trennt, denn sie ist eine Täuschung. Was immer dir geschieht, geschieht mir. »Fremdes Leiden« gibt es nicht. Die illusorische Grenze trennt nicht nur die Menschen voneinander, sondern auch die Menschen von den Tieren. In diesem buddhistischen Sinne versteht Costello die Empathie. Zwischen den Zeilen klingen atheistische Aspekte des Buddhismus an: Die Erkenntnis der Lage, in der wir uns alle befinden, treibt uns in die Enge, denn es gibt keine Hoffnung, und es sieht so aus, als wäre die Welt nicht als gut geschaffen worden, als gründete sie auf Leiden, das sich nicht vermeiden lässt. Und obwohl wir nicht wissen, warum dem so ist, müssen wir uns in diesem Ozean der Hoffnungslosigkeit anständig verhalten – das macht uns zu Menschen, nicht unsere DNA. Uns so verhalten, als hätte es eine Bedeutung, als gäbe es Prinzipien und Normen, als existierte ein erlösendes und rettendes Gutes, das unserem Handeln einen Sinn verleiht.
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