Kitabı oku: «Unrast», sayfa 4

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Unvermittelt legt er Kunicki die Hand auf die Schulter, als wären sie alte Bekannte.

»Kaffee? Trinkst du einen Kaffee?«, mit dem Kopf nickt er in Richtung des kleinen Cafés am Hafen, das gerade aufgemacht hat.

Ja, Kaffee. Warum nicht?

Kunicki setzt sich an den Tisch, der andere kommt kurz darauf mit zwei doppelten Espressi. Sie trinken schweigend.

»Mach dir keine Sorgen«, sagt der Fahrscheinverkäufer. »Hier kann man nicht verloren gehen. Hier sind wir alle sichtbar wie auf einem Präsentierteller.« Das sagt er und zeigt dabei seine von dicken Linien durchzogene Handfläche. Danach holt er ihm ein Brötchen mit Frikadelle und Salat. Schließlich geht er und lässt Kunicki mit dem halb ausgetrunkenen Kaffee allein. Als er fort ist, entringt sich Kunicki ein kleines Schluchzen, es ist wie ein Stück Brötchen, er schluckt es herunter, es schmeckt nach nichts.

Er kann die Vorstellung nicht abschütteln, dass sie sichtbar sind wie auf einem Präsentierteller. Für wen? Wer soll auf sie alle hinabblicken, auf diese Insel im Meer, die Asphaltstraßen, die sich wie Fäden von einem Hafen zum anderen ziehen, die paar Tausend in der Hitze zerfließenden Menschen, Einheimische und Touristen, die alles in Bewegung halten. Bilder von Satellitenaufnahmen fallen ihm ein, angeblich kann man auf ihnen die Aufschrift auf einer Streichholzschachtel erkennen. Ob das möglich ist? Bestimmt kann man von dort auch seinen Glatzenansatz sehen. Der große kühle Himmel voll mit den beweglichen Augen der ruhelosen Satelliten.

Auf dem Rückweg zum Auto nimmt er den Pfad über den kleinen Friedhof neben der Kirche. Alle Gräber sind wie in einem Amphitheater dem Meer zugewandt, also haben die Toten einen Blick auf das langsame, sich ständig wiederholende Leben im Hafen. Bestimmt freut sie die weiße Fähre, vielleicht halten sie sie sogar für einen Erzengel, der die Seelen auf ihrer himmelhohen Überfahrt eskortiert.

Kunicki fällt auf, dass sich wenige Namen immer wiederholen. Die Leute hier sind wahrscheinlich wie diese Katzen, sie bleiben unter sich, verkehren in einem kleinen Kreis von Familien, selten heiratet einer in die Fremde. Er bleibt nur einmal stehen, als er einen kleinen Grabstein sieht, auf dem zwei kurze Zeilen stehen:

Zorka 9 II 21–17 II 54

Srečan 29 I 54–17 VII 54

Einen Augenblick lang sucht er in diesen Daten eine algebraische Ordnung, sie sehen aus wie ein Code. Mutter und Sohn. Eine in den Daten enthaltene Tragödie, die in Etappen stattgefunden hatte. Eine Stafette.

Da hört die Stadt auch schon auf. Er ist müde, die Hitze hat ihren Höhepunkt erreicht, der Schweiß läuft ihm in die Augen. Als er mit dem Auto wieder ins Innere der Insel hinauffährt, sieht er, dass die scharfe Sonne sie in die abweisendste Gegend der Erde verwandelt. Die Hitze tickt wie eine Zeitbombe.

Auf der Polizei serviert man ihm ein kaltes Bier, als wollte man unter dem weißen Schaum die eigene Ratlosigkeit verbergen. »Keiner hat sie gesehen«, sagt der massige Beamte und dreht den Ventilator höflich in Kunickis Richtung.

»Was sollen wir machen?«, fragt er den Polizisten, der an der Tür steht.

»Ruhen Sie sich etwas aus«, sagt der.

Aber Kunicki bleibt auf dem Kommissariat und hört alle Telefongespräche und das geheimnisumwobene Knistern der Walkie-Talkies an, bis Branko kommt und ihn zum Mittagessen abholt. Sie reden kaum ein Wort. Danach lässt er sich ins Hotel fahren, er fühlt sich schwach und legt sich angezogen aufs Bett. Er riecht seinen Schweiß, den ekelerregenden Geruch der Angst.

Angezogen liegt er auf dem Rücken, umgeben von den Dingen aus den Taschen und Tüten. Angestrengt erforscht sein Blick ihre Konstellationen, ihr Verhältnis zueinander, die Richtungen, die sie weisen, die Figuren, die sie bilden. Das könnte eine Prophezeiung sein. Darin ist eine Nachricht für ihn enthalten, ein Brief über seine Frau und sein Kind, vor allem aber über ihn selbst. Er kennt nicht den Brief, er kennt nicht die Zeichen, mit Sicherheit hat sie keine Menschenhand geschrieben. Ihr Zusammenhang mit ihm ist offensichtlich, allein die Tatsache, dass er sie betrachtet, ist wesentlich; und dass er sie sieht, ist ein großes Geheimnis. Es ist ein Geheimnis, dass er überhaupt schauen und sehen kann, das Geheimnis ist, dass er ist.

Überall und nirgends

Wenn ich mich auf eine Reise begebe, verschwinde ich von der Landkarte. Niemand weiß, wo ich bin. An dem Punkt, von dem ich ausgegangen bin, oder an dem Punkt, zu dem ich strebe? Existiert ein »Dazwischen«? Bin ich wie dieser verlorene Tag, wenn man nach Osten fliegt, und die gewonnene Nacht nach Westen? Gilt für mich dasselbe Gesetz, auf das die Quantenphysik so stolz ist: dass ein Atom gleichzeitig an zwei Orten sein kann? Oder ein anderes Gesetz, von dem wir noch nichts wissen und das noch nicht belegt worden ist: dass man an ein und demselben Ort zweifach nicht existieren kann?

Ich glaube, es gibt viele, die so sind wie ich. Entschwundene, Abwesende. Sie tauchen plötzlich im Ankunfts-Terminal eines Flughafens auf und fangen an zu existieren, wenn der Beamte ihnen einen Stempel in den Pass drückt oder eine höfliche Dame ihnen an einer Hotelrezeption einen Schlüssel aushändigt. Wahrscheinlich haben sie schon entdeckt, wie wandelbar sie sind, wie abhängig von Orten und Tageszeiten, von der Sprache, der Stadt, dem Klima. Fließend, mobil, illusionshaft – das ist gleichbedeutend mit zivilisiert. Barbaren reisen nicht, sie streben nur nach einem Ziel oder fallen an einem Ort ein.

Die Frau, die mir Kräutertee aus ihrer Thermosflasche anbietet, als wir zusammen auf den Bus vom Bahnhof zum Flughafen warten, denkt ähnlich. Ihre Hände sind mit einem komplizierten Hennamuster bemalt, das mit jedem Tag blasser wird. Beim Einsteigen hält sie mir einen Vortrag zum Thema Zeit. Sie sagt, sesshafte, ackerbauende Menschen bevorzugten den Trost einer zyklischen Zeit, in der alles wieder an seinen Anfang zurückkehren muss, zu einem Keim schrumpft und den Weg zu Reife und Tod aufs Neue gehen muss. Doch Nomaden und reisende Händler mussten eine andere Zeitform ersinnen, die dem Unsteten besser entsprach. Das war eine lineare Zeit, sie war für sie geeigneter, weil sie das Maß für die Annäherung an ein Ziel und für den Zinszuwachs war. In dieser Zeitform ist jeder Augenblick neu und unwiederholbar, das macht die Menschen geneigter, Risiken auf sich zu nehmen, mit beiden Händen zu greifen, was sie bekommen können, den Augenblick auszukosten. Doch im Grunde war das eine bittere Entdeckung: Wenn eine Veränderung in der Zeit unwiderruflich ist, werden Verlust und Trauer zu einer alltäglichen Erfahrung. Deshalb haben sie auch ständig Worte wie »vergeblich« oder »verschwendet« auf der Zunge.

»Vergebliche Anstrengung, verschwendete Mittel«, lacht die Frau und verschränkt die bemalten Hände hinter dem Kopf. Die einzige Möglichkeit, in einer solchen in die Länge gezogenen, linearen Zeit zu überdauern, sei das Wahren von Abstand, sagt sie. Ein Tanz, dessen Schritte im Wechsel von Annäherung und Entfernung bestehen. Ein Schritt vor, ein Schritt zurück, ein Schritt nach links, ein Schritt nach rechts – eine Schrittfolge, die man sich leicht merken kann. Und je größer die Welt werde, desto größer die Entfernung, die man sich auf diese Weise ertanzen könne, man könne hinter sieben Meere, hinter zwei Sprachen, hinter eine ganze Religion wandern.

Ich habe jedoch eine andere Meinung zum Thema Zeit. Die Zeit aller Reisenden sind viele Zeiten in einer, eine ganze Vielheit. Das ist eine Inselzeit, Archipele der Ordnung im Ozean des Chaos, das ist die Zeit, die Bahnhofsuhren erzeugen – überall anders, eine Zeit nach Absprache, eine meridionale Zeit, die niemand besonders ernst nimmt. Die Stunden verschwinden im fliegenden Flugzeug, der Morgendämmer tritt blitzartig ein, der Mittag und gleich dahinter der Abend traben ihr schon auf den Fersen. Die hektische Zeit der Großstädte, wo man sich nur für kurze Zeit einfindet, um sich in die Gefangenschaft eines Abends zu begeben, und die träge Zeit der unbewohnten Ebenen, die man aus dem Flugzeug sieht.

Ich glaube auch, dass die Welt im Innern steckt, in den Gehirnwindungen, in der Zirbeldrüse, er steckt einem im Hals, dieser Globus. Eigentlich kann man ihn aushusten und ausspucken.

Flughäfen

Es gibt die großen Flughäfen, die uns mit dem Versprechen der Umsteigemöglichkeiten in Mengen versammeln, sie haben ihre geordneten Verbindungen und Flugpläne im Dienste der Bewegung. Doch auch wenn wir nicht vorhaben, uns in den nächsten paar Tagen fortzubewegen, lohnt es sich, sie näher kennenzulernen.

Früher wurden sie wie die Bahnhöfe an den Stadtrand gelegt, als eine Art Anhang. Aber heute haben sie sich so weit emanzipiert, dass sie ihre ganz eigenständige Identität haben. Bald wird man sagen können, dass es die Städte sind, die als Arbeits- und Schlafstätten Anhängsel der Flughäfen bilden. Denn inzwischen ist ganz klar, dass das wahre Leben in der Bewegung stattfindet.

Warum sollten heutzutage Flughäfen richtigen Städten in irgendetwas nachstehen? Es gibt dort Kunstausstellungen, Konferenzzentren, sie sind Schauplatz für Festivals und Shows. Es gibt Gärten und Promenaden, kulturelle Veranstaltungen werden angeboten. In Schiphol kann man schöne Rembrandtkopien bewundern, auf einem asiatischen Flughafen gibt es ein Religionsmuseum, eine sehr gute Idee. Außerdem haben wir dort Zugang zu guten Hotels und etlichen Bars und Restaurants. Es gibt kleine Läden, Supermärkte und Geschäftspassagen, in denen man sich nicht nur für die Reise versorgen kann, man kann bereits hier alle möglichen Souvenirs kaufen, um am Zielort keine Zeit damit zu verschwenden. Es gibt Fitness Clubs, Massagesalons – klassisch und asiatisch –, Friseure und Anlageberater, Niederlassungen von Banken und Mobiltelefongesellschaften. Wenn die körperlichen Bedürfnisse schließlich gedeckt sind, kann man sich zur geistigen Erbauung in die zahlreichen Kapellen und Meditationsräume begeben. Auf manchen Flughäfen werden für die Reisenden Autorenlesungen geboten. Irgendwo im Rucksack habe ich noch das Programm einer solchen Lesung: »Geschichte und Grundfragen der Reisepsychologie«, »Die Entwicklung der Anatomie im 17. Jahrhundert«.


Alles ist gut organisiert, Laufbänder erleichtern den Wechsel von einem Terminal zum anderen, dann geht es von einem Flughafen zum andern (manche sind mehrere Flugstunden voneinander entfernt!), und ein diskreter Ordnungsdienst sorgt indessen für das reibungslose Funktionieren dieses großen Mechanismus.

Heute sind Flughäfen mehr, als ihr Name sagt, sie bilden eine spezielle Kategorie von Stadtstaaten mit festem Standort, jedoch ständig wechselnder Bevölkerung. Die Flughafenrepubliken, Mitglieder des Internationalen Luftfahrtverbands, haben noch keine Vertretung bei den Vereinten Nationen, aber das wird sicher nicht mehr lange dauern. Sie sind ein Beispiel für ein System, in dem die Innenpolitik weniger wichtig ist als die Verbindungen mit anderen zum Verband gehörenden Flughäfen, denn nur damit können sie ihre Existenz rechtfertigen. Sie sind ein Beispiel für ein extravertiertes System, die Verfassung steht auf jedem Fahrschein gedruckt, und der einzige Personalausweis seiner Bürger ist die Bordkarte.

Die Einwohnerzahl ist stets fluktuierend. Interessanterweise sind bei Nebel und Gewitter immer Bevölkerungszunahmen zu verzeichnen. Damit sich jeder überall und stets wohlfühlen kann, dürfen die Einwohner nicht zu auffällig sein. Manchmal könnte man auf dem Laufband beim Anblick der anderen Reisebrüder und -schwestern den Eindruck haben, dass wir Präparate in Formalin sind, die einander aus ihren Gläsern angucken. Leute, die aus den Bildern in Reiseführern herausgeschnitten worden sind. Unsere Adresse ist der Platz im Flugzeug, beispielsweise 7D oder 16A. Die großen Laufbänder tragen uns in entgegengesetzte Richtungen: Die einen sind in Pelz und Mütze, andere in Hemden mit Palmenmuster und Bermudashorts, manche mit schneegetrübten Augen, andere sonnengebräunt, diese durchdrungen von nördlicher Feuchtigkeit, dem Geruch faulender Blätter und aufgeweichter Erde, jene mit Wüstensand in jeder Ritze ihrer Sandalen. Die einen dunkelhäutig, sonnenverbrannt, versengt, die anderen blendend weiß, fluoreszierend. Kurzgeschorene und solche, die sich nie die Haare schneiden. Große und Breitschultrige wie dieser Mann da, und Kleine, Zerbrechliche, wie jene Frau, die ihm gerade mal bis zur Taille reicht.

Sie haben auch ihre eigene Musik. Das ist die Symphonie der Flugzeugmotoren, ein paar einfache Klänge, die sich im rhythmusfreien Raum ausbreiten, ein orthodoxer zweimotoriger Chor, düster rußig, rot und schwarz unterlegt, ein Largo, bestehend aus einem einzelnen Akkord, der sich selbst ermüdet. Ein Requiem, das mit dem mächtigen Introitus des Starts beginnt und mit dem zur Landung abklingenden Amen endet.

Reise zu den eigenen Wurzeln

Hostels, die herbergsartigen Unterkünfte, müsste man wegen »Ageism« zur Rechenschaft ziehen, wegen Diskriminierung aufgrund des Alters. Aus irgendwelchen Gründen nehmen sie nur junge Leute als Übernachtungsgäste auf. Sie setzen sich selbst diese Altersgrenzen, doch jemand über vierzig würde die Schwelle mit Sicherheit ohnehin nicht überschreiten. Warum sollen junge Leute solch ein Vorrecht haben? Sind sie rein biologisch nicht schon mit allen Vorzügen ausgestattet?

Nehmen wir zum Beispiel diese Rucksacktouristen, aus denen sich die Mehrheit der Gäste in den Hostels rekrutiert. Männer wie Frauen sind kräftig und groß, haben gesunde helle Haut, selten rauchen sie oder konsumieren andere Schweinereien, höchstens ab und zu mal einen Joint. Sie reisen ökologisch bewusst zu Lande, mit Nachtzügen oder überfüllten Langstreckenbussen. In manchen Ländern können sie auch noch trampen. Abends kommen sie in diesen Hostels an, und beim Essen stellen sie einander Die Drei Reisefragen. Woher bist du? Woher kommst du gerade? Wohin fährst du? Die erste Frage stellt die senkrechte Achse dar, die nächsten beiden die waagrechte. Mit Hilfe dieser Konfiguration können sie eine Art Koordinatensystem erstellen, und wenn es ihnen gelungen ist, einander auf dieser Karte zu platzieren, können sie ruhig schlafen.

Einer, den ich im Zug traf, war wie die meisten auf der Suche nach seinen Wurzeln. Das war eine ziemlich komplizierte Reise. Mütterlicherseits war seine Großmutter russische Jüdin, sein Großvater Pole aus Wilna (sie hatten Russland mit der Armee von Anders verlassen und sich nach dem Krieg in Kanada niedergelassen). Väterlicherseits war sein Großvater Spanier, seine Großmutter Indianerin, den Namen ihres Stammes habe ich vergessen. Er war am Anfang seiner Reise, und das alles schien ihn etwas zu erdrücken.

Reisekosmetika

Heute bietet jede Drogerie, die etwas auf sich hält, ihren Kunden eine spezielle Serie von Kosmetika für die Reise. Manche Ketten stellen ganze Regale dafür bereit. Hier kann man sich mit allem ausstatten, was man für die Reise braucht: Shampoo, Waschmittel in der Tube, um in Hotelwaschbecken die Unterwäsche waschen zu können, zusammenklappbare Zahnbürsten, Sonnenschutzcreme, Insektenspray, Tüchlein mit Schuhcreme (erhältlich in einer breiten Farbpalette), Intimhygiene, Fußcreme, Handcreme. Das Charakteristische daran ist immer die Größe: Es sind Miniaturen, Tübchen und Gläschen, daumengroße Fläschchen, im kleinsten Näh-Set haben drei Nadeln, jeweils drei Meter Faden in fünf verschiedenen Farben, zwei weiße Notknöpfe und eine Sicherheitsnadel Platz. Vor allem der Haarlack in Sprayform wird nützlich sein, der Miniaturbehälter passt in die hohle Hand.

Offensichtlich hält die Kosmetikindustrie das Reisephänomen für eine verkleinerte Kopie des sesshaften Lebens, für seine spielerische, leicht infantile Miniatur.

La mano di Giovanni Battista

Es gibt zu viel Welt. Man müsste sie verkleinern, nicht weiter und größer machen. Man sollte sie wieder in eine kleine Dose stopfen, in ein mobiles Panoptikum, das man nur samstagnachmittags anschauen dürfte, wenn die Tagesarbeit getan, die saubere Wäsche vorbereitet ist, die gestärkten Hemden auf der Stuhllehne hängen, die Böden gescheuert sind und der Streuselkuchen zum Auskühlen auf der Fensterbank steht. Dann würde man durch ein kleines Loch hineinschauen wie in ein Fotoplastikon und jede Einzelheit bestaunen.

Leider aber ist es dafür wohl zu spät.

Wahrscheinlich bleibt einem nichts anderes übrig, als zu lernen, wie man unentwegt eine Wahl trifft. Wie man so wird wie der Reisende, den ich einmal in einem Nachtzug kennengelernt habe. Der sagte, er müsse in regelmäßigen Abständen in den Louvre fahren und vor dem einen Bild stehen, das es seiner Meinung nach wert ist, gesehen zu werden. Vor dem Bild von Johannes dem Täufer, um mit dem Blick seinem erhobenen Finger zu folgen.

Original und Kopie

In der Cafeteria eines Museums sagte mir einmal jemand, nichts vermittle ihm eine solche Befriedigung wie der Umgang mit Originalen. Er stellte auch die Behauptung auf, je mehr Kopien es auf der Welt gebe, desto größer sei die Macht des Originals, eine Macht, die manchmal fast so groß ist wie die einer Reliquie. Denn wichtig ist das Einmalige, weil darüber die Gefahr der Zerstörbarkeit schwebe. Die Bestätigung seiner Worte fand sich in Gestalt einer Touristengruppe, die in der Nähe mit gottesdienstartiger Andacht ein Bild Leonardo da Vincis zelebrierte. Nur ab und zu hielt jemand die Spannung nicht aus, das deutlich vernehmbare Klicken eines Fotoapparates ertönte und klang wie eine Art »Amen« in einer neuen Zeichensprache.

Der Zug der Feiglinge

Es gibt Züge, die ganz auf den Schlaf der Passagiere eingerichtet sind. Der ganze Zug besteht nur aus Schlafwagen und einem Buffetwagen, nicht mal ein richtiger Speisewagen ist nötig. Ein solcher Zug verkehrt zum Beispiel zwischen Stettin und Breslau. Er fährt um 22.30 los und kommt um 7.00 an, obwohl die Strecke gar nicht so lang ist, es sind gut 340 Kilometer, die müssten sich in fünf Stunden zurücklegen lassen. Aber es geht ja nicht immer nur um Geschwindigkeit, das Unternehmen denkt auch an den Komfort der Passagiere. Der Zug hält auf offener Strecke und steht in Nacht und Nebel, ein leises Hotel auf Rädern. Es lohnt sich nicht, mit der Nacht um die Wette zu laufen.

Es gibt auch einen durchaus guten Zug auf der Strecke Berlin – Paris. Und Budapest – Belgrad. Und Bukarest – Zürich.

Ich glaube, diese Züge sind für die Leute ersonnen, die Angst vorm Fliegen haben. Sie sind öffentlichkeitsscheu, besser erwähnt man nicht, dass man mit ihnen fährt. Es wird auch keine besondere Werbung für sie gemacht. Diese Züge haben eine feste Kundschaft, nämlich den unglückseligen Teil der Menschheit, der bei jedem Start und jeder Landung tausend Tode stirbt. Das sind die mit den schwitzigen Händen, die hilflos ein Taschentuch nach dem anderen zerknüllen und die Stewardessen am Ärmel zupfen.

Ein solcher Zug steht bescheiden auf einem Nebengleis, er fällt nicht auf. (Zum Beispiel der von Hamburg nach Krakau wartet in Altona, hinter Reklametafeln verborgen.) Wer zum ersten Mal damit fährt, irrt erst auf dem Bahnhof herum, bevor er ihn findet. Das diskrete Einsteigen dauert seine Zeit. In den Seitentaschen des Gepäcks stecken Schlafanzug und Pantoffeln, Kosmetika, Ohrenstöpsel. Die Kleidung wird sorgfältig auf spezielle Bügel gehängt, Zahnbürste und Zahnpasta gibt man in die winzige aufklappbare Waschkonsole. Bald kommt der Schaffner und nimmt die Bestellung für das Frühstück entgegen. Kaffee oder Tee – das ist die Scheinfreiheit des Zuges. Wenn sie einen Billigflug gebucht hätten, wären sie in einer Stunde am Ziel, hätten Geld gespart. Und sie hätten die Nacht – in den Armen ersehnter Geliebter, ein Abendessen in einem Restaurant auf der Rue Ble-Ble, wo es Austern gibt. Ein abendliches Mozart-Konzert in einer Kirche. Einen Spaziergang am Flussufer. Doch so müssen sie sich restlos der Dauer einer Zugreise ergeben, nach althergebrachter Weise persönlich jeden Kilometer hinter sich bringen, jede Brücke, jeden Viadukt und jeden Tunnel auf dieser Reise zu Lande passieren. Nichts kann man auslassen oder überspringen. Die Räder berühren jeden Millimeter der Strecke, machen daraus ihre Augenblickstangente, eine nie wiederholbare Konfiguration von Rad und Schiene, Zeit und Ort, die es im ganzen Kosmos nur einmal gibt.

Kaum ist dieser Zug der Feiglinge ohne große Ankündigung in die Nacht aufgebrochen, füllt sich schon die Bar. Männer in Anzügen kommen für ein paar Schnäpse oder ein großes Bier, um besser einschlafen zu können; gut gekleidete Schwule blitzen mit den Augen umher wie mit Kastagnetten, Fußballfans schauen sich verloren um, getrennt von der Gruppe, die mit dem Flugzeug geflogen ist, sind sie unsicher wie Schafe außerhalb ihrer Herde; Freundinnen über vierzig, die ihre langweiligen Männer zu Hause gelassen haben und sich auf Abenteuerreise begeben.

Bald sind keine Plätze mehr frei, die Reisenden benehmen sich wie auf einer großen Party, nach und nach machen die freundlichen Bediensteten an der Bar die einzelnen Gäste miteinander bekannt: »Dieser Gast fährt jede Woche mit mir.« »Ted, der sagt immer, dass er nicht schlafen geht, aber kippt als Erster in die Falle.« »Dieser Herr fährt jede Woche zu seiner Frau, er muss sie sehr lieben.« Das ist Frau »Nie-wieder-fahr-ich-mit-diesem-Zug«. Mitten in der Nacht, wenn der Zug langsam über die belgische oder Lebusser Ebene kriecht, wenn der Nachtnebel dichter wird und alles verschwimmen lässt, dann taucht die zweite Schicht in der Bar auf: von Schlaflosigkeit erschöpfte Passagiere, die sich der Pantoffeln an den bloßen Füßen nicht schämen. Sie gesellen sich dazu, als übergäben sie ihr Wohl und Wehe in die Hände des Fatums: Was sein wird, wird sein.

Ich glaube, ihnen kann nur das Beste passieren. Sie befinden sich doch an einem beweglichen Ort, der sich durch den schwarzen Raum schiebt, sie werden durch die Nacht getragen. Niemanden kennen, von niemand gekannt werden. Aus dem eigenen Leben treten und dann wohlbehalten wieder zurückkehren.

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