Kitabı oku: «Schirach», sayfa 6
»Ihr seid das kommende Volk«: Der Reichsjugendtag in Potsdam
Trotz des Wahlerfolges vom 31. Juli war die NSDAP 1932 finanziell ziemlich schlecht ausgestattet, sodass nicht einmal mehr ein Reichsparteitag ausgerichtet werden konnte. Baldur von Schirach, der in seiner Funktion als Studentenführer Hitler schon einmal mit einer großen Veranstaltung an der Universität München überrascht hatte, bot Hitler als Ersatz einen »Reichsjugendtag« in Potsdam an.
Das obligatorische Abzeichen, das Teilnehmer von Großveranstaltungen der NSDAP erwerben konnten, hatte Adolf Hitler selbst einmal in der Wohnung von Schirach für den geplanten Reichsparteitag entworfen, und Schirach hatte einfach die Inschrift in »NS Reichsjugendtag 1932« geändert. Hitler war anfangs zwar skeptisch, aber Schirach versuchte durch umfangreiche Werbemaßnahmen und den Verkauf von Abzeichen und anderen NS-Devotionalien die Veranstaltung zu finanzieren. Das Plakat für den Reichsjugendtag entwarf der bekannteste Gebrauchsgrafiker und Reklamegestalter der Zeit, Ludwig Hohlwein187 aus München, der bereits um 1930 für den antisemitischen Bund der Frontsoldaten »Der Stahlhelm« gezeichnet hatte.188
Wenige Wochen vor der Großveranstaltung in Postdam besuchte Schirach Hitler in seinem seit 1932 permanent gemieteten Appartement im alten Berliner Hotel »Kaiserhof«, um den Ablauf persönlich zu besprechen. Hitler hatte im obersten Stockwerk eine ständige Suite bezogen und blickte von seinem Fenster direkt auf sein politisches Ziel: die Reichskanzlei. Auch Schirachs geschäftstüchtiger Schwiegervater Heinrich Hoffmann, der wie immer die Nähe Hitlers suchte, hatte sich in diesem Hotel einquartiert.189
Schirach hielt Wort: Zwischen 50.000 bis 70.000 Jugendliche der Hitler-Jugend und des Bundes Deutscher Mädel (BDM) füllten am 1. Oktober 1932 das Stadion Luftschiffhafen, in dem einst die riesigen Zeppeline gelandet waren. Potsdam war an diesem Tag zu einem Hexenkessel geworden, Kampflieder und HJ-Gesänge, Trommeln und Pfeifen der Musikzüge übertönten selbst den Verkehrslärm der zahlreichen LKW und Busse, die allmählich die Zugänge zur Stadt verstopften. Schirachs Stellvertreter und Organisationschef Karl Nabersberg hatte es nicht leicht, den Überblick über das Geschehen zu bewahren. Letzten Endes spielten das organisatorische Chaos und die logistischen Mängel keine Rolle, die Lichtinszenierung in der Nacht klappte bestens, das totale Massenerlebnis gelang. Im Rahmen der Eröffnungsfeierlichkeiten sprach Schirach einleitende Worte, bevor Hitler unter exzessivem Jubel seine Rede begann. Rhetorisch geschickt fasste er die zentralen Leitlinien seiner Zielsetzungen für die Instrumentalisierung der Jugend in Deutschland zusammen:
»Der Deutsche muß es wieder lernen, sich über Stand, Konfession und Gesellschaftsklasse hinweg als einiges Volk zu fühlen. Unser Volk stürzte von seiner stolzen Höhe, weil es dies alles vergaß, und ihr, meine deutschen Jungen und Mädel, sollt es in der nationalsozialistischen Bewegung wieder lernen, euch als Brüder und Schwestern einer Nation zu fühlen. Ihr sollt über die Berufsstände und Gesellschaftsschichten hinweg, über alles, was euch zu zerreißen droht, die deutsche Gemeinsamkeit suchen und finden […]
Die nationalsozialistische Jugenderziehung soll nicht einer Partei, sondern dem deutschen Volk zum Wohle gereichen, wie ja auch die nationalsozialistische Bewegung einmal Deutschland sein soll, und das einheitliche Bekenntnis der opferfreudigen deutschen Jugend zur Idee des Nationalsozialismus gibt hierfür den klaren Beweis. Mögen die anderen spotten und lachen, ihr werdet einmal Deutschlands Zukunft sein.


Das »totale Massenerlebnis«: Der »I. Nationalsozialistische Reichsjugendtag« am 1. Oktober 1932 im Stadion Luftschiffhafen in Potsdam wurde trotz organisatorischer Mängel zum Triumph für Baldur von Schirach. Unten: Bild aus dem HJ-Propagandastreifen »Unsere Fahne flattert uns voran«.
Ihr seid das kommende Volk und auf euch ruht die Vollendung dessen, um was wir heute kämpfen…
Der Nationalsozialismus gestaltete eine »Volksgemeinschaft«, die vom Kind an beginnt und beim Greise endet. Niemand kann diese gewaltige Symphonie des deutschen Lebens zum Schweigen bringen.«190
Dieses Konzept der klassenübergreifenden »Volksgemeinschaft« war die Basis für eine totalitäre Herrschaft, die im blutigen Zweiten Weltkrieg, im Genozid an den Juden und Jüdinnen und in der Verfolgung und Vernichtung vieler weiterer Opfergruppen endete – ohne, dass es aus der deutschen Gesellschaft heraus eine breite Widerstandsbewegung gegeben hätte.
In seinen Memoiren beschrieb Schirach seine Rolle im Zusammenhang mit der Ausrichtung des Ersten Reichsjugendtages in Potsdam 1932 und bei der Konstruktion des Führermythos um Hitler wie folgt: »So habe ich aus ehrlicher Überzeugung an der Entstehung jenes Führermythos mitgewirkt, für den das deutsche Volks so empfänglich war. Diese grenzenlose, fast religiöse Verehrung, zu der ich ebenso beigetragen habe wie Goebbels, Göring, Heß, Ley und zahlreiche andere, hat in Hitler selbst den Glauben gefestigt, dass er mit der Vorsehung im Bunde sei.« Gleichzeitig relativierte Schirach seine Verantwortung, indem er Hitler als »im Grunde gütigen Menschen, der sich zur Härte zwingen muß«, beschrieb. 191
In dem Zusammenhang ist nochmals auf Schirachs nach 1945 meist völlig unterschätzte Bedeutung als Publizist und Propagandist des Führermythos von Adolf Hitler hinzuweisen – gemeinsam mit seinem Schwiegervater Heinrich Hoffmann hatte Schirach mit kurzen, ausgefeilten Texten die Ikonografie des »Führers« inhaltlich umrahmt und Stück für Stück, Foto für Foto, den Mythos Hitler verbalisiert. Der Fotoband Hitler, wie ihn keiner kennt mit Texten von Schirach erreichte laut Zeitgeschichte-Verlag bereits 1940 die 400.000er Druckauflage. Jugend um Hitler lag 1943 bei insgesamt 260.000 Gesamtauflage und Hitler in den Bergen kam bis 1942 auf 200.000 Exemplare.
Zwar war die NSDAP bei den Reichstagswahlen vom 6. November 1932 nicht mehr so erfolgreich wie im Vergleich zu den Juli-Wahlen 1932 und verlor 4,2 Prozent (= zwei Millionen Stimmen), blieb aber mit 33,1 Prozent trotzdem stärkste Partei, gefolgt von der SPD mit 20,4 Prozent und leichten Verlusten (–1,2 Prozent). Die drittplatzierte Partei, die KPD, gewann 2,6 Prozent bei insgesamt 16 Prozent Stimmenanteil.


»Führer«, Fahne, Vaterland: Offen wird der Anspruch der Hitler-Jugend auf Totalität zelebriert, Schirach ist immer dabei. Bilder aus dem 1934 produzierten HJ-Propagandastreifen »Unsere Fahne flattert uns voran«.
In der brodelnden internen Auseinandersetzung zwischen dem NSDAP-Reichsorganisationsleiter Gregor Strasser, der einen prononciert antikapitalistischen und sozialrevolutionären Kurs verfolgte und immer wieder ideologische, aber auch strategische Konflikte mit Hitler austrug, hatte sich Schirach längst auf die Seite des »Führers« geschlagen. Trotzdem blieb er in der Zeit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler durch Paul von Hindenburg eine unbedeutende, passive Randfigur. Strasser hatte zuvor versucht, in Abstimmung mit dem amtierenden Reichskanzler der Weimarer Republik, Kurt von Schleicher, einige Ministerposten in der Regierung für die NSDAP zu bekommen, doch Hermann Göring, Joseph Goebbels und letztlich auch Adolf Hitler selbst setzten alles auf eine Karte und strebten die Kanzlerschaft an. Nach dem totalen politischen Rücktritt Gregor Strassers, dem Reichskanzler Kurt von Schleicher die Vizekanzlerschaft angeboten hatte, am 8. Dezember 1932 übernahm Robert Ley dessen Organisationsagenden. Die Spaltung der nationalsozialistischen Reichstagsfraktion in einen linken (Strasser-)Flügel und einen rechten um Hitler, Göring und Goebbels wagte Strasser letztlich nicht.
Zu Robert Ley hatte Schirach hingegen sehr gute Beziehungen: Schon in der »Kampfzeit« hatte der Kölner Gauleiter Ley nach der Verurteilung Schirachs und acht Tagen Untersuchungshaft vor dem Gerichtsgebäude eine Demonstration mit Tausenden NSDAP-Parteigängern organisiert.
Nachdem Hitler in einer Koalitionsregierung mit der Zentrumspartei und Vizekanzler Franz von Papen mit nur zwei weiteren NSDAP-Ministern zum Reichskanzler ernannt worden war, organisierte Baldur von Schirach eine größere Geldspende eines unbekannten Industriellen, um das Haus am Kronprinzenufer 10 in Berlin für die Reichsjugendführung zu erwerben. München war mit der Übersiedlung Hitlers nach Berlin für Schirach uninteressant geworden, als geschickter Netzwerker wusste er um die Bedeutung der räumlichen Nähe zu den zentralen Entscheidungsträgern der NSDAP.
Die »braune Revolution« trägt das Antlitz der Jugend: Baldur von Schirach mit »Stürmer«-Herausgeber Julius Streicher beim Aufmarsch der Hitler-Jugend am Reichsparteitag in Nürnberg 1933.
Das Hakenkreuz machte sich auf der ehemals großherzoglichen Bühne breit: Schiller-Feier im Deutschen Nationaltheater 1934.
Seit Jänner 1933 gab Schirach zweimal im Monat die Zeitschrift Wille und Macht. Führerorgan der nationalsozialistischen Jugend heraus, deren »Hauptschriftleitung« auch bald am Kronprinzenufer 10 ihren Sitz hatte. 1938 betrug die Auflage laut Verlagsangabe 60.000 Exemplare. Ab 1937 erschien im Zentralverlag der NSDAP, Franz Eher Nachf. GmbH, herausgegeben von der Reichsjugendführung, Der Pimpf. Nationalsozialistische Jungenblätter, eine Zeitschrift, die bereits seit 1935 unter dem Namen Morgen existiert hatte. Die Auflage betrug zwischen 46.000 Exemplaren 1937 und 120.000 Exemplaren 1939. Kriegsbedingt wurde die Zeitschrift am 1. September 1944 eingestellt. Eine weitere Redaktion in der Villa am Kronprinzenufer betreute bis zu seiner Einstellung 1935 das amtliche Organ der Reichsjugendführung und des Reichsnährstandes für Landjugendfragen, Jugend am Pflug. Die Zeitschrift Das deutsche Mädel (früher Die Mädelschaft) hatte in Schirachs Haus ebenso ihren Redaktionssitz wie Musik in Jugend und Volk und Die Spielschar. Zeitschrift für Feier- und Freizeitgestaltung.
Schirach stand als Reichsjugendführer an der Spitze eines Pressekonzerns, der verschiedenste Bereiche der Jugendarbeit bis hin zu Jugendmusik beeinflussen konnte und dies auch tat. Sein Hauptinteresse aber galt dem »Leitorgan« Wille und Macht, wobei es bald nach Strassers Rücktritt zu Konflikten mit Goebbels kam, der die gesamte interne Propaganda kontrollierte. So kritisierte der katholische HJ-Führer Hermogenes Ziesché aus Breslau 1934 den Beitrag »Die Bedeutung der religiösen Frage für Jugend und Arbeitertum«192 von Ernst Graf zu Reventlow in Heft 15 von Wille und Macht. Dieser vertrat radikal anti-klerikale Thesen und wollte die Jugend außerhalb der Kirche aufwachsen lassen. Ziesché meinte sogar, dass durch eine derartige Argumentation jüdische liberale Ideen wieder Platz gewinnen würden. Goebbels störte die antikirchliche Debatte innerhalb der HJ nur aus strategischen Gründen, 193 da er in anderen Zusammenhängen sogar eine Intervention des Papstes befürchtete.194 Daher versuchte er, Schirach, aber auch Rosenberg einzubremsen. Vor dem Hintergrund der bevorstehenden Saar-Abstimmung forderte er: »Der Kampf um die Saar hat begonnen. Wir werden ihn gewinnen. Nur muß (sic!) Schirach und Rosenberg kurz treten in der Konfessionsfrage. Bis wir’s haben.«195


Beispiele für von Reichsjugendführer Schirach herausgegebene Propagandaschriften: die HJ-Zeitschrift »Wille zur Macht«, die Broschüre »Das Reich Adolf Hitlers«, ein »Bildbuch vom Werden Großdeutschlands« (oben rechts), und der von Eberhard Wolfgang Moeller verfasste Band »Der Führer« (1938). Moeller war Gebietsführer im Stab der Reichsjugendführung, sein Buch stieß auf das Missfallen Alfred Rosenbergs. Schirach lobte das Werk öffentlich 1939 als: »unvergleichliches und unvergängliches Epos«.
Die Beziehungen zwischen Schirach und Goebbels wurden nicht nur durch diese Strategiedebatte bezüglich des Verhältnisses zur katholischen Kirche gestört, sondern auch durch eine höchst private Affäre. Henriette von Schirach hatte bei Hitler – so die Vermutung von Goebbels196 – wegen seiner Affären mit anderen Frauen interveniert. Ehefrau Magda hatte daraufhin einen Termin beim »Führer« erhalten, und beschwerte sich über ihren Mann.
Nach der Bestellung Hitlers zum Reichskanzler intensivierte Schirach die Werbung für die HJ, wobei neben den diversen üblichen Fahrten und Zeltlagern spezielle Freizeitprogramme angeboten wurden, die u. a. für die Sondereinheiten Flieger-, Nachrichten-, Motor- und Reiter-HJ warben.
Aber auch mit Gewalt wurden in der Organisation der traditionellen Jugendorganisationen neue Fakten geschaffen: Am 5. April 1933 ließ Schirach die Geschäftsstelle des »Reichsausschusses der Deutschen Jugendverbände« in Berlin durch eine HJ-Einheit besetzen. Daraufhin stattete ihn der Reichstag auf Vorschlag Hitlers am 10. Juni 1933 als »Reichsjugendführer des Deutschen Reiches« mit neuen Sondervollmachten aus: »Der Jugendführer des Deutschen Reiches steht an der Spitze aller Verbände der männlichen und weiblichen Jugend, auch der Jugendorganisationen von Erwachsenen-Verbänden. Gründungen von Jugendorganisationen bedürfen seiner Genehmigung.«197
Mit Verordnung vom 23. Juni 1933 wurden mit Weisung des Reichsjugendführers Schirach rückwirkend per 17. Juni alle Jugendverbände – von der Freischar Junge Nation über den Deutschen Pfadfinderbund bis hin zum erwähnten Reichsausschuss der deutschen Jugendverbände – aufgelöst; aus dem »Reichsausschuss« wurde der »Jugendführerrat«, dessen Leitung Baldur von Schirach übernahm.198 Innerhalb von knapp zwei Jahren erfolgte die Liquidierung aller übrigen Jugendverbände – gemäß der Devise, die Schirach bereits nach dem Verbot aller Parteien außer der NSDAP im Juli 1933 ausgegeben hatte: »Wie die NSDAP nunmehr die einzige Partei ist, so muß die HJ die einzige Jugendorganisation sein.«199
Im Reichstag trug Schirach als Abgeordneter alle politischen Winkelzüge Hitlers und der NSDAP mit. Nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933, den die NSDAP sofort in eine kommunistische Verschwörung umgedeutet hatte, waren Tausende Kommunisten und Sozialdemokraten verhaftet worden und durch die »Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat« wurden die Grundrechte bis auf Weiteres außer Kraft gesetzt. Trotz der Terrorwelle und der Neuwahlen am 5. März 1933 schafften die NSDAP mit 43,9 Prozent der Stimmen und die DNVP mit acht Prozent zwar eine Regierungsmehrheit, verfügten jedoch nicht mehr über eine Zweidrittelmehrheit.
Mit dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, dem sogenannten »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich«, sollte das Parlament endgültig als Legislativorgan beseitigt werden. Die 81 Abgeordneten der KPD waren bereits in Haft oder geflohen oder in der Illegalität, nur die 94 SPD-Abgeordneten stimmten gegen dieses »totale« Ermächtigungsgesetz, mit dem Hitler die gesetzgebende Gewalt vollständig übertragen wurde.
Rückblickend gesehen, markierte dieses Gesetz für Schirach das Ende der Weimarer Republik und den Beginn einer totalitären Herrschaft.200 Wie alle anderen Reichstagsabgeordneten im »Braunhemd« sang auch Schirach nach der Abstimmung begeistert das »Horst-Wessel-Lied« – ein Kampflied mit einem Text aus der Feder eines bekannten Berliner Sturmführers der SA, der 1930 infolge einer durch einen Kommunisten zugefügten Schussverletzung verstorben war. Unterlegt wurde der Text mit einer Marine-Melodie aus dem 19. Jahrhundert, das »Horst-Wessel-Lied« avancierte rasch zur zweiten Nationalhymne, ohne dass dies je formal vom Reichstag beschlossen worden war:
Die Fahne hoch!
Die Reihen dicht geschlossen!
SA marschiert
Mit ruhig festem Schritt
Kam’raden, die Rotfront
Und Reaktion erschossen,
Marschier’n im Geist
In unser’n Reihen mit.
Mit diesem Kampflied wurde ganz bewusst ein Gegenstück zur »Internationale«, dem Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung, geschaffen, die als Text bereits 1871 entstanden war und 1888 vom belgischen Sozialisten und Komponisten Pierre Degeyter eine Melodie erhalten hatte. Gleichzeitig wurde mit dem »Horst-Wessel-Lied« symbolisch auch eine weitere Verklammerung von NSDAP und Staat erreicht.
Das politische Lied war ein wichtiges Inszenierungsmittel bei der Entwicklung der Massenparteien seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und spielte bei den Aufmärschen und der laufenden Parteiarbeit der NSDAP und SA eine ebenso wichtige Rolle wie bei der HJ.
Baldur von Schirach nütze seine politische Stellung auch für seine schriftstellerischen Ambitionen aus und lieferte zahlreiche Lied- und Propagandatexte. Zentrale Themen Schirachs waren dabei die durch Fahnentreue symbolisierte, kompromisslose Kampfbereitschaft, Todesverachtung sowie die absolute Loyalität gegenüber dem »Führer« Adolf Hitler. Diese Motive bestimmten auch seinen Text für das 1933 veröffentlichte HJ-Fahnen-Lied:
1. Vorwärts! vorwärts! schmettern die hellen Fanfaren,
Vorwärts! Vorwärts! Jugend kennt keine Gefahren.
Deutschland, du wirst leuchtend stehn,
mögen wir auch untergehn.
Vorwärts! vorwärts! schmettern die hellen Fanfaren,
Vorwärts! Vorwärts! Jugend kennt keine Gefahren.
Ist das Ziel auch noch so hoch,
Jugend zwingt es doch!
Unsre Fahne flattert uns voran.
In die Zukunft ziehn wir Mann für Mann.
Wir marschieren für Hitler durch Nacht und durch Not
mit der Fahne der Jugend für Freiheit und Brot.
Unsre Fahne flattert uns voran.
Unsre Fahne ist die neue Zeit.
Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit!
Ja! Die Fahne ist mehr als der Tod! 201
Besuch beim »Führer«: Hitler-Jugend auf dem Obersalzberg, im Hintergrund das Haus Wachenfeld. Farbdruck nach einem Aquarell.

Das HJ-Liederbuch »HJ singt« von Erwin Schwarz-Reiflingen erschien 1934 im Verlag B. Schott’s Söhne, Mainz. Der Umschlag wurde von Ludwig Hohlwein entworfen.
Das Kampflied der HJ, dessen Melodie vom bekannten Filmkomponisten Hans-Otto Borgmann stammte, wurde erstmals im Propagandafilm Hitlerjunge Quex verwendet.202 Joseph Goebbels legte noch kurz vor der Filmpremiere selbst Hand am Drehbuch an, um den Propagandafilm noch wirksamer zu machen: »Danach zu Hause, H. Junge Quex‘. z. T. sehr stark. Aber es wird zu viel geredet. Die Dialoge sind ganz unwahr. Ich werde noch einige streichen.«203 Die Film avancierte nach einer gelungenen Premiere zum Kassenschlager, wie Goebbels auch mit entsprechendem Eigenlob für seine – letztlich nur marginalen – Änderungen in seinem Tagebuch festhielt: »Hitlerjunge Quex im Ufa-Palast ganz großer Erfolg. Nach meinen Änderungen wirkt der Film fast wie neu. Hitler, Göring alles da. Das Publikum ist ganz hingerissen.«204
Am Beispiel dieses Filmes lässt sich zeigen, wie geschickt die manipulierende Medienvielfalt von der NS-Propaganda genützt wurde: Sie formte bewegtes Bild, Musik und Text zu einer Einheit mit klaren ideologischen Grundaussagen. Schirach wurde nicht nur als Textdichter, sondern auch als »Protektor« des Films ins Zentrum gerückt, wie das Filmplakat mit prominenten Darstellern wie Heinrich George zeigt:
Der Film kam im September 1933 in die Kinos und sollte von der gesamten HJ gesehen werden. Auch hier spielte ein »Märtyrer« aus der Kampfzeit vor 1933 die Hauptrolle. Sein Beispiel sollte von den Hitlerjungen auch in Zukunft totale Kampfbereitschaft einfordern – ohne Rücksicht auf das eigene Leben.
Bereits in der Probezeit als »Pimpf« musste das HJ-Fahnen-Lied auswendig gelernt werden und war Bestandteil bei allen offiziellen Aufmärschen und Feiern. Es musste auch im Bund Deutscher Mädel gesungen werden.
Bemerkenswert ist jedoch, dass die in Kleingruppen noch existierende, mit drakonischen Maßnahmen verfolgte Jugendopposition trotzdem versuchte, durch ein Spottlied mit derselben Melodie nicht nur das HJ-Kampflied, sondern insbesondere ihren »Führer« Baldur von Schirach lächerlich zu machen:
Indoktrination ab dem Kindesalter: »Der Pimpf«, Dezemberheft 1938. »Hauptschriftleiter« der »Nationalsozialistischen Jungenblätter« war Herbert Reinecker (1914–2007), der später als Autor der Fernsehserie »Derrick« bekannt wurde.
Plakat zur Erstaufführung des Propagandastreifens »Hitlerjunge Quex« am 11. September 1933. Schirach hatte das »Protektorat« über die Herstellung des Films übernommen.
Brüder, Brüder, laßt uns die Flammen bewahren,
Brüder, Brüder, wehret den stumpfen Barbaren,
Nirgends laßt den Baldur ran,
Daß er nichts zertrampeln kann.
Laßt ihn trügen, werben mit lockenden Klängen,
Laßt ihn lügen, hetzen, drohen und bedrängen,
Steht er heut auch noch so hoch,
Einmal kippt er doch.
Unser Baldur flattert uns voran,
Unser Baldur ist ein dicker Mann,
Wir marschieren trotz Schirach,
durch Nacht und Verbot,
Und wir schern uns den Teufel um Neid und Verbot.
Unser Baldur flattert uns voran,
Unser Baldur meint die neue Zeit,
Doch wir halten uns wachsam und trotzig bereit,
Unser Bund gilt uns mehr als der Tod.205
Trotz dieser Persiflage auf Baldur von Schirach – das Absingen derartiger Parodien war nicht ungefährlich und konnte zur Verfolgung durch die Gestapo führen – war sein politischer Höhenflug in der NS-Bewegung scheinbar nicht zu bremsen. Wie andere NS-affine Schriftsteller – unter ihnen etwa Hanns Johst, Hans Friedrich Blunck, Hans Baumann, Curt Langenbeck oder Hans Grimm – gehörte Schirach zu den Nutznießern der hohen, politisch geförderten Auflagen seiner Bücher und Texte. Zwar berichtete Baldur von Schirach ausführlich über Hitlers Tantiemen aus Mein Kampf und über dessen diverse Honorare für Artikel,206 verschwieg aber die eigenen Tantiemen für die zahlreichen Publikationen207 und Texte, die mangels Quellen auch nicht vollständig rekonstruiert werden können. Aufgrund der vorher genannten hohen Auflagen seiner Bücher und auch der Geschäftstüchtigkeit seines Schwiegervaters ist von durchaus beträchtlichen Erträgen aus diesen Texten und Herausgeberschaften auszugehen. Da er als Beruf »Schriftsteller«anführte, könnte er die Steuerprivilegien für Kulturschaffende in Anspruch genommen haben.
Gleichzeitig proklamierte Baldur von Schirach 1933 das Bild einer neuen deutschen Jugend, »die nicht Profit will, nicht Eigennutz, sondern Dienst und Opfer für die Gemeinschaft leistet […] Keine Jugend mit neuen Rechten – eine Generation der harten Pflichterfüllung«.208
Weder Hitler, auf den die Hitler-Jugend eingeschworen wurde, noch Schirach lebten nach diesem Motto, sondern pflegten einen luxuriösen Lebensstil und hatten ein bedeutendes Vermögen aus ihren politischen Funktionen erwirtschaftet – Hitler natürlich ein wesentlich größeres als Schirach.
Adolf Hitler selbst beteiligte sich bei der emotionalen Aufladung der Jugendbewegung, die seinen Namen trug, während des Nürnberger Parteitags von 1935: Die Bergfilmerin und Regisseurin Leni Riefenstahl hat in ihrem auch künstlerisch geschickt gedrehten und montierten Propagandafilm Triumph des Willens diese Parteiveranstaltung als eine perfekt inszenierte Massenkundgebung nochmals in pathetisch überhöhter Form dokumentiert. Am Vormittag des 14. September 1935 nützte der »Führer« die Anwesenheit von 54.000 Hitler-Jungen im Nürnberger Stadion, um sie erneut für den bevorstehenden Kampf in die Pflicht zu nehmen, und formulierte den bis heute viel zitierten programmatischen Satz: »In unseren Augen, da muss der deutsche Junge der Zukunft schlank und rank sein, flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl.«209
Diese Metapher, die auch heute noch immer wieder zitiert wird, hatte Hitler bereits in Mein Kampf zur Beschreibung seiner Vorstellung von einem idealen Parteikämpfer verwendet, wobei in seiner Kampfschrift der militärische Aspekt noch deutlicher hervorgehoben wurde.210
Bei dieser Rede in Nürnberg fungierte Baldur von Schirach nur als Begrüßungsredner, der den Auftritt des »Chefs« vorbereitete, und entsprach damit eher dem vorher zitierten Spottlied.
Dennoch: Baldur von Schirach hatte durch die ideologisch umfassende zentralistische Reorganisation der Jugendbewegung und die Zerschlagung jeglicher Opposition in diesem Bereich einen bedeutenden Beitrag zur Stabilisierung der NS-Herrschaft geliefert. Besonders wichtig – und meist nicht berücksichtigt – ist die starke emotionale Bindung, an Adolf Hitler persönlich, die Schirach in Reden und Texten immer wieder den HJ-Angehörigen näherbrachte.
Die US-amerikanische Schriftstellerin und Philosophin Susan Sontag stellte bereits 1975 in ihrem Essay »Faszinierender Faschismus«, den sie als Reaktion auf Leni Riefenstahls Fotobuch über die Nuba und die Publikation SS Regalia von Jack Pia verfasste, fest: »Zur faschistischen Ästhetik gehört zwar auch ein so spezielles Loblied auf die Primitiven, wie es uns in den Last oft he Nuba begegnet; sie geht aber doch weit darüber hinaus. Allgemeiner gesprochen ist sie Ausfluß (und Rechtfertigung) eines besonderen Interesses an Situationen, in denen Beherrschung, Unterwerfung, außergewöhnliche Anstrengung und das Ertragen von Schmerzen zum Ausdruck kommen. Diese Ästhetik propagiert zwei scheinbar gegensätzliche Eigenschaften: Ichbezogenheit und Untertanengeist. Die Beziehungen zwischen Herrschaft und Versklavung kommen in einem charakteristischen Gepränge zum Ausdruck: Vereinigung von Menschengruppen zu Massenansammlungen; Umformung von Menschen zu Objekten; Multiplikation oder Reproduktion von Objekten; und das Zusammenscharen von Menschen/Objekten um eine allmächtige, hypnotische Führerfigur oder-macht. Im Mittelpunkt faschistischer Dramaturgie steht das orgiastische Wechselspiel zwischen machtvollen Kräften und ihren einheitlich gekleideten, zu immer größeren Massen anschwellenden Marionetten. Faschistische Choreographie variiert zwischen pausenloser Bewegung und erstarrten, statischen, ›virilen‹ Posen. Faschistische Kunst glorifiziert die Unterwerfung, feiert den blinden Gehorsam, verherrlicht den Tod.«211
Scharfsinnig beschreibt Susan Sontag damit die Mechanismen, die bei den heroisch-pathetisch inszenierten HJ-Veranstaltungen zum Tragen kamen. Das letzte Ziel dieser Massenerlebnisse war die totale Unterordnung unter den »Führer« und die Bereitschaft, diese absolute Gesinnungstreue auch mit seinem Leben zu bezahlen – eine Botschaft, die auch Schirach immer wieder in dem Heldenkult um die »Fahne« der NSDAP und die »Märtyrer« der HJ, die im Straßenkampf vor 1933 ums Leben gekommen waren, bediente.
Im Alltag jedoch versuchte Schirach gleichzeitig, das Gefühl der scheinbar unabhängigen Selbstorganisation zu bestätigen, obwohl die HJ – wie auch andere Organisationen der NSDAP – ganz eng an die SA und die Parteiführung gebunden war. Damit entstand aber das Gefühl der besonderen Bedeutung der Jugendlichen, die HJ-Funktionäre wurden den älteren Parteigenossen gleichgestellt. Das Motto »Jugend führt Jugend« funktionierte aber nur in einem vorgegebenen, engen ideologischen Korsett.
Dieser psychologische Mobilisierungsfaktor ist ein wesentliches Element der Herrschaftsstabilisierung und wirkte übrigens auch in Österreich innerhalb derselben Altersgruppe nach. Die NSDAP galt als eine jugendliche Bewegung. 1935 war die Mitgliederzahl in Deutschland bereits auf 3,5 Millionen angewachsen.212 Auch in Österreich, wo die NSDAP aufgrund von blutigen Terrorattentaten seit 12. Juni 1933 verboten war und nach einem gescheiterten Putschversuch im Juli 1934, bei dem der autoritär regierende Bundeskanzler Engelbert Dollfuß ums Leben kam, hielt der Zulauf gerade unter jungen Menschen weiterhin an.
1935 war Hitlers Herrschaft gefestigt, die Opposition ausgeschaltet. Jetzt konnten die Nationalsozialisten die Ausweitung ihrer Macht vorantreiben. Kurz zuvor hatten sie die Allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt – und damit das letzte Hemmnis aus der Zeit des Versailler Friedensvertrages beseitigt, mit denen die Siegermächte des Ersten Weltkrieges ein militärisches Wiedererstarken Deutschlands verhindern wollten. Und Hitlers Worte an die Jugendlichen in Nürnberg hatten Folgen: 1936 wurde die Hitler-Jugend per Gesetz zur einzigen Jugendorganisation in Deutschland, 1939 wurde die Mitgliedschaft Pflicht. Fast acht Millionen Jugendliche ab dem zehnten Lebensjahr marschierten seitdem in Uniformen, exerzierten auf Schulhöfen und nahmen an Schießübungen und Fahnenappellen teil – einzig mit dem Ziel, einmal »flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl« zu werden und in einem möglichen Krieg zu töten und – wenn es das Schicksal wollte – auch für den »Führer« zu fallen.
Am 1. Dezember 1936 stand Baldur von Schirach am Höhepunkt seiner bisherigen politischen Karriere im NS-Regime: Mit dem Inkrafttreten des »Gesetzes über die Hitler-Jugend« wurde Schirach als »Jugendführer des Deutschen Reichs« die Aufgabe der Erziehung der gesamten deutschen Jugend innerhalb der Hitler-Jugend übertragen. Er hatte nun die Stellung einer Obersten Reichsbehörde mit dem Sitz in Berlin inne und war dem »Führer« und Reichskanzler unmittelbar unterstellt.213
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