Kitabı oku: «Sterbewohl», sayfa 2

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Kapitel 3

Ich stand vor dem Wandkalender in meiner Wohnung und blickte auf die Tage, die im April noch blieben, bis sie uns abholten. Im Dritten Reich hatten sie einen abgeholt, wenn man Jude war. Jetzt holten sie dich ab, wenn du alt warst. Statt allerdings wie damals in schmutzigen Baracken zusammengepfercht auf den Tod zu warten, bekamst du in einem Luxushotel nach einem Fünf-Gang-Essen bei Kerzenlicht in einer Suite die Pille serviert, die dich aus dem Leben beförderte. Leise Musik berieselte dich, du durftest deine Lieblingsmusik wählen und Sterbewohl mit einem Glas Champagner schlucken.

Im ersten Jahr wollten sie geistlichen Beistand zulassen. Die Kirche hatte sich aber geweigert, ebenso die anderen Glaubensgemeinschaften. Öffentliche Stellungnahmen gab es hierzu aber nicht. Solange sie vom Staat geduldet wurden, hielten sie den Mund.

Ich ging langsam durch meine zwei Räume, Wohnzimmer und Schlafzimmer, musterte die Dinge, die ich noch aus meinem Elternhaus behalten hatte, Erinnerungsträger. Jede Vase, jedes Kristallglas hatte meine Familie erlebt, spiegelte meine Eltern wider. Ich war froh, dass sie schon über zehn Jahre tot waren und das hier nicht mehr miterleben mussten. Irgendwann würde alles auf dem Müll landen. Eines Tages verlor man alles. Aber jetzt schon? Jetzt war ich dazu noch nicht bereit.

Ich hatte mit nichts abgeschlossen. Mir schien sogar, ich hätte noch gar nicht richtig gelebt. Nach dem Studium hatte ich sofort die Stelle als Grundschullehrerin angetreten. Seither war ich nicht mehr aus der Tretmühle herausgekommen. Ein Tag glich dem anderen. Morgens Unterricht, nachmittags Hefte korrigieren. Abends Elternsprechstunde. Weiterbildungen, Tagungen, selten Einladungen zu Kollegen. Die Zeit dazwischen brauchte ich, um meine Arbeitstüchtigkeit aufrechtzuerhalten und meinen Haushalt zu bewältigen. Die einzige Abwechslung boten die Ferien. Da war ich regelmäßig verreist und konnte Luft schöpfen in einer anderen Welt ohne Schulmief. Ja, es war noch nicht Zeit für mich. Eben erst hatte ich den Entschluss gefasst, endlich zu leben.

Kapitel 4

In der Nacht konnte ich natürlich nicht einschlafen. Wir waren in zwei Tagen bei Fred verabredet. Er wollte bis dahin eine Journalistin kontaktiert haben, die er von früher kannte. Woher sollte Fred eine Journalistin kennen, überlegte ich erneut. Und was für eine Journalistin? Vielleicht eine alte Freelancerin, deren Artikel niemand wollte? Fred war ein netter Kerl, und deshalb sagte niemand von uns, er sei ein Hochstapler. Aber das war er. Ich hatte wenig Hoffnung, dass Fred irgendetwas Positives für uns bewirken konnte. Und selbst war ich noch gar nicht in der Lage, mir Gedanken zu machen, ob es für uns einen Ausweg gab. Die Gefühle waren einfach noch zu frisch und zu stark. Sie verhinderten, dass ich klar denken konnte.

Einstweilen zog mein Leben in Bildern an mir vorüber. Sie hatten allesamt etwas Wehmütiges. Ich sah Szenen aus meiner Kindheit vor mir, ging die Reisen durch, die meine Eltern mit mir gemacht hatten, die Weihnachtsfeste und Geburtstage, die wir gefeiert hatten, musste an meine erste Liebe im Gymnasium denken, einen Jungen, der leider nichts von mir wissen wollte, sah mein Kaninchen Tilda im Garten umherspringen, fühlte noch einmal, wie unbändig ich mich über Tilda gefreut hatte, dieses kuschlige, sanfte Wesen mit den roten Augen. Und selbst meine Zeit des Unterrichtens an der Augustus-Schule erschien mir jetzt nicht mehr so schlimm. In meinen Augen bissen Tränen, während ich im Geist durch die Granitflure wanderte, in mein Klassenzimmer, die Pulte mit den PCs vor mir sah, den Pausenhof. Selbst die Schüler konnte ich mir ohne negative Gefühle vorstellen, laut, lebhaft, mit Ausdrücken in allen Sprachen um sich werfend, sich im Pausenhof prügelnd. Sie waren auf einmal schön, denn sie waren lebendig. Sie waren am Leben und ich wäre es vielleicht bald nicht mehr.

Draußen rollten dumpf Autos vorbei. Kalte Luft zog durch das aufgeklappte Fenster in mein Schlafzimmer. Mir wurde bewusst, dass ich selbst an der lärmigen, vierspurigen Straße hing, die viel zu nah vor dem Haus vorbeiführte, und an der Benzinluft. Ich verabschiedete mich in Gedanken von den Menschen, die mein Leben für einige Zeit geteilt hatten, von Nachbarn, Kollegen, Freunden, Verwandten, selbst von den Angestellten im Supermarkt nebenan, die ich jeden zweiten Tag beim Einkaufen sah. Ich verabschiedete mich von jedem Spazierweg, jedem Platz in der Innenstadt, jedem Blättchen und Grashalm im hinteren Garten. Sogar vom Treppenhaus und meiner Waschmaschine im Keller, bis mir endlich die Augen so wehtaten, dass ich noch einmal aufstehen musste, um Kamillen-Kompressen aufzulegen.

Es war klar, ich musste möglichst schnell zum Hausarzt, um mir Schlaftabletten zu besorgen, vielleicht auch Beruhigungsmittel oder besser Tabletten, die die Stimmung hoben. Diese Mittel bekam man viel leichter als früher. Es hatte Vorteile für den Staat: Die Leute blieben bei Laune und funktionierten.

Kapitel 5

Um weiterhin zu funktionieren, oder besser gesagt, um nicht durchzudrehen, suchte ich am nächsten Tag meinen Hausarzt Dr. Doppel auf.

Die Sprechstundenhilfe begrüßte mich freundlich mit meinem Namen.

Im Wartezimmer entspannte ich mich; alles schien normal, so wie immer. Es saßen dort fünf Personen. Die Sprechstundenhilfe hatte mir gleich am Empfang angekündigt, dass es etwas länger dauerte.

Dr. Doppel war immer hilfsbereit gewesen. Hatte ich wieder mal einen Erschöpfungszustand, gab er mir Beruhigungsdrops, und wenn die nicht mehr halfen, Antidepressiva. Im letzten Schuljahr war ich mühsam wieder von den Antidepressiva heruntergekommen. Über Monate hinweg verringerte ich die Dosis geringfügig, bis ich es schaffte, ohne die Tabletten auszukommen. Das Leben war ohne sie eindeutig schwieriger, aber ich fühlte mehr, ich konnte besser denken, ich war lebendiger. Mit den Tabletten litt ich zwar weniger, denn sie wirkten wie ein Filter; sie siebten das Besorgniserregende einfach aus, es berührte mich kaum mehr. Ich fühlte mich oft ohne Grund heiter. Aber gleichzeitig stumpfte ich immer mehr ab. Ich hatte die Tabletten gebraucht, während ich unterrichtete, ich hätte es sonst einfach nicht mehr ausgehalten. Mit den Tabletten funktionierte ich. Erst in meinem letzten Schuljahr hatte ich es mir leisten können, die Drogen zurückzufahren, mit der nahen Pensionierung vor Augen. Ich war bald so weit, dass ich nicht mehr wie ein Rädchen im Getriebe funktionieren musste, ich war endlich frei.

Doppel hatte mir über die schwersten Zeiten hinweggeholfen. Dafür war ich ihm immer dankbar gewesen. Jetzt, da ich mein Leben sozusagen von hinten, vom Ende aus betrachtete, kamen mir jedoch Zweifel, ob sein großzügiges Verschreiben in Ordnung gewesen war. Eigentlich hatte er mir nicht nur alles verschrieben, was ich wollte, er war es gewesen, der mich auf all die Beruhigungsmittel und Antidepressiva erst aufmerksam gemacht hatte. Er hatte sie mir verkauft wie Süßigkeiten. Mich dazu verführt, mein Leben mit ihnen leicht und reibungslos zu gestalten. Ungeachtet irgendwelcher Nebenwirkungen. Vielleicht hatte Doppel Anweisungen vom Gesundheitsamt, möglichst viele der Tabletten an die Patienten zu bringen? Sie brachten den Vorteil, dass man in aller Ruhe seine Arbeit erledigte, dabei nicht unzufrieden war und gegen nichts rebellierte.

Ich schrak hoch, als Doppel im Türrahmen erschien und mich in sein Behandlungszimmer bat.

Doppel nahm ein Papier von seinem Schreibtisch, blickte kurz darauf und sagte dann ernst: „Aha, Sie fahren zum Sterbeseminar.“ Er pausierte einen Moment. „Nach Fehmarn.“

Ich schluckte, konnte nichts erwidern.

Doppels Miene hellte sich auf. Er grinste mich freundlich an; automatisch entspannte ich mich. „Da haben Sie das große Los gezogen. Schöne Insel. Sie brauchen keine Angst zu haben. Dort geht es ganz locker zu. Nur Wellness. Sie können auch jederzeit wieder abreisen, wenn es Ihnen nicht gefällt. Alles ist freiwillig.“

Ich war sofort auf der Hut. Unter normalen Umständen hätte ich Doppel gefragt, ob er das wirklich glaubte, unterließ meine Frage aber und versuchte, ihn möglichst ausdruckslos anzublicken.

Er lachte künstlich auf. „Die meisten haben eine völlig unsinnige Angst davor. Dabei ist es überhaupt nicht schlimm, sondern schön.“ Das Wort schön sprach er mit einer seltsam tiefen, vibrierenden Stimme. Ich bekam spontan Gänsehaut. Dann wurde er geschäftsmäßig, vielleicht um mich zu beruhigen. „Viele sind ängstlich und nervös, wenn sie zum Sterbeseminar fahren.“ Er stand auf, griff in einen Glasschrank und holte ein Päckchen heraus. „Ich empfehle da Rilax. Ein ganz leichtes Beruhigungsmittel. Es beruhigt nicht nur, sondern muntert Sie auch gleichzeitig auf.“

Ich blickte ihn nur an und versuchte ungezwungen zu lächeln.

„Sie können die Packung mitnehmen.“

Wollte er sie mir schenken? Ich war verblüfft. Ich streckte meine Hand aus, nahm sie und verstaute sie in meiner Handtasche. Dann krächzte ich: „Danke.“

Ehe ich mich’s versah, war ich wieder draußen. Die Sprechstundenhilfe wünschte mir noch viel Spaß auf Fehmarn. Auch sie wusste also, dass ich eine Sterbekandidatin war. Ich lächelte sie verzerrt an und stolperte zur Tür hinaus.

Kapitel 6

Vor unserer Abfahrt nach Fehmarn musste jeder von uns noch diesen Sachwalter bestimmen, der die letzten Angelegenheiten regeln sollte. Ich fand es äußerst verdächtig, dass man das jetzt schon tun musste. Das machte nur Sinn, wenn man tatsächlich nicht mehr zurückkehrte. Entschloss man sich, nach dem Seminar weiterzuleben, dann hatte man den Verwalter der letzten Dinge doch umsonst engagiert.

Fred ermahnte mich, nicht zu viel nachzudenken. Es würde mich nur schwächen. Wir müssten alle unsere Energie auf unser gemeinsames Projekt verwenden. Er hatte ja recht. Vielleicht fiel es ihm leichter, sich auf eine einzige Sache zu konzentrieren; er war eben ein Mann. Männer konnten besser eingleisig fahren.

Mir gingen leider eine Menge beunruhigender Dinge durch den Kopf. Alle wiesen darauf hin, dass in den Sterbehotels für uns Endstation sein würde. Da waren zum Beispiel unsere Nachbarn, ein Haus weiter, die alten Lehmanns. Sie waren beide über 80 gewesen, aber noch unglaublich gut in Form. Der alte Herr Lehmann fuhr sogar noch Fahrrad. Und sie hatten Kinder und Enkel, die sie jeden Monat besuchten. Die Enkel spielten dann im Garten, wo Herr Lehmann für sie einen Spielplatz mit Rutsche, Kletterstange und Sandkasten eingerichtet hatte. Frau Lehmann organisierte regelmäßig die Enkelgeburtstage und verwöhnte die Kleinen mit selbst gebackenem Kuchen. Herr Lehmann briet für alle Würstchen auf dem Grill. Ab und zu übernachteten die Enkel auch bei ihnen. Und die Enkel genossen es. Das war ihnen anzusehen. Die Großeltern verwöhnen einen oft mehr als die Eltern, mit ihnen ist alles unkomplizierter. Letztes Jahr erzählte mir Frau Lehmann von der Einladung ins Sterbehotel. Wir hatten uns im Supermarkt getroffen. Ich weiß noch, wie wir vor dem Kühlregal standen und uns unterhielten. Frau Lehmann schien mir unnatürlich bleich. Ich dachte damals, es sei vielleicht die LED-Beleuchtung des Kühlregals, die ihre Gesichtshaut so fahl erscheinen ließ. Als wir mit unseren Einkaufstaschen rausgingen, war sie aber im hellen Tageslicht immer noch so blass. Und ihr kamen dann auch Tränen. Ich redete auf Frau Lehmann ein, sie dürfe die Einladung zu dem Sterbeseminar nicht so ernst nehmen. Sie könne ja jederzeit mit ihrem Mann wieder nach Hause zurück. Die würden sie nicht dortbehalten. Ganz wohl war mir dabei allerdings nicht, und ich klang auch sicher nicht sehr überzeugend. Frau Lehmann beruhigte sich dennoch und erzählte daraufhin freudig von ihren Enkeln. Der Große hatte den Fahrtenschwimmer gemacht und die Kleine übersprang vielleicht eine Klasse. Frau Lehmann wurde immer fröhlicher und bestimmter. Sie würde gebraucht. Es käme nie und nimmer infrage, dass sie ihre Kinder oder ihre Enkel im Stich ließe. Sie und ihr Mann wären immer für sie da, bis zum letzten Atemzug. Zumindest noch die nächsten zehn Jahre. Das konnte sie mit Gewissheit sagen, so gut wie sie sich noch fühlten.

Die Lehmanns waren dann abgereist. Eine Zeit lang hatte ich nicht mehr an sie gedacht. Und dann kam ich an ihrem Haus vorbei und stellte fest, dass andere Leute dort wohnten. Leute, die ich noch nie gesehen hatte. Erst zwei Tage später war ich so mutig, dort zu klingeln. Auf dem Klingelschild stand jetzt Buttic. Ich fragte die Frau, die aufmachte, nach den Lehmanns. Hinter der Frau stapelten sich im Korridor Umzugskartons. Sie und ihr Mann hatten die Wohnung von den Kindern der Lehmanns gemietet; die Frau war freundlich und mitteilsam. Die Umstände seien sehr traurig gewesen und es hätte ihr leidgetan, unter solchen Bedingungen hier einzuziehen. Die alten Lehmanns hätten sich zum Sterben entschlossen. Die beiden Kinder mussten aus einem Abschiedsbrief erfahren, dass beide Eltern nicht mehr lange zu leben hatten; sie waren schwer erkrankt und wollten gehen, bevor sie zu schwach für so eine Entscheidung wären und nur noch Schmerzen hätten. Er hatte ein Bauchspeicheldrüsenkarzinom, sie eine aggressive Leukämie. Ich schluckte und wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich glaube, ich habe noch gemurmelt, sie möge den Kindern der Lehmanns mein Beileid ausrichten. Dann bin ich auf die Straße gestolpert.

Konnte das sein? Waren die Lehmanns wirklich so krank? Wer hatte das festgestellt? Wieso hatte Frau Lehmann noch vor wenigen Wochen so heiter und gesund gewirkt? Und auch ihn hatte ich als gut gelaunt und robust in Erinnerung. Und nun waren sie auf einmal Todeskandidaten? Und dann noch beide? Hatten es ihre Kinder geglaubt? Ich blieb damals sehr verunsichert zurück. Und Annas Erklärung, es sei möglich, dass etwas so Gravierendes wie bei den Lehmanns diagnostiziert werde, solange es einem noch tadellos gehe, beruhigte mich kein bisschen.

Kapitel 7

Bevor ich noch einen Sachwalter für meine Angelegenheiten benennen konnte, lud mich eine Beamtin des Gesundheitsamts telefonisch zu einem Informationsgespräch ins Rathaus ein. Eigentlich war ich gerade dabei, die Adresse einer Großkusine ausfindig zu machen. Meine Eltern hatten den Kontakt zu den Verwandten nicht gepflegt und so stand ich nach ihrem Tod so da, als hätte ich gar keine Verwandten. An die Großkusine erinnerte ich mich aus meiner Kindheit. Sie war damals ein harmloses junges Mädchen gewesen, das Pharmazie studierte. Sicher war sie inzwischen Apothekerin. Ihr könnte ich vertrauen. Und ich konnte mir auch vorstellen, sie als Erbin einzusetzen.

Die Suche nach meiner Großkusine wurde durch das amtliche Telefonat unterbrochen. Die Frau am Telefon, die sich als Frau Winter vorstellte, lud mich auf den Nachmittag vor.

Ich empfand es nicht nur als unangenehm, dass mich die Behörde direkt anrief, statt mir zu schreiben, auch die Stimme dieser Frau Winter war mir sofort unsympathisch; sie schien keinen Widerspruch zu dulden.

Frau Winter hatte ein Vorzimmer. Ich befürchtete schon, sie ließe mich dort mit den anderen zehn dort sitzenden Personen warten. Die Vorzimmerdame winkte mich aber gleich weiter und schob mich durch eine Tür in ein leeres Büro. Dort setzte ich mich vor einen Schreibtisch. Eine Minute später erschien Frau Winter in einem, wie ich fand, unpassenden schwarzen Kostüm. Sie hatte straff nach hinten gekämmtes Grauhaar. Im Nacken war es zu einem Knoten gezurrt. Ihr Mund wirkte unangenehm spitz mit dem dick aufgetragenen dunkelbraunen Lippenstift.

Zuerst stellte sie mir eine ganze Menge Fragen. Ich fühlte mich rasch verwirrt. Sie wollte alles Mögliche über meine Hobbys, meine Vorlieben, meine Freunde wissen. Gingen diese Fragen nicht zu weit? Dann schlug sie mir einen amtlichen Sachwalter vor, einen Herrn Kundo. Als ich an dessen Stelle meine Großkusine vorschlug, fragte sie mich, ob ich diese denn gut kenne. Es war mir peinlich, das zu verneinen. Erst später wunderte ich mich, woher die Winter ahnen konnte, dass ich zu meinen Verwandten keinen Kontakt mehr hatte. Da ich mich irgendwie erschlagen fühlte, willigte ich ein, Herrn Kundo als meinen Sachwalter zu akzeptieren. Damit bliebe mir die mühsame Suche nach meiner Kusine, das leidvolle Wiederanknüpfen einer Beziehung nach so vielen Jahren erspart. Auch musste ich diesen Herrn Kundo nicht treffen, ihm keine Unterlagen aushändigen und nicht meinen Wohnungsschlüssel übergeben, wie ich eine Sekunde lang befürchtet hatte. Ich war also in dem Moment gar nicht so unzufrieden, wie die Dinge liefen. Dann aber machte Frau Winter einen Vorschlag, der mich zutiefst verstörte. Sie zog aus einer Schublade ihres Schreibtischs ein Papier und legte es mir zur Unterschrift vor: Ich sollte den Staat als Erben einsetzen!

Als ich anfing zu erklären, dass ich lieber eine Person meiner Wahl einsetzen würde, meinte die Winter emotionslos: „Wie wollen Sie so schnell jemanden aus dem Hut zaubern?“, sagte dann aber in einem fast einschmeichelnden Ton: „Das ist doch nur provisorisch. Angenommen, Sie entschließen sich, noch nicht zu sterben, wie so viele, dann können Sie den Wisch hier zerreißen. Es geht jetzt nur darum, Nägel mit Köpfen zu machen. Wir stehen unter Zeitdruck. Der Hotelaufenthalt auf Fehmarn hat sich für Sie kurzfristig ergeben, weil eine andere Person abgesagt hat.“ Sie räusperte sich, als ich nicht antwortete, und fuhr fort: „Es ist eine besondere Gunst, die der Staat Ihnen erweist, wenn er Sie kostenlos zum Seminar einlädt. Und ich versichere Ihnen, es wird Ihnen dort an nichts fehlen. Sie werden es genießen. Es werden Ihre schönsten bezahlten Ferien werden.“ Jetzt lächelte sie sogar.

Ich war durcheinander und müde. Um die Sache hinter mich zu bringen, unterschrieb ich einfach.

Im Nu war ich wieder auf der Straße. Sobald ich unterschrieben hatte, hatte diese Frau Winter mich so schnell verabschiedet und aus dem Büro geschoben, dass ich es fast nicht mitbekam. Es war genauso wie bei meinem Hausarzt.

Ich steuerte verwirrt auf die Bushaltestelle zu. Erst im Bus konnte ich meine Gedanken sammeln. Ich hatte tatsächlich eben den Staat als meinen Erben eingesetzt. Ich hatte eine Sache getan, die ich nie hatte tun wollen. Die mir bislang nicht einmal in den Sinn gekommen war. Vielleicht machten sie es mit den Alleinlebenden systematisch so. Der Trick war, sie setzten dich unter Zeitdruck – ich etwa hatte nur noch wenige Tage bis zur Abreise ins Sterbehotel – und da wollten viele nicht noch die Mühe auf sich nehmen, Erben zu suchen, und unterzeichneten einfach. Eine Rolle hatte vielleicht auch gespielt, dass die Winter mir eingeredet hatte, ich könne meine Entscheidung jederzeit wieder rückgängig machen. Ich wollte es glauben, als ich in ihrem Büro saß. Manchmal hat man einfach nicht die Kraft, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Die Wahrheit kann schrecklich sein wie ein Gorgonenhaupt: Man versteinert, wenn man es anblickt. Es kann besser für einen sein, die Wahrheit für eine Weile zu ignorieren, um funktionsfähig zu bleiben.

Kapitel 8

Als ich gegenüber von unserem Haus aus dem Bus stieg, gab es einen größeren Menschenauflauf vor einem der Blocks. Ein Polizeiwagen stand vor der Einfahrt zur Tiefgarage. Das Blaulicht auf seinem Dach blinkte noch. Dann sah ich auch einen Krankenwagen. Zwei Sanitäter trugen eine Person auf einer Bahre aus dem Haus. Sie schoben die Bahre aber nicht in den Krankenwagen, sondern … da war noch ein länglicher schwarzer Wagen mit getönten Scheiben … sie schoben sie ins Innere eines Leichenwagens. Die Tür des Wagens schloss sich mit einem dumpfen Plopp. Zwei Männer stiegen vorne ein und fuhren davon. Polizei- und Krankenwagen folgten. Die Menge löste sich schwätzend auf. Anna war in der Menge der Schaulustigen. Sie sah mich an der Bushaltestelle und kam zu mir herüber.

„Was ist passiert?“, fragte ich sie.

„Ein fünfzigjähriger Mann hat sich umgebracht. Er war seit Längerem arbeitslos.“ Anna fuchtelte mit den Händen. Das tat sie, wenn sie etwas besonders Wichtiges mitzuteilen hatte. „Stell dir vor, er hatte Frau und Tochter. Wie die sich fühlen müssen …“

Ich erschrak. „Weißt du, wie er hieß?“

„Jemand sagte so was wie Diedrichson.“ Anna runzelte die Stirn. „Ist schon rücksichtslos von einem verheirateten Familienvater, einfach so zu gehen …“

Ich sah hoch zum fünften Stock. Dort wohnten die Diedrichsons. Ich kannte die beiden vom Einkaufen im Supermarkt. Wir sprachen öfters miteinander. Herr Diedrichson wirkte seit einiger Zeit zunehmend verzweifelt. Ebenso war mir seine Frau die letzten Wochen sehr bedrückt vorgekommen. Und was neuerdings seltsam war: Wenn sie mich im Supermarkt sah, mied sie mich, ging schnell zur Kasse und verschwand. Zuvor hatten wir immer mindestens fünf Minuten miteinander gesprochen.

Anna wirkte auf einmal nachdenklich. „Vor ein paar Jahren wurde eine meiner Kolleginnen, Stella Mancrallo, arbeitslos. Ihre Stelle wurde wegrationalisiert. Das Altersheim hat damals ein Drittel der Belegschaft entlassen und wir, die Zurückgebliebenen, mussten dann deren Arbeit einfach miterledigen. Wie das ging, fragte keiner. Ab und zu traf ich Stella noch auf einen Kaffee in der Stadt. Sie musste sich gleich am ersten Tag ihrer Freistellung bei der Agentur für Arbeit melden. Die teilten sie dann für einen neuen Job ein. Den lehnte sie zuerst ab. Dann musste sie wieder und wieder dort erscheinen, und schließlich nahm sie ihn an. Sie putzt jetzt Toiletten im Schlosshotel. Als diplomierte Pflegerin! Wer weiß, wie sie Diedrichson zugesetzt haben, zu was sie ihn drängen wollten?“

„Ich verstehe das nicht. Das macht für mich keinen Sinn. Stella hätten sie doch anders vermitteln können. Pflegekräfte sind gesucht.“

Anna blies hörbar Luft durch die Nase. „Je schneller du jemanden vermittelst, desto mehr Bonuspunkte kriegst du, die dann ausgezahlt werden. Wenn der Beamte gerade keine Pflegestelle auf dem Tisch hat, nimmt er, was er gerade dort liegen hat, egal, was es ist. Der sucht nicht extra eine passende Stelle, selbst wenn es massenhaft passende Stellen gibt. Das ist zu viel Aufwand.“

Mir wurde ein wenig schlecht. „Ja, tut denn gar niemand mehr was für den anderen?“

„Wer weiß, was sich der Beamte in der Agentur für Arbeit dabei gedacht hat … Er hat vielleicht an den gigantischen Flachbildfernseher gedacht, den er anschaffen möchte, an die Reise nach Sylt mit seiner Freundin ...“

„Das kann nicht lange gut gehen.“

„Es geht gut“, erwiderte Anna laut. „Denkst du, jemand wie Stella rebelliert? Einen Aufstand müssen sie nur von den oberen Zehntausend fürchten. Revolutionen gehen praktisch nie von den unteren Schichten aus. Die sind doch viel zu sehr damit beschäftigt zu überleben. Die Französische Revolution – das ist mir noch aus dem Geschichtsunterricht in Erinnerung geblieben, weil’s mich so gewundert hat –, die haben wohlhabende Bürger losgetreten, die neidisch auf den Adel waren.“

Wir gingen zu uns nach Hause und ich dachte traurig darüber nach, dass unser Staat seine Bürger wie Dreck behandelte. Wir waren in vergangene Zeiten zurückgefallen. Zeiten, in denen es keine Bürger gab, sondern nur Untertanen, die das Leben der oberen Stände finanzieren mussten und dann noch zu Kanonenfutter wurden. Das war doch kein moderner Staat! Ein moderner Staat stand im Dienst der Bürger und nicht umgekehrt. Der moderne Staat leistete Dienste, er beschützte unsere Freiheit und sorgte für uns. Der moderne Staat verdiente sogar Geld für seine Bürger. Und wenn die Regierenden das schlecht machten, wurden sie einfach abgewählt ...

Bevor wir uns im Treppenhaus verabschiedeten, wollte mich Anna noch trösten: „Nimm es nicht so schwer, Nadja.“

Ich sah sie an und unterdrückte die Tränen.

„Menschen sind anpassungsfähig. Unser oberstes Prinzip war immer schon das Überleben. Wir sind ein Teil der Natur. Und das bedeutet, man muss manchmal mit den Wölfen heulen.“

Ich machte nur „Hm“, steckte den Schlüssel ins Schloss meiner Wohnungstür und wollte jetzt nicht genauer darüber nachdenken, was sie damit meinte.

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