Kitabı oku: «Gerechtigkeit über Grenzen», sayfa 7
Strafe und Entschädigung bei Locke und Nozick
Diese Unterscheidungen bieten uns einen Rahmen, vor dem wir Nozicks Anspruch auf Entschädigungsrechte in den ersten Kapiteln von Anarchie, Staat, Utopia behandeln können. Obwohl Nozick sein Unterfangen in die Nachfolge Lockes stellt, unterscheidet es sich doch sowohl im Ausgangspunkt als auch in der Argumentation erheblich von Lockes Traktat Über die Regierung.33 Lockes begrifflicher Rahmen ist ein theologischer: Er sieht die Menschen als grundlegend frei, nur dem Naturrecht und den unter Menschen getroffenen Absprachen unterworfen. Die Grundlage der Moral bilden bei ihm die menschlichen Pflichten, nicht die Menschenrechte. Er argumentiert, dass der Mensch dem Naturrecht nur unvollkommen gehorcht und der einzig gerechte Weg, dessen Einhaltung zu verbessern, ein System der Durchsetzung ist, das nachvollziehbar sein muss. Läge nun die Bestrafung in den Händen Einzelner, wären die Resultate eben ungerecht und willkürlich. Die Durchsetzung des Naturrechts durch Strafe muss also auf die Gesellschaft übertragen werden. Die politische Ordnung ist gerechtfertigt als bester Weg, das Naturrecht umzusetzen. Lockes Bild beruht zentral auf der Freiheit des Menschen und auf seinen Pflichten. Er sieht ihn nicht als Träger von Rechten, die Ansprüche darauf begründen, was getan oder unterlassen werden sollte. In seiner Perspektive sind die Menschen Akteure, nicht ihrem Schicksal Unterworfene. Es geht ihm zuallererst darum, die Ausführung von Pflichten sicherzustellen, nicht um die Rechte, die beachtet werden, falls die Pflichten erfüllt werden. Der Gedanke der Entschädigung ist für ihn nebensächlich.
Wo Locke sich mit Fehlverhalten aus der Perspektive des Opfers auseinandersetzt, spricht er nicht von Entschädigung, sondern von Wiedergutmachung. Er geht davon aus, dass (anders als das Recht zu strafen) das Recht auf Wiedergutmachung nur dem „Geschädigten“ zukommt. Es gesteht diesem zu, von dem Übeltäter „so viel wiederzuerlangen, wie es der Wiedergutmachung für den erlittenen Schaden dient.“34 Dieses Recht auf Wiedergutmachung ist ein Recht auf das Äquivalent des Schadens, nicht auf das Äquivalent des Verstoßes. Locke geht nicht davon aus, dass es ein allgemeines Maß moralischer Werte geben kann. Er nimmt vielmehr viel bescheidener an, dass es eine Reihe von Verstößen gibt, bei denen sich der verursachte Schaden – nicht der Verstoß selbst – ausgleichen lässt, indem man ein Äquivalent zur Verfügung stellt.
Zwischen der begrenzten Rolle, die Locke der Entschädigung zuweist, und der zentralen Rolle, die sie bei Nozick annimmt, liegen Welten. In Nozicks Augen kann eine Entschädigung nicht nur für den Schaden geleistet werden, den man zugefügt hat, sondern unter bestimmten Umständen auch für das Fehlverhalten selbst, d. h. für Handlungen, die Rechte verletzt haben. Eben dieser Punkt ist Grundlage seiner Aussage, dass bestimmte Rechteverletzungen erlaubt sind, falls es dafür Entschädigung gibt. Überraschenderweise bleibt er nicht auf dem Standpunkt, dass Handlungen, die Rechte verletzt haben, verboten sind und Handlungen, die das nicht tun, erlaubt. Stattdessen stellt er die Frage, was mit risikobehafteten Handlungen passiert, die jemandes Rechte verletzen könnten. Und wie geht man mit privater Durchsetzung der Gerechtigkeit um? Er stimmt Locke zu, dass eine solche riskant wäre und vermutlich Rechte verletzen würde. Dann aber argumentiert er, dass riskante Strafaktionen nur dann verboten werden könnten, wenn eine Entschädigung für diese Einschränkung der Freiheitsrechte vorgesehen ist.35 Ein sich herausbildender Staat könne legitim das Gewaltmonopol für sich beanspruchen, indem er riskante Maßnahmen privater Justizausübung verbiete, wenn er jene entschädige, deren (angenommenes) Recht zu strafen er damit verletze. Dieses Argument wurde vielfach kritisiert: Ich aber möchte mich hier auf einen dieser Kritikpunkte beschränken.
Nozicks Standpunkt ist selbst für einen Rechtetheoretiker kurios – ganz zu schweigen von der libertären Perspektive –, da er zu schließen scheint, dass Rechte mit einem grundlegenderen Wertemaßstab abgewogen werden können und dass sie daher nicht alle ethisch von grundlegender Bedeutung seien.36 Nozick geriet in diese Lage, weil er versuchte, eine weitgehend utilitaristische Sicht auf Psyche und Handeln des Menschen mit einer Theorie der Rechte zu verknüpfen. Er musste Handlungen ansehen, als besäßen sie einen klar bestimmbaren Wert bzw. Nutzen, um sie als kompensierbar zu betrachten. Und doch bestand er darauf, dass Rechte grundlegende Nebenbedingungen beim Streben nach Zielen und nach Zwecken seien. R. P. Wolff brachte das schön auf den Punkt, als er Nozick vorwarf,
ein Modell, das als theoretisches Konstrukt des Utilitarismus galt, mit einer Moraltheologie zu kombinieren, die dem übergriffigen Paternalismus des Utilitarismus widerspricht.37
Wolff meint weiter, Nozick
sollte angesichts seiner extrem starken Theorie individueller Rechte, Nebenbedingungen und so weiter ... vollkommen konsistent zu dem Schluss gelangen, dass keine nicht erlaubte Grenzüberschreitung (d. h. Verstoß gegen Rechte) erlaubt sei, ungeachtet jeglicher Entschädigung.38
Nozicks Rückgriff auf Entschädigungen bei Rechtsverstößen wurde eingehend kritisiert. Hier habe ich nur die grundsätzliche Unglaubwürdigkeit des ganzen Unterfangens aufgezeigt. Dies sollte Grund genug für Skepsis sein, wenn es darum geht, ein grundlegendes Recht auf Entschädigung mit einer Position zu verflechten, die versucht, einen minimalen Staat zu rechtfertigen.
In der Folge möchte ich mich mit einem weiter gefassten Begriff des Rechts auf Entschädigung auseinandersetzen, wie er von nicht-libertären Rechtetheoretikern hervorgebracht wird. Man möchte doch meinen, dass Rechtetheoretiker auf die Ungewissheit menschlichen Handelns eingehen und zu der Frage Stellung nehmen, ob es falsch ist, Handlungen zu verbieten, die eine Rechtsverletzung nur riskieren. Ein schlüssigerer Ansatz für libertäre Rechtetheoretiker, um der Ungewissheit menschlichen Handelns Rechnung zu tragen, wäre es, nicht auf einen rechteunabhängigen Bewertungsmaßstab für das Handeln zu setzen, sondern in ihre Überlegung eine Wahrscheinlichkeitsabschätzung einzubeziehen, ob das Handeln unter bestimmten Umständen eine Rechteverletzung darstellen würde oder nicht. Das soll nun nicht heißen, dass eine Theorie der Rechte sich nicht auf eine adäquate Handlungstheorie stützen sollte, was sie häufig nicht tut.
Das Recht auf Entschädigung für weit entfernt geschehene Verstöße – geografisch oder historisch
Ob die verschiedentlich vorgebrachten Rechte auf Entschädigung auch gerecht sind, ist häufig Gegenstand von Diskussionen. Das Problem dabei ist nicht (oder nicht nur), dass kompensatorische Abmachungen schwer umzusetzen sind. Schließlich könnten Institutionen geschaffen werden, die Entschädigungen für „geschädigte Personen“ für vergangene Rechtsverstöße (bzw. Aspekte solcher Verstöße) vorsehen, ja selbst für Schäden, die nicht durch Rechtsverstöße verursacht werden. Man könnte auch Möglichkeiten finden, das Maß des angerichteten Schadens zu beziffern und festzustellen, wer wem geschadet hat. Dann würde man berechnen, wie viel Entschädigung wer bekommt und würde die entsprechenden Lasten verteilen.
Das Problem der Entschädigung für vergangene Taten ist auch nicht reduzierbar auf Nozicks Schwierigkeit, einen solchen Bewertungsmaßstab mit einer Theorie fundamentaler Rechte zu verknüpfen. Man könnte Entschädigungen für vergangene Verstöße (in Locke’scher Manier) auffassen als Ausgleich für Schäden, die einzig auf Rechtsverstöße zurückgehen (wofür man dann ein Äquivalent finden könnte) – und nicht als Weg, solche Rechtsverstöße zulässig zu machen. Doch selbst wenn man eine Entschädigung nur für solche Fälle vorsähe, denen eine Rechtsverletzung zugrunde liegt, müsste ein Anspruch auf Entschädigung doch klar vortragen, dass der frühere Verstoß immer noch Schäden nach sich zieht. Das ist eben häufig unmöglich, wenn der Schaden weit in der Vergangenheit liegt oder an geografisch weit entfernten Orten angerichtet wurde.
Es ist also nicht überraschend, dass viele Diskussionen über Entschädigungsrechte für vergangenes Unrecht sich auf Vorfälle konzentrieren, die weder in weit entfernten Ländern noch in weit zurückliegender Vergangenheit stattgefunden haben. Dazu gehören zum Beispiel anhaltende oder jüngere Verletzungen des Rechts auf Gleichbehandlung, die man dann durch Mittel wie Vorzugsbehandlung in der Ausbildung oder bei der Einstellungspraxis von Unternehmen auszugleichen versuchte. Doch soll Gerechtigkeit über Grenzen hinweg gelten, dann müssen wir uns auch in früherer Zeit oder weit entfernt geschehenen Rechtsverstößen zuwenden, was die Dinge erschwert. Das Unrecht des Kolonialismus und der Sklaverei wirft verstörende Fragen auf, die extrem schwer zu beantworten sind. Ist jeder Nachfahre eines einstigen Opfers von Sklaverei oder Kolonialherrschaft immer noch geschädigt durch diese mittlerweile alten und fernen Untaten? Und besteht eine solche Schädigung, können wir mit Bestimmtheit sagen, was sie verursacht hat, um eine angemessene Entschädigung festzusetzen? Können wir auch aufzeigen, wer für diese Entschädigung verantwortlich gemacht werden sollte?
Es besteht keinerlei Zweifel, dass jenen Menschen, die während der europäischen Expansion versklavt, überfallen und ihres Besitzes beraubt wurden, ein Unrecht geschah, das echte Schäden nach sich zog. Jeder würde dieses Unrecht als groben Verstoß gegen Rechte betrachten. Den Afrikanern, die man in die Sklaverei der Neuen Welt sandte, geschah Unrecht. Ebenso wie den indigenen Völkern in den USA, die man von ihrem Land vertrieb, auf dem sie vormals gejagt oder ihre Herden geweidet hatten. Aber auch jenen, deren Führer eine Souveränität an andere Mächte abtraten, von der sie nicht einmal eine Vorstellung hatten. Obwohl die europäische Invasion der nicht-europäischen Welt unter dem Deckmäntelchen wirtschaftlicher und politischer Transaktionen erfolgte, wurden dabei viele Rechte verletzt, wie so häufig in Zeiten massiven historischen Wandels.
Würden diese Untaten heute geschehen, würden sie als schwerwiegende Verbrechen betrachtet und die Forderung nach Strafe für die Täter und Entschädigung für die Opfer nach sich ziehen. Doch mit zunehmendem zeitlichen Abstand lassen sich ursächliche Verbindungen kaum noch ermitteln. Es ist mehr als ein Jahrhundert her, dass Joseph Conrad seinen Roman Herz der Finsternis schrieb, und wenig mehr als ein halbes Jahrhundert, dass die Kolonialreiche sich auflösten. Doch die Täter wie auch die Opfer der meisten dieser Untaten sind tot, und die Auswirkungen, die sie auf die kommenden Generationen hatten, zeigen komplexe Verästelungen.
Niemand bezweifelt, dass verschiedene Aspekte der Untaten von einst heute noch nachwirken, aber dieses Wissen allein genügt nicht, wenn wir herausfinden wollen, wer wem wofür Entschädigung leisten soll. Die internationale Ordnung der Gegenwart und die Lebensformen sowohl in der europäischen als auch der nicht-europäischen Welt wären auf kaum vorstellbare Weise anders, hätte die europäische Expansion nicht stattgefunden. Wir können einigermaßen sicher sein, dass kein Mensch der Gegenwart existieren würde, hätte es die massiven Bevölkerungsbewegungen und den ebenso umfassenden Wandel der Lebensverhältnisse im Rahmen dieser Expansion nicht gegeben. Die Menschen dieser möglichen Welt, in der jeder an seinem Ort geblieben wäre, wurden nie geboren. Würde ohne die europäische Expansion niemand von uns existieren, für welchen durch diese Expansion verursachten Verlust würde dann wer von uns Entschädigung erhalten oder leisten müssen?39 Könnte es nicht sein, dass einige der Nachkommen jener Menschen, denen Unrecht geschah, durch diese Entwicklung nun Vorteile genießen? Und dass manche, deren Ahnen Unrecht getan haben, heute Nachteile erleiden? Entschädigung ist erforderlich für aktuelle Schäden, die durch frühere Untaten entstanden sind, nicht einfach für aktuelle Nachteile, deren Ursache nicht zählt. Wenn wir diese kausalen Verbindungen nicht nachziehen können, können wir nicht angeben, wer von altem Unrecht profitiert hat und deshalb heute die Kosten der Entschädigung für jene tragen sollte, deren aktuelle Benachteiligung auf das alte Unrecht zurückgeht.
Es könnte daher für Liberale – aller Couleur – plausibler sein, für eine distributive – oder redistributive – Gerechtigkeit einzutreten, die zu handeln erfordert, um aktuelle Nachteile auszugleichen, auf welche Ursachen diese auch zurückgehen mögen. Wenn es unmöglich ist festzustellen, wer als Resultat welcher Untat zu leiden hatte, dann sind die Vorzüge des kompensatorischen Ansatzes begrenzt. Wenn wir heute nicht mit Sicherheit sagen können, welcher Personenkreis Nachteile erleidet, weil seine Ahnen Opfer vergangener Rechtsverstöße waren, und wer aus anderen Gründen Nachteile hinnehmen muss, dann ist ein Recht auf Entschädigung vielleicht nicht ganz so nützlich, wie seine Parteigänger annehmen.
Ein Seitenblick auf Rechte, Opfer und Entschädigung
Die Auseinandersetzungen zwischen Laissez-faire-Liberalen und Wohlfahrts- oder Sozialliberalen sind in der zeitgenössischen politischen und öffentlichen Debatte Alltag geworden. Sie werden auf jeder Ebene geführt, ob es nun um komplexe theoretische Begründungen geht oder um die Boulevardpresse bzw. das Gericht. Ich plädiere hier eher für ein Heraustreten aus dem Rampenlicht als für eine Lösung. Ich werde dafür drei Gründe nennen und dann versuchen, das Thema aus einem anderen Blickwinkel anzugehen, um zu sehen, ob sich da vielleicht Fortschritte erzielen lassen.
Der erste Grund, warum wir uns ein wenig im Hintergrund halten sollten, ist schlichte Vorsicht. Viel der bis dato beschrittenen Wege sind matschig und weisen zahlreiche Stolperfallen auf. Der zweite Grund ist meine Vermutung, dass der tieferliegende Grund für die Debatten zwischen Laissez-faire- und Sozialliberalen in ihren unterschiedlichen Konzepten von menschlicher Natur und Freiheit zu suchen ist. Diese Konzepte sind aber weit unterhalb der Ebene, über die in den Debatten verhandelt wird, angesiedelt, und die bestehenden Differenzen können im Rahmen einer Diskussion über angebliche Rechte auf Entschädigung auch nicht gelöst werden. Der dritte Grund ist, dass ich der Auffassung bin, es könnte an diesem speziellen Punkt wichtiger sein, was die zeitgenössischen Liberalen aller Lager verbindet. Das gilt im Besonderen für die Gründe, warum ein eigentlich wenig bedeutendes Thema wie das Recht auf Entschädigungen für beide Seiten so wichtig ist und was der eigentlich strittige Punkt in vielen ihrer Debatten ist.
Eine Theorie der Rechte stellt nicht nur die einzige ethische und politische Position dar, die Handlungsprinzipien für grundlegend erklärt und die Ansicht verwirft, dass man irgendetwas gegen einen wie auch immer gearteten Vorteil eintauschen könnte. Auch eine Theorie der Pflichten betrachtet Handlungsprinzipien als Gebote, die nicht um irgendwelcher Nützlichkeitserwägungen willen durchbrochen werden können. Doch viele liberale Diskussionen tun so, als wäre die Entscheidung für Rechte bzw. Pflichten als grundlegendem Element bloß eine Vorliebe für eine von zwei äquivalenten Ausdrucksweisen. Doch die Einforderung eines Rechts bleibt rein rhetorisch, wenn niemand die entsprechende Verpflichtung übernimmt. Schließlich ließen sich die Vorbehalte der Laissez-faire-Partei gegenüber Entschädigungsrechten für die Nachkommen von Sklaven und indigenen Völkern auch so zusammenfassen: Es kann ein solches Recht nicht geben, wenn wir nicht zugleich zeigen können, wer die damit zusammenhängenden Verpflichtungen schultern sollte. Dies aber ist kaum möglich, wenn die Schäden zeitlich weit zurückliegen bzw. systemisch und multifaktoriell verursacht sind und daher nicht klar identifizierbaren Akteuren zugeschrieben werden können bzw. klar identifizierbaren Opfern. Wäre die Entscheidung für eine Rechte-Theorie im Gegensatz zum Pflichten-Ansatz nur eine Frage des Vokabulars, dann gäbe es kaum einen Grund für die Bevorzugung der Pflicht. Doch die beiden Perspektiven sind eben nicht gleichwertig. Dafür gibt es meiner Ansicht nach zwei Gründe.
Erstens unterscheiden sich Rechte und Pflichten in ihrer Reichweite. Während es keine Rechte ohne die zugehörigen Pflichten geben kann (also Anspruchsrechte: die einfachen bürgerlichen „Freiheiten“ lasse ich hier weg), kann es durchaus Pflichten ohne zugehörige Rechte geben. Im traditionellen ethischen Denken (wozu auch das christliche zählt, das Naturrecht, das Kantische, vom utilitaristischen Denken ganz zu schweigen) handelt es sich bei diesen Pflichten um unvollkommene Verpflichtungen. Unvollkommen heißt in diesem Zusammenhang nicht, dass sie etwa keine echten Pflichten darstellen würden und daher fakultativ wären. Unvollkommen sind sie nur insofern, als nicht klar ist, für wen jeder Träger einer solchen Verpflichtung seine Pflicht erfüllen muss. Konsequenterweise kann die Erfüllung einer solchen Pflicht dann nicht als Recht eingefordert werden. Locke setzte auf ein „Naturrecht“ als vertragliche Verpflichtung einer Gemeinschaft, nicht als grundlegendes Menschenrecht. Dies liegt vor allem daran, dass er dabei die unvollkommenen Pflichten nicht außen vor ließ: Obwohl sein primäres Interesse der Gerechtigkeit gilt, geht er von einem Standpunkt aus, wo „die großen Leitsätze der Gerechtigkeit und Nächstenliebe“40 zueinander passen.
Im Gegensatz dazu verbannt das zeitgenössische liberale Denken unvollkommene Pflichten an den Rand. Viele schließen alles außer der Gerechtigkeit aus ihrer ethischen Perspektive aus und zeigen sich stolz auf ihre Haltung des „Nichtwissens, was das Gute für den Menschen sei“. Das aber stellt die Liberalen vor ein Dilemma. Entweder müssen sie zeigen, dass traditionell für unvollkommen angesehene Pflichten in Wirklichkeit vollkommene Pflichten darstellen, die für die Gerechtigkeit notwendig sind, woraus sich Rechte an den jeweiligen Gegenpart ableiten. Diese Meinung vertreten viele „Wohlfahrts“-Liberale – bis zu einem gewissen Punkt. Oder sie stellen sich auf den Standpunkt der Laissez-faire-Liberalen und werten vieles, was traditionell als ernsthafte Verpflichtung galt, als reine Vorliebe für einen bestimmten Stil, womit eine Zuwiderhandlung in den Rang eines bloß „unartigen“ oder „unanständigen“ Verhaltens rückt. Diese Art der Trivialisierung lässt eine theoretische Perspektive erkennen, der es an den grundlegenden Mitteln fehlt, um zu unterscheiden zwischen schlichten Banalitäten, die tatsächlich nur eine Frage des Stils oder der individuellen Vorlieben sind, und verpflichtenden Handlungen, die nicht auf die Einhaltung von Rechten zurückgehen, sowie supererogatorischen Fällen von nahezu heiligmäßigem oder heldenhaftem Verhalten.
Eine eingeschränkte ethische Geltung ist nicht der einzige Verlust, der aus der Bevorzugung des Rechte- gegenüber dem Pflichtenansatz entsteht. Der zweite Nachteil ist, dass dabei eine passive statt einer aktiven Perspektive in den Mittelpunkt rückt. Wenn wir Rechte fordern, dann nehmen wir natürlich an, dass es Akteure gibt, doch unser wichtigstes Anliegen hierbei sind die Ansprüche auf das, was wir von anderen erhalten oder zugestanden bekommen müssen. Wenn wir uns hingegen an Pflichten ausrichten, müssen wir uns der Frage stellen, was tatsächlich getan werden muss.
Es liegt eine gewisse Gefahr darin, nur danach zu fragen, was Menschen zusteht bzw. was andere uns schulden. Dahinter steht ein Konzept, welches das Selbst und die anderen Menschen nur als Almosenempfänger oder Opfer sieht, nicht als handelnde Akteure oder Bürger. Diese Blickrichtung lenkt unsere Aufmerksamkeit weg von den Handlungsmöglichkeiten. Jedem ist klar, welcher Reiz in Kennedys Aufforderung liegt: „Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst.“ Abstrakter ließe sich das formulieren als: Frage lieber „Was können oder sollten wir tun?“ und verweise die Frage: „Was können oder sollten die anderen tun?“ auf den zweiten Platz.
Die zentrale Rolle, die Entschädigungsrechte in der heutigen Diskussion über Menschenrechte spielen, spiegelt die Perspektive des Almosenempfängers wider, die heute in allen Rechtetheorien aufscheint. Wenn wir uns als passiv sehen und ganz besonders, wenn wir Angst haben, von anderen geschädigt oder verletzt zu werden, fangen wir an, mit dem Finger auf das zu deuten, was uns zusteht. Erst dann wird die Frage der Rechte unsere wichtigste Sorge. Rechte als grundlegend zu betrachten ist eine Opferperspektive, die am Ende auf eine Form rektifikatorischer Gerechtigkeit verweist, die vor allem für Opfer interessant ist, nämlich die Entschädigung.
Entschädigungen lassen sich institutionalisieren, ob nun der entstandene Schaden auf einen Rechtsverstoß eines identifizierbaren Akteurs zurückgeht oder nicht. Schließlich gibt es ja auch Maßnahmen, um Bauern bei Dürreschäden zu subventionieren oder Verbrechensopfern Hilfen zukommen zu lassen. Im ersten Fall gibt es keinen Täter, im zweiten kann der Täter durchaus unbekannt bleiben. In keinem der beiden Fälle werden die Verpflichtungen aus dem Schaden von dem getragen, der ihn angerichtet hat. Ein ethischer Blick, der vom Standpunkt des passiven Opfers ausgeht, nimmt nur allzu leicht erlittenen Schaden als ausreichenden Anspruchsgrund für eine Entschädigung, ganz egal, ob der Verantwortliche identifiziert werden kann und ob die Kosten für die Entschädigung von jenen getragen werden, die den Schaden verursacht haben. So lassen sich die Einwände der Laissez-faire-Liberalen gegen bestimmte Formen der Entschädigung bzw. ihre Begeisterung für andere teilweise auch deuten als Ablehnung der Opferperspektive, für die es keine Rolle spielt, woher die Entschädigung kommt. Es ist eine Sache, wenn die Utilitaristen in der Zuweisung von Hilfspflichten keinerlei Rücksicht nehmen auf Fehlverhalten oder Rechteverstöße: Man weiß ja, dass utilitaristische Konzepte von rektifikatorischer Gerechtigkeit sich ausschließlich nach vorn orientieren und dabei ahistorisch bleiben. Doch Rechtetheoretikern, vor allem solchen, die für Entschädigungsrechte eintreten, können diese Dinge konsequenterweise nicht gleichgültig sein.
Laissez-faire-Liberale lehnen die Perspektive des Almosenempfängers ja auch nicht völlig ab. Wie die „Wohlfahrts“-Liberalen sehen sie eher Rechte als Pflichten für grundlegend an. Ihre erste Frage ist daher: „Was steht mir zu?“ Und nicht: „Was sollte ich tun?“ Ein häufiger Kunstgriff bei der Konstruktion solcher Rechteansätze ist es, die größtmögliche Zahl von Freiheiten herauszufiltern, die wirklich allen zugestanden werden können. Dennoch erstaunt es, dass die Laissez-faire-Liberalen angesichts der seriösen und kompetenten Kritik bzw. der Stärke der vorgebrachten Argumente trotzdem die Auffassung vertreten, dass Individuen genau die Art von Akteur sein können, die ihr ethischer Ansatz erfordert. Der Ursprung dieser Auffassung könnte meiner Ansicht nach darin zu suchen sein, dass die tatsächlichen Möglichkeiten und Nicht-Möglichkeiten jener, die zum Handeln aufgefordert sind, sowie ihr Anteil an den vorangegangenen Taten meist im Dunkel bleiben, wenn man von der Perspektive des Opfers ausgeht. Die Konzentration darauf, was empfangen werden sollte, hat vielen Liberalen ermöglicht, die Quellen der Entschädigung nicht zu benennen.
All das wäre weiter nicht wichtig, wenn die Liberalen gar keine andere Wahl hätten, als ihre Argumente auf die Perspektive des Empfängers zu gründen und menschliche Pflichten aus den Menschenrechten abzuleiten. Doch das Gegenteil trifft die Wahrheit schon eher. Da es kein Maß für das Handeln gibt, lassen sich alternative Freiheiten oder breiter aufgefasste Rechte nicht als wichtiger oder unwichtiger hierarchisieren. Versuche, die Freiheit mit der größten Reichweite zu identifizieren, die der Freiheit für alle am nächsten kommt, oder den maximalen Satz von Rechten, die universell gelten können, müssen fehlschlagen, weil beide Ansätze radikal unterbestimmt sind. Im Gegensatz dazu trifft das auf Versuche, Handlungsprinzipien festzustellen, die universell gelten können, sowie die zugehörigen Pflichten nicht zu. Die Verlagerung der Perspektive von Rechten und Empfängeransprüchen hin zu Pflichten und aktivem Tun verhindert ja nicht, dass wir über menschliche Rechte reden können: Sie liefert diesen vielmehr ein festeres Fundament. Die Perspektive der Rechte ist ja in der Perspektive der Pflichten nicht unterdrückt, sondern „aufgehoben“41.
Drittens: Da Pflichttheorien von einer Perspektive des aktiven Handelns ausgehen, müssen sie den partiellen, verflochtenen und sozial konstruierten Charakter des menschlichen Handelns berücksichtigen (statt ihn einfach wegzuerklären). Rechtetheoretiker geraten oft in begriffliche Untiefen, wenn es um die Frage geht, ob bestimmte Schäden wie Armut oder Elend, deren Kausalketten komplex und nie ganz nachvollziehbar sind, als Rechtsverstöße betrachtet werden sollten, die eine Entschädigung erfordern. Von einer aktiven Perspektive aus betrachtet kann die Beseitigung von Armut und Elend, die den Menschen das Handeln unmöglich machen, zu einer fundamentalen Pflicht werden und verliert damit den Status einer Angelegenheit, der man sich nur dann zuwenden muss, wenn man für frühere Rechtsverstöße Entschädigung leisten will. Dies ist vor allem dann eine wichtige Frage, wenn es um die gerechte Behandlung von Armen geht. Es wäre wohl ein großer Unterschied, wenn wir als Ausgangspunkt die Frage nähmen, was wir gegen solches Armut und Elend, das die Menschen ihrer Handlungsfähigkeit beraubt, tun können. Und uns nicht lange damit abgeben, darüber zu streiten, ob wir den Entschädigungsgedanken so weit ausdehnen können, dass aus der Armut ein Rechtsverstoß wird und sie damit einen Anspruch in einem System selektiver rektifikatorischer Gerechtigkeit darstellt.
Abschließend lässt sich sagen, dass meiner Ansicht nach die einem Bekenntnis zu Rechten innewohnende Stoßrichtung sich besser ausdrückt im Fokus auf Pflichten, Handeln und Akteure als in der Sorge um Rechte, passive Leistungsansprüche und Opfer. Dieser Ansatz setzt zu sehr auf Entschädigungsrechte, weil Menschen, die sich und andere vorzugsweise als Rechteinhaber und mögliche Opfer sehen, verständlicherweise einen Schutz suchen, der dem gleichkommt, den juridische Entschädigungsrechte bieten. Wo aber die Täter nicht identifiziert werden können, kann ein Anspruch auf Entschädigungsrechte diesen Schutz nicht liefern.
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