Kitabı oku: «Das Raunen des Flusses», sayfa 2

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Mutters Eigenwille

Immer wieder die Frage: bis wohin reicht das Gedächtnis zurück, diese mysteriöse Fähigkeit, längst Vergangenes von innen her zu sehen. Manches hat sich schon in der Kindheit verankert, wenn auch nur schemenhaft. Oft bin ich nicht sicher, ob etwas Erinnerung ist oder blosse Imagination. Zum Beispiel wie ich im Bettchen liege, wie die Türe aufgeht und meine Mutter lautlos neben mir erscheint, wie sie mit mir redet – wobei ich, im vorsprachlichen Stadium, ihre Worte vermutlich nur als freundliches Gelalle wahrnehme.

Das war noch in Carolina, dessen Welteinsamkeit mich möglicherweise für immer geprägt hat. Kaum zu ermessen, wie sehr Umwelten an uns hängen bleiben. Schon die Mutter selber war eine Umwelt. Ich sehe noch, wie sie mich morgens vom Bett holt, mich auf den Arm nimmt, mit mir in die Stube geht und regelmässig vor den Spiegel tritt. Für sie wahrscheinlich ein heiterer Tagesbeginn, wäh­rend ich selbst den Spiegel nicht mochte und mir das Gesicht verhüllte. Nachher stand sie mit mir am Fenster.

Ich war noch im Nachthemd, sie selber noch im Schlafrock und mit gelöstem Haar. Sie spazierte mit mir auf dem Arm in der Stube umher; wenn ich kalte Füsse hatte, setzte sie mich auf einen Stuhl, sie selber setzte sich nahe vor mir und nahm meine Füsse, um sie zu wärmen, zwischen ihre Beine. Ich hatte das nicht gern, etwas sträubte sich dagegen, so sehr ich sonst ihre Nähe suchte. Nachts zum Beispiel war ich glücklich, neben ihr zu schlafen und noch im Schlaf ihre Wärme zu spüren. Es bekümmerte mich, wenn ich morgens erwachte und statt ihrer meine Schwester oder einer meiner Brüder neben mir lag. Nächtliche Bettwechsel gab es immer wieder, umständehalber oder weil eines der Grösseren unerwartet auch zur Mutter ins Nest kroch und sie ihn dann nicht vertreiben wollte; nur war für drei zu wenig Platz vorhanden, weshalb sie, sobald der Zuzüger eingeschlafen war, das eigene Bett verliess und im freigewordenen weiterschlief.

Bevor Johann, unser Jüngster, zur Welt kam, genoss ich acht Jahre lang das Privileg des Nestkückens. Vielleicht der Grund einer starken Mutterbindung. Ich frage mich, ob mir aus dieser Bindung nicht sogar Eigenschaften erwachsen sind, die man sonst als erblich bezeichnet, während sie vielleicht durch lange leibliche und seelische Nähe einfach übertragen wurden – in meinem, beziehungsweise unserem Fall eine gewisse Schwerblütigkeit, Stimmungsschwankungen, Wech­­sel zwischen Geselligkeit und Ein­sam­keit, gelegentliche Ge­sellschaftsflucht, Festtagsallergien, Müdig­keit am Morgen und Aufleben bei Nacht. Vielleicht sogar gewisse nervlich bedingte Herzschwächen bei Bise oder Föhn.

Wenn sie hie und da auf Reisen ging, nahm sie mich mit, wobei ich mich schon als Kleiner daran gewöhnt hatte, dass wir fast im­mer den ersten Zug verpassten. Ich weiss nicht, ob sie nicht auf die Uhr schauen konnte oder ob sich in ihr irgendetwas gegen Uhren und Fahrpläne sträubte. Vielleicht wusste sie schon im voraus ganz genau, dass wir den ersten Zug verpassen würden. Sie hatte ihren eigenen Rhythmus, vor allem eine für sie offenbar lebensnotwendige Mor­gen­langsamkeit, war dann auch eigenwillig ge­nug, sich von der Welt nichts aufzwingen zu lassen. Eine Hoteldirektorin in St. Gallen, bei der sie einst als erwachsenes Mädchen angestellt gewesen war, soll ihr einmal gesagt haben: «Du hast einen Kopf, und der gehört dir!»

Unsere Reisen fanden meistens an Sonntagen statt. Manch­mal gingen wir nach Sent zu ihrer jüngeren Schwester Hermina. Falls wir ausnahmsweise den ersten Zug erwischt hatten, konnten wir in Scuol das Postauto besteigen, das auf uns wartete, durch die Ortschaft fahren und uns dann in sanften Kurven bergwärts tragen lassen. Hinter uns blieb eine Staubwolke zurück, die Strasse war von Bäumen gesäumt. Bei schönem Wetter war das Autodach geöffnet, dann huschten grüne Laubkronen über uns hinweg ... Doch wenn wir erst den zweiten Zug benützt hatten, gab es kein Postauto, dann stand uns ein langer Marsch bevor; zuerst das langgezogene Scuol mit Hotels, Läden und Schaufenstern, und wenn wir die Ortschaft endlich hinter uns hatten, erklärte sie: «Jetzt haben wir schon fast die Hälfte.» Ich widersprach nicht, obwohl ich wusste, dass es nicht stimmte. Kurz nach dem Dorfausgang gab es oberhalb der Strasse eine schwefelhaltige Mineralquelle. Wir gingen hinauf, man konnte eine Röhre nach unten drücken, worauf das Wasser kam. Ich fand es scheusslich, trank aber trotzdem, weil es gratis war und weil Mutter erklärte, das fördere den Appetit für das herrliche Mittagessen, das uns in Sent erwarte. Nachher ging es den Berg hinauf, Kurven hin und her, Naturstrasse, am Rande die staubige Böschung, graue Wer­mutsträucher, Disteln und Grillengezirp. Sie musste mich ein biss­chen ziehen und immer wieder aufmuntern. Irgendwo sah man auf dem Berg endlich das Dorf, eine kompakte Häuserkulisse im blauen Himmel, aber noch unendlich fern. Man sah den schlanken Turm, vernahm etwas Glockengeläute. Irgendwo machten wir eine Pause, sie nahm ihr Taschentuch, benetzte es mit Speichel und putzte irgendeine Stelle an meinem Gesicht. Doch unsere Ankunft in Sent, das Haus der Verwandten, die Begrüssung und das herrliche Mittagessen, mit dem sie mir den Marsch schmackhaft gemacht hatte, das ist weg, vergessen, ausgelöscht, als wären wir nie in Sent angekommen. Es bleibt nur Mama, die Mühsal und der unendliche Weg.

Ich denke an jene Reisen mit ihr, an den Knirps, den sie an der Hand mitzog, frage mich, ob das schon die gleiche Person war wie die­jenige, die sich jetzt zu erinnern versucht.

Sie nahm mich wie gesagt immer mit. Erstens war niemand zu Hause, um mich zu hüten, zweitens gab ihr meine Begleitung vielleicht eine gewisse Sicherheit. Sie war zwar eine starke Persönlichkeit, doch kann ich mir vorstellen, dass bei längeren Reisen eine leichte Weltbangigkeit mitging und dass sie dann froh war, sich an mir festhalten zu können. Chur zum Beispiel war schon sehr weit weg. Die Reise nach Chur war schon deshalb aufregend, weil es nach Bever, wo man umsteigen musste, durch einen langen Tunnel ging. Wenn man jenseits herauskam, schien die Welt irgendwie verändert. Zuerst noch Wald und Felsen, doch bald gelangte man in sanftere Täler hinab, die im Gegensatz zum noch winterlichen Engadin schon grün schimmerten. Man sah ganze Haine weiss blühender Obstbäume, die meine Mutter zu Freudenausrufen bewegten. Unter einer hallenden Metallbrücke strömten zwei Flüsse zusammen, um dann gemeinsam weiter zu ziehen. Merkwürdig schien mir, dass wir, nachdem es zuerst immer westwärts gegangen war, auf einmal wieder nach Osten fuhren, und ich fürchtete, wir könnten, trotz der veränderten Gegend, wie durch Zauberei plötzlich wieder zu Hause ankommen.

In Chur wohnten die Grosseltern väterlicherseits, zudem ein Onkel und eine Tante. Bei Grossmutter Berta kam einem ein be­stimm­ter Hausgeruch entgegen, den ich jedesmal wieder erkannte – unten duftete es nach Waschküche, zwei Treppen weiter oben nach Gasherd. Wir betraten jeweils die Wohnung ohne zu läuten, weil nona schwerhörig war und das Läuten gar nicht gehört hätte. Hinter dem Glas der Küchentüre sah man ihren Schatten. Mutter klopfte, öffnete dann vorsichtig, um sie nicht zu er­schre­cken. Wenn man sich mit ihr unterhielt, musste man sehr laut reden. Ich fand es merkwürdig, dass sie dann selber ebenfalls laut redete, als wären alle taub. Wenn man sass, bediente sie sich eines hornartigen Geräts, das sie sich ans Ohr hielt und in dessen muschelartige Öffnung man hineinreden musste.

Im Gegensatz zu allen andern Verwandten war sie blond und bleich, im übrigen auch die einzige Katholikin in der Familie. Zu Hause unterhielt man sich oft darüber, dass sie von Zeit zu Zeit Erscheinungen hatte, fragte sich, ob das mit ihrer Schwerhörigkeit zusammenhängen könnte. Ihr Mann, Grossvater Andri, glaubte nicht daran, weil sie nämlich schon früher Visionen gehabt hatte; er war überzeugt, die Sache habe etwas mit ihrem katholischen Glauben und ihrer Religiosität zu tun – sie denke zu viel ans Jenseits und an die Toten, und dann kämen sie eben. Hie und da, etwa bei Tisch, konnte es geschehen, dass sie plötzlich erschrak, das Besteck fallen liess, verwirrt ins Leere blickte und hastig flüsterte: «Schau da! Schau da! Habt ihr gesehn?» Das Ganze dauerte nur ein paar Sekunden, dann war der Spuk vorbei. Nachher schien sie noch blasser als sonst. Sie hatte jemanden gesehen, der zur Türe hereinkam, etwas im Kü­chenschrank suchte und dann durch die Mauer verschwand. Sie erkannte die Person nie genau, manchmal war diese wie durchsichtig, doch sie war überzeugt, es handle sich um ihre Tochter Chatrina, die mit dreiundzwanzig Jahren gestorben war. «Mein böses Gewissen», sagte sie. Sie dachte an damals, als Chatrina mit Lungentuberkulose darniederlag und sie selber ihre Tochter, aus Angst vor Ansteckung, durch jemand andern pflegen liess und nicht einmal in der Nacht ­ihres Todes bei ihr blieb – aus purer Feigheit. Dafür hatte sie jetzt ihre Heimsuchungen, die sie, wie sie behauptete, manchmal schon eine Weile vorher kommen spürte. Wenn sie dann plötzlich aufhorchte und zur Türe starrte, fragte Grossvater ganz ruhig, die Suppe löffelnd: «Kommt sie wieder?»

Grossvater Andri war ein grosser, starker Mann, damals in Chur als Bauarbeiter tätig. Bei ihm sah ich übrigens zum ersten Mal im Leben ein Grammofon. Er führte mich in die Stube, holte ein Köfferchen herbei, öffnete es, nahm eine schwarz schimmern­de Platte mit feinen Rillen aus einer Papierhülle und legte sie auf den beweglichen Teller des Ap­pa­rates, drehte an einer Kurbel, bewegte einen mit einer dünnen Nadel versehenen Metallarm, senk­te ihn vorsichtig auf die Platte herab. Eine Weile vernahm man ein kratzendes Geräusch, dann plötzlich Ländlermusik – jene Musik, die ich von zu Hause kannte, wenn Vater mit den Müllers spielte – doch hier tönte sie aus diesem kleinen Kasten, was für mich an Zauberei grenzte. Grossvater schaute mir ernst nickend ins Gesicht, wie jemand, der tatsächlich zaubern kann. «Siehst du?», sagte er. «Hörst du die Klarinette und die Bassgeige? Und die Handorgel, das ist dein Vater! Die sind jetzt alle da drin!» Ich staunte, konnte mir nicht erklären, wie die Männer in diesem Köfferchen Platz hatten und noch so gutgelaunt aufspielten. Nach einer Weile jedoch, während sich die Platte drehte und es drauflos ländlerte, akzeptierte ich das Unglaubliche als etwas Naturgegebenes. Zuletzt schien alles möglich. Als die Musik zu Ende war und es wieder kratzte, legte Grossvater die Platte auf die andere Seite, dann kam ein neues Stück, und diesmal glaubte ich, meinen Vater noch viel deutlicher herauszuhören.

Am nächsten Tag hätte ich die Musik gern nochmals gehört, doch mittags schien Grossvater schlechtgelaunt, und abends warteten wir vergebens mit dem Nachtessen auf ihn. Grossmutter Berta schien besorgt. Da er nicht kam, assen wir allein. Als später eine meiner Cousinen (sie war ein Jahr älter als ich) auftauchte, schickte man sie zu einem nahe gelegenen Wirtshaus, um nachzuschauen, ob der «Neni» dort sei. Sie eilte davon, kam bald wieder wie ein Sturmwind zur Türe herein und meldete ausser Atem, er sei tatsächlich dort, man höre ihn bis auf die Strasse heraus. Nona Berta forderte sie auf, so rasch wie möglich ihre Mutter zu holen, die Cousine rannte wieder davon, etwas später erschienen sie beide. Es wurde diskutiert, was zu tun sei. Meine Mutter, tapfer wie sie war, anerbot sich, in jene Beiz zu gehen und den Grossvater nach Hause zu bringen, doch wur­de ihr davon dringend abgeraten. Am besten, meinte die Tante, wir würden so rasch wie möglich unsere Sachen zusammenpacken, mit ihr kommen und bei ihr übernachten. Das geschah denn auch, wir verabschiedeten uns von der Grossmutter, wechselten das Quartier, wanderten mit unserem Gepäck durch heiter beleuchtete Strassen, kamen auch an jener berüchtigten Kneipe vorbei, aus der es tat­säch­lich laut tönte. Bald erreichten wir das Haus an der Paradiesgasse, in welchem die Tante wohnte. Es gab noch etwas Obst und Schoko­lade, dann steckte man mich ins Bett, und zwar zu meiner Cousine, die sich über die Ereignisse des Abends geradezu riesig freute und vor Vergnügen mit den Beinen strampelte.

Als ich älter war, erfuhr ich übrigens, dass meine Mutter da­mals, während ich schlief, doch noch jenes Wirtshaus aufgesucht und Grossvater herausgeholt hatte. Sie brachte ihn nach Hause und blieb dort, bis er den von ihr verordneten schwarzen Kaffee getrunken hat­te und dann zu Bett ging.

Unsere längste Reise führte uns ins Ausland, das heisst ins Liechtensteinische. Ich wusste nicht, was «Ausland» bedeutete, merkte nur, dass die Fahrt länger dauerte als sonst. Verwandte hatten wir dort keine, doch in Liechtenstein waren die Zahnärzte billiger als bei uns. Mutter musste ihre Zähne behandeln lassen, und da sie als Frau eines Bähnlers eine Gratisfahrkarte besass, konnte sie durch die lange Reise etliche Franken einsparen.

Den ersten Zug hatten wir diesmal nicht verpasst. Ich vermute, dass wir gegen Mittag in Vaduz ankamen. In einer Konditorei kauften wir etwas Patisserie, dann wanderten wir aufs Feld hinaus, setzten uns neben einem Zaun ins Gras und assen zu Mittag. Vielleicht war es Frühling, ich glaube mich an Löwenzahn zu erinnern, an weidende Schafe, auf einem Felsen ein imposantes Schloss, vom Dorf herüber Glockengeläute.

Nach der Mahlzeit benetzte Mutter ihr Taschentuch und putzte mir den Mund. Sie lehnte mit dem Rücken am Zaun, ich lag neben ihr, mit dem Kopf auf ihrem Schoss. Morgens waren wir früh aufgestanden, jetzt nickten wir bald ein und schliefen eine ganze Weile. Doch plötzlich fuhr sie zusammen und sprang auf. Wir mussten uns beeilen, rannten über das Feld in Richtung Dorf, sie zog mich mit sich fort, einmal fiel ich hin, darauf trug sie mich ein Stück weit. Wir betraten ein Haus, das sich gerade neben der Konditorei befand. Während sie sich dann stundenlang vom Zahnarzt behandeln liess, schlief ich in einem Zimmer mit rosafarbenen Tapeten. Ich erinnere mich nicht mehr, wie man mich dort zu Bett brachte, sondern nur an mein Erwachen: ein Fräulein in weissem Kittel kam lächelnd auf mich zu, sagte etwas auf Deutsch, nahm mich auf den Arm und verliess mit mir das Zimmer. Unten wartete Mama.

In St. Moritz wohnte ihre Schwester Ottilia. St. Moritz grenzte ans Märchenhafte: unten der schimmernde See, oben die schloss­ähnlichen Gebäude mit Türmen und Terrassen. Es gab rötliche Plätze, wo Männer und Fräuleins miteinander Ball spielten; es gab duftende Bäckereien, zauberhafte Schaufenster, Warenfülle – ein Schla­raffenland, man hätte sich durch Berge von Pralinen, Kuchen und Bananen hindurchfressen mögen. Auf den Strassen Fahrzeuge mit oder ohne Dach, Pferdekutschen, Kummetgeklingel. Die Leute grüss­ten nicht. Mutter sagte: «Hier reden sie nicht mehr romanisch, hier wimmelt es von Fremden, und die sind anders als wir.» Sie hatten glättere Gesichter, waren anders gekleidet, sie be­wegten sich mit einer gewissen Trägheit; manche trugen Sonnenbrillen, irgendeine buntscheckige Mütze. Man sah Frauen mit blutroten Lippen, und mir schien, dass sie ihre Münder bewusst nach vorn hielten, damit man sie besser sehe. Es gab sogar alte Frauen mit solchen Lippen, wobei das Rot merkwürdig von ihren bleichen Gesichtern abstach.

In einer Parkanlage nahe der Strasse sass ein Fräulein auf einer Bank, neben ihr ein älterer Herr, der sie um die Schulter hielt und ihre Haare streichelte. Das Fräulein war mir aufgefallen, weil sie nicht nur die Lippen, sondern das ganze Gesicht gefärbt hatte – die Wangen rötlich, die Augenlider wie mit Grafit bemalt und zudem dunkel umrandet, Brauen und Wimpern schwarz –, so dass ich zuerst glaubte, sie trage eine Maske. Sie schien traurig zu sein, weshalb ihr der ältere Herr das Haar streicheln mochte. Vielleicht starrte ich sie an, denn plötzlich zeigte sie mit dem Finger auf mich und begann zu lachen. Mutter zog mich mit sich fort, einige Schüler lärmten an uns vor­bei, einer von ihnen warf seine Schultasche weit von sich auf die Strasse, ein Auto hupte. Ir­gendwo hörte man Musik, dann gerade über den Dächern das Gesurre eines Flugzeugs.

Der Ort hatte etwas Verwirrendes. Auf dem Dorfplatz, mitten im Mittagsverkehr, blieb Mutter auf einmal stehen: ein gewisser Onkel, den ich nicht kannte, war hier Polizist und hatte offensichtlich etwas mit diesem Verkehr zu tun. Sie sagte: «Siehst du dort drüben – das ist Onkel Gisep!» Der Mann stand, in grüner Uniform und mit weissen Handschuhen, auf einem Podest, gestikulierte mit Armen und Händen, schien den Automobilisten Befehle zu erteilen. Die Autos kamen von verschiedenen Seiten, einzelne blieben stehen, andere fuhren los und überquerten den Platz; er winkte, spedierte sie nach links oder rechts ... Wie ging das zu? Entweder wählten die Fahrer genau die Richtung, die er ­ihnen angab, das heisst sie gehorchten ihm, oder es verhielt sich so, dass er genau wusste, wohin sie fahren mussten.

Die Wohnung der Tante kannte ich, auch den Blick zum Stubenfenster hinaus – Dächer und Kamine, irgendwo eine grosse Kuppel, in der Nähe ein Kirchturm, der ganz schief stand, weit unten der See, einige Segelschiffchen. Doch was mir in diesem Haus am besten gefiel, war die Toilette, ein längliches Lokal, an dessen Türe ein farbiger Karton hing; man sah darauf einen sommersprossigen Spitzbuben mit einer Zahnlücke, der mir kameradschaftlich zugrinste.

Bevor wir uns verabschiedeten, musste ich der Tante zu­­liebe immer ein bestimmtes Lied singen, das ihr, wie sie sagte, so gut gefiel. Manchmal, vor allem wenn noch andere Leute da waren, sträubte ich mich dagegen. Dann liess man mich im Nebenzimmer singen, wäh­rend die Türe einen Spalt offen blieb.

Abends, auf dem Weg zum Bahnhof, fragte ich mich, ob wir noch­mals das Fräulein mit dem Maskengesicht treffen würden. Es reizte mich, sie noch einmal zu sehen. Doch als wir an jener Stelle vorbeikamen, war das Bänkchen verlassen.

Einmal war Mutter ohne mich verreist. Vater war auch nicht da, wir Kinder allein zu Hause. Es dunkelte schon, als Betta von der Terrasse hereinrief, wir sollten schnell herauskommen. Mutter hatte dort ihre Blumen, unter anderem einen Kaktus, der soeben zu blühen begann. Aus der dornigen Schale entliess er eine herrliche weisse Blüte, auf die Mutter jahrelang gewartet hatte. Nun war sie da. Wenn man genau hinschaute, glaubte man, sie langsam wachsen zu sehen – eine füllige Dolde, zuerst noch aufgerichtet, dann durch das eigene Gewicht sich neigend.

Wir staunten über dieses Weiss, das wie Schnee im Dunkel schim­merte. «Wie schade, dass Mama nicht zu Hause ist», meinte Betta. «Sollte man nicht zum Nachbarn gehen und nach Zürich anrufen, damit sie es wenigstens weiss?» – «Das hat keinen Sinn», sagte Adrian. «Wenn sie es weiss, kann sie die ganze Nacht nicht schlafen.» Hier­auf Thom: «Aber morgen kommt sie nach Hause, dann sieht sie’s.» – «Ja, dann sieht sie’s», sagte Adrian, «aber morgen ist sie wahr­schein­lich schon verblüht – was so schön ist, dauert nicht lange.»

Leider stimmte es. Als Mama am nächsten Tag heimkam, war die Blüte schon halb verwelkt, ihr Zauber dahin, das Weiss gelblich verfärbt. Mutter war sichtlich enttäuscht. Sie schaute, kehrte in die Küche zurück, ging später nochmals hinaus: «Vielleicht hättet ihr den Kaktus in den Flur tun sollen, wo es kühl und schattig ist. Die Sonne hat ihm nicht gut getan.» Betta tröstete sie: «Aber der wird sicher wieder einmal blühen.» – «Ja, ja, aber das dauert wieder Jahre, und wer weiss, ob wir dann noch da sind.»

Ich war sechsjährig (wir wohnten damals schon in Zernez), als ich zu stehlen begann. Ich stahl Geld, sonst nichts, nur Geld, und zwar aus Mamas Haushaltbörse. Diese befand sich in einer kleinen Schublade des Küchenbüffets. Ich nahm immer nur Kleingeld, weil ich vermutete, das falle weniger auf. Angefangen hatte ich mit einem Zehnrappenstück, für das ich im Laden bei Regi, knapp zwei Minuten von uns entfernt, einige Zuckerplätzchen oder einen Schokoladestengel bekam. Später nahm ich dann mehr, zwei Zehnräppler, einen Zwanziger, dann einen Fünfziger, je nach Börseninhalt. Die Fünfziger waren kleiner als die Zwanziger, versteckten sich manchmal auch in den Falten des Beutels und schienen mir schon deshalb geeigneter zu sein. Als ich einmal in der Börse einen einzigen Zehner vorfand, liess ich ihn drin und kam mir dabei sehr klug vor. Am günstigsten war es, wenn Mutter gerade vom Laden kam und dort mit einem grösseren Geldschein bezahlt hatte. Ich sass dann in der Küche und schaute zu, wie sie Brot, Spaghetti, Kaffee, Konservenbüchsen auspackte, wobei der Geldbeutel eine Weile wie ein Kätzchen vor mir auf dem Tisch liegen blieb.

Ich erinnere mich, wie leicht mir das Stehlen fiel und wie der Reiz zunahm. Es war der intensivste Reiz, den ich je erlebt hatte. Das geklaute Geld steckte ich jeweils in die Tasche, schlenderte vor mich hin pfeifend die Treppe hinunter und aus dem Haus, ging dann entweder zu Regi oder in die Bäckerei Füm, kaufte Schokolade, Makrönchen oder Mohrenköpfe, was ich dann in irgend einem verborgenen Winkel verspeiste.

Süssigkeiten waren das eine, der Diebstahl das andere, denn wäh­rend ich stahl, dachte ich noch kaum an den Bäckerladen, da war das Klauen noch Selbstzweck. Mit leichtem Kitzel betrat ich die Küche, dann die Stube, ich rief: «Hallo, ist jemand da?» Wenn sich niemand meldete, näherte ich mich dem Büffet, öffnete die kleine Schublade, griff nach dem Geldbeutel, spürte die Berüh­rung mit dem weichen Leder. Jetzt nahm ich gelegentlich auch Einfrankenstücke. Für einen Franken bekam man allerhand, oft reichte es sogar für eine der grossen Schokoladen und einige Makrönchen. Von bösem Gewissen war nicht die Rede, vielleicht war ich mir nicht einmal bewusst, etwas Böses zu begehen. Im Gegenteil, in einem Anflug von Generosität war ich dazu übergegangen, das Gekaufte jeweils mit ein paar Kameraden zu teilen. Ich merkte, dass sie mich schätzten. Wir vereinbarten einen stillen Ort, wo sie auf mich warteten, bis ich mit meinem Papiersack auftauchte. Es wurde nie gefragt, woher ich das Geld hätte, um die Sachen zu kaufen. Vielleicht ahnten sie es, sagten aber kein Wort.

Einmal hätte es mir schlecht ergehen können. Ich war mit zwei Kirschen aus Zuckerguss heimgekommen. Auch die bekam man bei Füm; sie waren gross, rot glasiert, hingen voll und appetitlich an einem zweigähnlichen Goldfaden, wie zwei richtige Kirschen, die mir schon ihrer Farbe und Grösse wegen gefielen. Ich hielt sie in der Hosentasche versteckt, ging auf die Terrasse hinaus, um sie dort in aller Stille zu geniessen. Ich zerriss den Goldzweig, steckte eine der beiden Früchte wieder in die Tasche, die andere in den Mund. Die Türe stand offen, doch niemand störte mich; ich be­gann zu lutschen, genoss die leckere Kugel in meinem Mund, zumal sie kompakt schien und nicht so bald zergehen würde. Doch eine Weile später, als sie kleiner geworden schien und ich sie schlucken wollte, blieb sie mir im Halse stecken; ich hatte mich verrechnet, brachte sie weder hinunter noch in den Mund zurück, konnte auf einmal nicht mehr atmen, schreien ging auch nicht; ich erstickte, stiess vermutlich nur stöhnende Laute hervor, schüttelte die Arme und stampfte mit den Füssen ... Ein Schutzengel kam mir zu Hilfe, genau im richtigen Moment wie alle Schutzengel, nämlich Frau Giamara, die Gattin unseres Hausvermieters, die zufällig einige Ferientage hier verbrachte. Sie erschien an der Terrassentüre, sah meinen grotesken Tanz, eilte heraus. Am Vor­abend (das wurde mir erst später erzählt) hatten meine Eltern, die Frau Giamara sonst sehr schätzten, über sie gesprochen und sich dabei über ihre langen Fingernägel gewundert. Doch gerade diese ka­men mir jetzt zugute: die Frau hielt mich mit dem linken Arm fest, steckte mir den Kleinfinger der Rechten in den Rachen, grübelte darin mit ihrem langen Fingernagel, bis es ihr gelang, die stecken gebliebene Kugel herauszuholen. Dabei rief sie laut nach meiner Mutter, und als diese herbei rannte, war ich bereits gerettet und konnte einen Schrei ausstossen. Später sagte man mir, ich sei schon ganz blau gewesen.

Merkwürdig übrigens, wie Frau Giamara die Zuckerkirsche in der flachen Hand hielt und fragte: «Was soll ich damit tun?» – «Wegwerfen!», sagte meine Mutter. Später, als ich allein war, warf ich auch die andere weg.

Leider kam mir diesmal der liebe Gott, den ich sonst in kritischen Situationen herbeirief, nicht in den Sinn, sonst hätte ich den Vorfall als Fingerzeig von oben deuten können. Stattdessen klaute ich weiter.

Mit der Zeit begann Mutter, die Dieberei zu bemerken, schien aber im Zweifel, welches ihrer Kinder dahinter steckte. Vielleicht dass sie mich, als ihren Jüngsten, vorerst ausschloss. Eines Abends bei Tisch sagte sie enttäuscht: «Heute ist mir schon wieder Geld gestohlen worden; ich frage mich, welches meiner Kinder ein Dieb ist.» – Betretenes Schweigen, man blickte sich um. Dann Betta, halb zornig weinend: «Also mich müsst ihr nicht anglotzen, ich habe noch nie gestohlen.» Hierauf Thom, die Ruhe in Person: «Ich auch nicht.» Adrian, damals schon Sekundarschüler, erklärte tro­cken: «Wenn jemand stiehlt, hat er das im Blut, dann ist ihm nicht zu helfen.» Vater fragte ihn: «Woher weisst du das? – Hast du es genommen? Zum Beispiel für Zigaretten?» Adrian war empört: «Für wen hältst du mich? Übrigens habe ich noch nie geraucht, wenn du es wissen willst!» Vater meinte: «Also wenn es niemand von euch war, dann ist es wahrscheinlich die Katze gewesen.»

Ich selber tat, als hätte ich kaum zugehört. Eine Weile herrschte Schweigen, doch als ich das Gesicht vom Teller hob, sah ich, dass alle Blicke auf mich gerichtet waren. Vor allem Vater musterte mich mit einer unheimlichen Miene. Ich weiss nicht, ob es mir ge­lang, Unschuld vorzutäuschen, jedenfalls passierte diesmal noch nichts.

Ich war entschlossen, nicht mehr zu stehlen. Nie wieder. Doch einige Tage später, da mich niemand zur Rede gestellt hatte und die Sache schon vergessen schien, tat ich es wieder. Es war Nachmittag, Mutter hatte erklärt, sie müsse zu einer Nachbarin. Ich hör­te, wie sie die Treppe hinunterstieg, die Haustüre öffnete und wieder zumachte. Etwas später, als ich in der Küche die kleine Büffetschublade öffnete, vernahm ich ein Geräusch: sie beobachtete mich, ich sah ihr Gesicht im Türspalt.

Es folgte eine Gerichtsszene, nicht laut, aber schrecklich. Ich stand da, vermutlich mit kurzer Hose und Hosenträgern, sie sass nahe vor mir, schaute mir ins Gesicht: «Dann bist du es also? Mein jüngster Sohn, den ich am liebsten hatte, und der nun ein Dieb ist, ein richtiger Dieb, der seiner Mutter Geld stiehlt. Ich hätte nie gedacht, einen solchen Sohn zu haben. Wie konnte ich mich nur so täuschen ...» Ich weinte nicht, ich schwieg, verstand vielleicht erst jetzt, was ich getan hatte.

Für den Tag darauf war ein Ausflug des Kindergartens geplant. Doch daraus wurde nun nichts: «Morgen bleibst du zu Hause», sagte sie, «kommt gar nicht in Frage, dass du auf die Schulreise gehst. Wenn ich der tanta Maria (das war un­sere geliebte Kindergärtnerin) erzählen würde, was du getan hast, würde sie dich gar nicht mehr sehen wollen. Jetzt gehst du sofort ins Bett, bevor die andern heimkommen, damit ich mich nicht für dich schämen muss.»

Ich ging ohne Widerrede, eilte ins Schlafzimmer hinauf, zog mich bis auf die Unterhose aus und schlüpfte ins Bett. Ich kam nicht mehr dazu, an das Vorgefallene zu denken, weil ich bald einschlummerte. Während der Nacht begann ich einmal im Schlaf zu weinen, erwachte aber erst, als ich merkte, dass Mutter neben mir im Bett lag. «Hör nur auf zu weinen», sagte sie, «das hat jetzt keinen Sinn.»

Am nächsten Morgen frühstückte ich allein. Als ich vom Schulplatz herüber Lärm hörte, ging ich ans Fenster, sah, wie sich die Gesellschaft dort besammelte, alle mit Rucksäckchen und Wander­ausrüstung. Auch einige Mütter waren dabei. Später er­schien tanta Ma­­ria, unser Zauberengel, ebenfalls mit Rucksack, auf dem Kopf ein hübsches grünes Hütchen. Man umgab sie von allen Seiten, sie reich­te allen die Hand. Zuletzt sangen sie noch ein Lied, das wir eben gelernt hatten, dann zogen sie davon. Ich setzte mich wieder an den Tisch. Ich war hungrig, seit dem Vortag mittags hatte ich nichts mehr gegessen. Einmal kam Mutter herein, setzte sich an den Tisch, blätterte in der Zeitung, wortlos und ohne dass wir uns ins Gesicht schauten. Sie trank einen Schluck Kaffee, stand wieder auf und entfernte sich.

Um Bussebereitschaft zu demonstrieren, ging ich nach dem Frühstück wieder ins Bett, lag dort lange auf dem ­Rü­­cken und verbrachte die Zeit damit, aus den Ästen und ­Maserungen in den Brettern der Zimmerdecke allerlei Gesichter und Fratzen herauszulesen, wobei ich sie mit Zu­hilfenahme der Hände und mit Au­genzukneifen verändern konnte. Eine Weile hielt ich die Augen geschlossen, sah dann im eigenen Innendunkel farbige Tupfen umherschweifen, versuchte auch, sie mit dem blossen Willen nach rechts oder nach links zu bewegen. Später holte ich vom Nachttisch der Eltern den grossen Wecker, spielte ein bisschen damit, liess ihn wiederholt klingeln, drehte die Zeiger nach vorn und nach hinten, zog ihn wieder auf, steckte ihn schliesslich unter mein Kissen, legte mich hin und horchte, wie er darunter tickte. Fast wäre ich dabei wieder eingeschlafen, doch da erschien Mutter, legte ein sauberes Hemd und saubere Hosen auf einen Stuhl, sagte, ich solle mich anziehen und dann sofort hinunterkommen. Als ich die Küche betrat, hatte sie meine hohen Schuhe geputzt, erklärte, wir würden jetzt gleich gehen; ich beeilte mich, die Schuhe anzuziehen und die Bändel festzuknüpfen, schweigend, während sie noch etwas in den Rucksack steckte. Man wusste, wo die Gesellschaft hingegangen war – es handelte sich um eine Berg­terrasse mit einem kleinen See –, eine knappe Stunde vom Dorf ent­fernt.

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