Kitabı oku: «Das Raunen des Flusses», sayfa 4

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Ich stelle mir vor, wie sie in dem bescheidenen Bauernhaus mit­einander leben. Im Stall haben sie ihre paar Tiere, man hört die Schafe blöken, die Ziegen meckern, das Pferd schnauben. Es riecht nach Heu, nach Stroh und gärendem Mist. Das Kind gedeiht. Man muss es vor dem Wind schützen, der durch den Flur in die Küche hereindringt. Hie und da, wenn die Sonne höher steigt und über den Berg herab scheint, sitzen sie mit dem Kleinen auf der Laube. Ich stelle mir vor, wie Tumasch, noch ein junger Mann, hinter seinem Gaul und seinem Karren aufs Feld geht. Manchmal ist man dort ganz allein, weit und breit kein Mensch, nur unebenes Wiesengelände, ein Flurweg, ein Stoppelfeld voller Raben. Dann kommt ihm vielleicht der Laden von La Spezia in den Sinn, die Warenfülle, die vollen Kas­ten und Gestelle, Duft von Schokolade und Kaffee, Duft von Wohlstand und Zivilisation – während er hier eine Wiese mistet oder mit einer Holzfuhre nach Hause kommt. Je nachdem beschleicht ihn das Fernweh, vielleicht auch die Reue, nicht geblieben zu sein. Er denkt an andere, die es ausgehalten haben; die sind nicht nur reich geworden, sie haben mit der Zeit auch ein städtisch mediterranes Wesen an­genommen, eine gewisse Eleganz, auch sanftere Augen, eine weichere Gesichtshaut, während man hier rau ist wie der Wind, der aus dem Ge­birge weht. Vielleicht hat er die Chance seines Lebens verpasst. Nachts träumt er, er sei wieder dort unten, er sieht die Gegend in einem magischen Glanz, das Meer, Leute, die am Strand dahinwandeln, Damen mit blumigen Hüten und Sonnenschirmen, Herren mit Spazierstock und Zigarre, beflaggte Schiffe, die am Ho­rizont verschwinden ...

Da oben ist man von Halden und Wäldern eingeschlossen, Wiesen und Äcker wechseln mit Geröllhalden, das Tal ist eng, unten rauscht der Fluss. Wenn man sonst nichts hört, wird dieses Rauschen zum monotonen Gesang. Im Winter hört man auch den Fluss nicht mehr, er bewegt sich nur stumm zwischen Schnee und kahlen Erlen. Man lebt im launischen Wechsel der Jahreszeiten; im Sommer brennt die Sonne auf trockene Berghänge, man schwitzt für ein paar Heubündel, für ein bisschen Roggen und Gerste; der Sommer ist eine Plackerei, man kämpft mit einer geizigen Erde, mit der Hitze und mit den Fliegen. Der Winter hingegen eine Blockade, von Eisenbahn noch keine Spur, die Bergpässe sind oft geschlossen, überall Schnee und einsame Dörfer.

Aber der Winter kann auch schön sein, zum Beispiel in Mondnächten. Das Dorf liegt am Fuss einer Schneewoge, der Tannenwald hat einen bläulichen Glanz. Manchmal sieht man Hirsche oder Rehe, ihre Silhouetten auf dem flimmernden Weiss.

*

Ich weiss nicht, weshalb der Laden von La Spezia und das Bono­randsche Kaffeehaus in Leipzig liquidiert wurden. Ich weiss nur, dass alle Teilhaber eine gewisse Summe ausbezahlt bekamen. Die Gross­eltern insgesamt vierzigtausend Franken. Damals, um 1910, war das ein Kapital. Was tun damit? Grossmutter überliess die Entscheidung ihrem Mann, und der verstand von Geld so viel wie nichts. Mit diesem plötzlichen Wohlstand hätte er ein zweites Haus erwerben können, dazu einige Wiesen, eine Waldparzelle. Er hätte das eigene Haus renovieren und ausbauen können, so wie es andere taten, die mit vollen Taschen aus der Fremde heimkehrten. So etwas kam ihm offenbar nicht in den Sinn. Ein reicher Nachbar, von Beruf Kaufmann, gab ihm den Rat, das Geld zu investieren, zum Beispiel in das Kurhaus Tarasp. Grossvater investierte, und zwar, der Einfachheit halber, alles gleich dort. Vermutlich war er froh, auf diese Weise die Sorge um das verfluchte Geld los zu sein und wieder in Ruhe schlafen zu können. Mit den Dividenden würde man schon fertig werden. – Doch zwei oder drei Jahre später machte das Kurhaus Tarasp Konkurs, er verlor alles auf einen Schlag, das Erbe war dahin. Weiss Gott, wie er darauf reagierte, ob er aus den Wolken fiel, ob er in Verzweiflung geriet, sein Kapital nicht schlauer angelegt zu haben, ob es vielleicht einen Familienkrach gab. Doch Streitereien passten nicht zu ihm. Er konnte grollen oder schimpfen, aber nicht streiten. Auch seine Frau nicht. Ver­mutlich waren sie beide betroffen, es gibt das Schwindelgefühl der schlimmen Überraschungen. Doch dann vergehen die Tage, das Ungemach versickert allmählich im Schoss der Vergangenheit, bis man es allmählich vergisst.

Ihrem ersten Kind waren noch vier andere gefolgt, drei Töchter und ein zweiter Sohn, Hermann, der aber schon als fünfjähriges Knäb­lein an einer Grippe starb. Damals war der Tod ein bekannter Gast, er kam unangemeldet, trat geräuschlos ins Haus und nahm jemanden mit, mit Vorliebe die Kleinen.

Die Eröffnung der Eisenbahn, 1913, ein Weltereignis, brachte der Gegend einen bescheidenen Toursimus. Das Dorf wurde nicht zum Kurort, doch ab und zu erschienen Alpinisten, um den Piz Linard zu besteigen, den höchsten Berg in der Region, eine imposante, ihre Nachbarn stolz überragende Pyramide. Tumasch be­schloss, Bergführer zu werden, um sich ein paar zusätzliche Batzen zu verdienen. Ich weiss nicht, wo er seinen Bergführerkurs absolvierte. Es ist niemand mehr da, den ich fragen könnte, die Leute sterben dahin, ihre Gräber versinken, ihre Namen verwittern, sie selber geistern noch als Schatten durch unsere Erinnerung. Ich berichte nur, was man mir in der Jugend von ihm er­zählte oder was ich noch selber mit ihm erlebte. Jedenfalls war er ein guter Berggänger, zudem mochte er den Kon­takt mit fremden Menschen. Er nahm es auch in Kauf, dass er gelegentlich die Feldarbeit liegen lassen musste, um sich seinen Kunden zu widmen.

Er stieg mit ihnen bis zur Klubhütte von Glims hinauf, am folgenden Tag nahm man den Gipfel in Angriff. Englisch und Französisch konnte er nicht, mit seinen Klienten sprach er deshalb immer hochdeutsch. Er beherrschte es ordentlich, hatte es in der Schule gelernt, er sprach es auch sehr gern – Hochdeutsch, das bedeutete damals noch Bildung. Wenn er mit den Leuten die Höhe des Berges erreich­te und ihnen erklären wollte, das Schwerste sei nun überwunden, sagte er offenbar immer: «Herrschaften, jetzt sind wir drüber!» Er hatte eine kräftige Bassstimme, er sagte es auch mit einer gewissen Würde. Lange Jahre später, da er als alter Mann nicht mehr klar im Kopf war und nachts schwafelte, kam es von Zeit zu Zeit wieder: «Herrschaften, jetzt sind wir drüber!»

Seine Kunden waren reiche Leute, die etwa in St. Moritz oder Davos ihre Ferien verbrachten. Einmal zum Beispiel ein deutscher Fürst aus Württemberg, mit Frau und Söhnen; von dem bekam er nebst Honorar, als zusätzliche Aner­kennung, ein komplettes Silberbesteck, das später nie gebraucht, doch oft den Gästen oder Verwand­ten gezeigt wurde. Einmal ein Mister Scott, ein liebenswürdiger Eng­länder, ganz in Manchester gekleidet, der aber nur englisch sprach. Grossvater unterhielt sich auch mit ihm auf Deutsch. Er hätte ebenso gut romanisch reden können, vieles tönt ja ganz ähnlich; zum Beispiel englisch «mountain» und romanisch «muntogna», «atten­tion please» und «attenziun per plaschair»; sehr steil heisst «very steep» und «vaira stip», «difficult» gäbe «diffi­cil», «a flower» – «üna fluor», «quiet silence» – «quaid silenzi» und so weiter. Doch es blieb auch hier beim Deutschen. Wenn der Bergführer etwas auf Deutsch sagte, antwortete Mr. Scott irgendetwas auf Englisch. Grossvater wies auf einen am Ho­rizont aufsteigenden Berggipfel und nannte dessen Namen, worauf der Brite prompt seine Karte entfaltete und nachschaute, ob es stimmte. Irgendwo hörte man Pfiffe, Grossvater hielt ihm den Feldstecher vor die Nase und erklärte: «Murmeltiere! Das sind Murmeltiere.» Auch hier wäre das romanische «marmotta» dem englischen «marmot» näher gewesen. Sie erreichten den obersten Berg­kamm, Grossvater sagte: «So, mein Herr, jetzt sind wir drüber!», und Mr. Scott antwortete gutgelaunt: «Oh, yes.»

Auf dem Gipfel machten sie eine längere Rast. Da der Engländer nur Zwieback und zwei Äpfel bei sich hatte, gab ihm Grossvater ein Stück Käse, Bündner Alpkäse, von den eigenen Kühen. Sein Gast dankte höflich, schien den cheese of Switzerland zu schätzen, reichte dann dem Bündner seine Whiskyflasche. Grossvater dank­te ebenfalls, nahm aber nur einen winzigen Schluck. So etwas hatte er noch nie getrunken; er fand es grässlich. Zudem war es so, dass er Alkohol praktisch nicht vertrug, nicht einmal Wein. Alkohol stieg ihm gleich in den Kopf, und nachher bekam er regelmässig Lachkrämpfe. Nach dem Essen rauchten sie beide die Pfeife. Der süssliche Tabak des Engländers schmeckte ihm nicht; als Mr. Scott hinter einem Stein verschwinden musste, klopfte er das Zeug heraus und stopfte die Pfeife mit seinem ­bewährten Burrus.

Mr. Scott hatte einen Fotoapparat dabei, mit Selbstauslöser. Er suchte einen geeigneten Stein, um ihn draufzustellen, blickte zur Sonne hinauf, bat den Bergführer, sich etwas nach links zu verschieben, dann stellte er ein, kam rasch her­über und setzte sich zu ihm. Dies alles erinnerte Grossvater an einen Alpinisten, Alleingänger, der vor Jahren dank eines Selbstauslösers tödlich verunglückt war, und zwar genau an dieser Stelle. Er war zu weit nach rückwärts gegangen und dann in die Tiefe gestürzt. Man hatte ihn hundert Meter weiter unten gefunden, den Apparat oben auf dem Gipfel, vermutlich dort, wo er ihn hingestellt hatte. Auf dem Foto sah man gerade noch seine Beine und einen hochgestreckten Arm. – Abends waren sie wieder im Dorf. Er war mit dem Mann zufrieden, er sagte, das sei einer seiner angenehmsten Kunden gewesen, sie hätten sich ausgezeichnet unterhalten.

Sein prominentester Kunde ist zweifellos der belgische König gewesen, Albert I, bekannt als passionierter Bergsteiger. Vor der Ankunft des Zuges, mit dem er in Lavin ankommen sollte, hatten sich am Bahnhof einige Leute eingefunden, um ihn zu sehen, weil sie noch nie einen König gesehen hatten. Er kam in einem eigenen Bahnwagen, erste Klasse. Nur kam er nicht allein, mit ihm stiegen noch zwei oder drei Männer aus, alle alpinistisch gekleidet, so dass man nicht wusste, welcher von ihnen der König sei. Wahrscheinlich wusste es auch Tumasch nicht, er hatte ihn ja noch nie gesehen. Ich stelle mir vor, wie er dasteht und wartet, mit Pickel, Bergseil und etwas Herzklopfen, bis die Männer auf ihn zukommen und ihn dem König vorstellen. Von dieser Führung weiss ich sonst nichts anderes, als dass Grossmutter Chatrina in der Nacht, die ihr Mann mit dem Monarch oben in der SAC-Hütte verbrachte, vor lauter Lampenfieber nicht schlafen konnte. Sie stellte sich vor, der König trage auch dort oben seinen Purpurmantel und seine Krone. Als sie endlich einschlummerte, sah sie im Traum die Py­ramide des Berges in einem sanften Regen von Goldmünzen, und irgendwo zwei kleine Figuren, die sich langsam nach oben bewegten.

Ein König ist ein König, das wusste auch Grossvater Tumasch. Nachträglich soll er erzählt haben, dass er in jener Nacht kaum geschlafen habe, aus Angst, es könnte etwas passieren – Schwächeanfall, Blitz, Steinschlag oder so etwas, irgendein blöder Unfall –; dann war man bedient: Bergführer als Verantwortlicher des Un­glücks, Schlagzeilen, sein Bild neben demjenigen des Königs in den Zeitungen ... Es passierte nichts. Erst Jahre später sollte Al­bert I tödlich verunglücken, und zwar auf einem ziemlich harmlosen Hügel in den Ardennen.

Indessen seine allerschwierigste Tour, gleichsam die Tour seines Le­bens, die verdankte er einer deutschen Frau. Nicht dass sie ihm zwischenmenschliche Schwierigkeiten bereitet hätte, etwa in der Klubhütte, wo sie allein übernachteten – jedenfalls habe ich nie etwas davon gehört –, sondern weil die Frau von der Bergsteigerei keine Ahnung hatte und offenbar meinte, in Begleitung eines guten Führers sei das überhaupt kein Problem. Sie hatte ein gewinnendes Wesen, hatte ihm schon zu Anfang gesagt: «Nennen Sie mich einfach Ingrid.» Sie war gross und schön, jedoch für eine Alpinistin etwas zu üppig. In Familiengesprächen nannte man sie später immer wieder «die Frau von hundert Kilo» – vermutlich eine scherzhafte Übertreibung, womit man den ­Familienvater neckte, weil er erzählt hatte, er habe beim ­Ab­­stieg die völlig entkräftete Dame buchstäblich tragen müssen.

Aufwärts war es problemlos gegangen, aufwärts ging es immer. Man brauchte sich nicht zu beeilen, man setzte einen Fuss vor den an­dern, an schwierigen Stellen kroch man auf allen Vieren. Tumasch ging voraus, sicherte das Seil, zog langsam nach. Wenn die Frau müde war, machten sie eine Pause. Er war ein gütiger Mensch, hatte vor allem als Bergführer eine Engelsgeduld. Es herrschte schönes Wetter, ringsum strahlende Berge, das Tal schon weit unten, irgendwo schimmerte der Fluss. Ingrid war begeistert. «Diese Luft!», sagte sie, «diese Luft!»

Doch der Abstieg wurde schwieriger als gedacht. So etwas hatte er noch nie erlebt, obwohl er die typischen Abstiegsschwierigkeiten kannte: Abgründe, die man beim Aufstieg kaum beachtet, weil man den Kopf oben hat und meistens in die Höhe schaut, sehen plötzlich anders aus, sie erscheinen unter den Füssen, man blickt hinunter, sieht nichts als gähnende Leere, die Tiefen geistern herauf, man bekommt es mit dem Schwindel zu tun, es flimmert einem vor den Augen. Von Zeit zu Zeit machten sie eine Pause. Irgendwo unter ihnen kreis­ten schwarze Vögel. Die Frau setzte sich, hielt sich die Stirn. «Mir dreht sich alles im Kreis», sagte sie. Er beruhigte sie: «Nur ganz ge­mütlich; solange wir angeseilt sind, kann uns nichts passieren.» Ein Stück weit ging es wieder, bis zu einem steilen Couloir. Er blieb oben und hielt das Seil, sprach ihr Mut zu, gab ihr Anweisungen, wo sie die Füsse hinsetzen, wo sie sich festhalten solle. Er sah ihre braunen Lo­cken, ihren Busen und ihre verzweifelte Miene. Sie hatte einfach Angst, und die konnte er ihr nicht wegzaubern. Hie und da stiess sie einen spitzen Schrei aus.

Zuerst hatte er seine gewohnte Ruhe bewahrt, doch allmählich ging ihm die Geduld aus. Schliesslich war auch er nur ein Mensch. Fluchen durfte man nicht, das ging gegen die Berufsethik, doch seine Stimme wurde spürbar energischer. Mit dem Wetter stand es leider nicht zum Besten, von Westen nahte dunkles Gewölk, es war schon Nachmittag, die Stunden eilten dahin. Als die Frau einmal erklärte, einen solchen Berg habe sie noch nie erlebt, antwortete er ziem­lich schroff: «Das ist ein Berg wie ein anderer, wenn man hinaufsteigt, muss man nachher wieder herunterkommen.»

«Das ist merkwürdig», sagte sie, «von fern sehen viele Berggipfel wie vereinfachte Skulpturen aus, und wenn man dort ist, wird alles zum Labyrinth.» Statt darauf zu antworten, fragte er sie, ob sie ein bisschen Schnaps möchte. Schnaps nahm er immer mit, für alle Fälle. Er reichte ihr das Fläschchen, sie nahm einen Schluck und grimas­sierte. Er selber trank nicht, um nachher nicht lachen zu müssen.

«Wir sollten gehen, gute Frau, sonst holt uns das Gewitter.»

Gewitter im Hochgebirge, das kannte er, und das war dann überhaupt nicht zum Lachen. Das sagte er ihr, doch an einer bestimmten Stelle erklärte sie, hier gehe sie auf keinen Fall hinunter: «Machen Sie mit mir, was Sie wollen, Sie können meinetwegen allein weitergehen und mich hier lassen ... ich sterbe lieber hier oben.»

Sie hatte sich wieder gesetzt. Als gütliches Zureden nichts half und die Frau sich sogar weigerte, aufzustehen, verlor Tumasch die Nerven. Er schrie sie an, wobei ich mich frage, was ihm für hochdeutsche Ausdrücke einfielen, vielleicht fluchte er auch romanisch ... Er erlebte jene merkwürdige Umkehrung der Gefühle, nämlich dass ihm diese Person zuerst so gut gefallen hatte, und dass er sie jetzt hätte verprügeln können. Die Zeit verrann, der Berg war noch tief, der Himmel bedenklich, es grollte immer näher. Als er sie anfass­te, um sie wenigstens einmal auf die Füsse zu stellen, und sie ihm dabei Widerstand leistete, versetzte er ihr plötzlich eine Ohrfeige. Das kam wie von selbst. Sie starrte ihn an. Unwillkürlich strich er mit der Hand durch ihre Locken, wor­auf sie sein Gelenk fasste und sich daran festklammerte, dass er ihre Fingernägel spürte. Sie schaute ihm verloren ins Gesicht, mit Tränen in den Augen. Endlich richtete sie sich auf, sie versuchten es wieder, Meter um Meter. Irgendwo blieb sie plötzlich stehen, reichte ihm ihr seidenes Halstuch und bat ihn, es ihr um die Augen zu binden. «Wieso – was soll das?» Da er zögerte, ihren Wunsch zu erfüllen, band sie sich selber das Tuch um den Kopf. «So», sagte sie, «jetzt sehe ich nichts mehr – jetzt sind Sie ganz allein für mich verantwortlich.» Vielleicht fragte er sich, ob er sich so etwas gefallen lassen müsse, doch zum Streiten war nicht mehr Zeit. Er führte sie über einen Steilhang hinweg, irgendwo fass­te er sie mit dem Arm um die Hüften, glitt mit ihr eine lange Schnee­zunge hinunter. Sie hielt sich an ihm fest, sie schrie wieder, aber jetzt beinahe fröhlich. Zuunterst, am Rande einer Geröllhalde, blieben sie stehen. Ingrid nahm sich das Tuch weg, rieb sich die Augen. Sie war völlig erschöpft von diesem Zauberberg, sie lachte, aber die Beine tru­gen sie nicht mehr. Erschöpft war auch er, doch da es eilte, entschloss er sich, sie ein Stück weit zu tragen, wenigstens über diese Ge­­­röllhalde hinweg. Vermutlich trug er sie huckepack, vorsichtig von einem Stein zum andern balancierend, während sie sich an seinen Schultern festhielt, mit den Beinen an seinen Hüften.

Gerade als sie die SAC-Hütte erreichten, begann es zu blitzen, dann entfesselte sich ein filmisches Gewitter. Es war niemand da, Ing­rid legte sich auf eine Pritsche, wickelte sich in eine Wolldecke. Tumasch machte Feuer an und bereitete eine Suppe. Nachher setzte er sich mit einem vollen Teller an den Tisch, war aber kaum mehr imstande, den Löffel zu halten. Er zog das Schnapsfläschchen aus dem Ruck­sack, zögerte, nahm einen Schluck, steckte es wieder zurück, nahm es aber bald wieder hervor und trank nochmals, während der Regen ans Fenster prasselte. In der Hütte war es fast dunkel, draussen blitzte es, bläuliche Wurzeln jagten am Himmel dahin, dann donnerte es ganz nahe. Der Schnaps wirkte wie ein sanftes Feuer. Er begann, vor sich hin zu summen.

Die Frau war eingeschlafen. Als sie später erwachte, hörte sie ein unterdrücktes Prusten. Sie meinte, es wäre noch jemand gekommen. Doch er sass allein am Tisch, fast lautlos vor sich hin lachend. – Abends spät erreichten sie das Dorf. Die Frau übernachtete im Hotel, das übrigens gleich hiess wie der Berg, auf dem sie gewesen waren. Am nächsten Morgen erschien sie bei ihm zu Hause, um sich zu verabschieden. Sie war jetzt ganz heiter, hatte wieder ihre Rosawangen. Die Familie sass beim Frühstück, man offerierte ihr eine Tasse Kaffee; dabei erzählte sie den Leuten, was ihr Vater für ein grossartiger Bergführer sei. Als sie gehen musste, begleitete er sie hinaus. Draussen im Flur bat er sie um Verzeihung für die Ohrfeige von ges­tern, so etwas sei ihm noch nie passiert. Sie sagte lachend, die habe sie weiss Gott verdient, zahlte ihm dann hundert Franken Honorar. Er zögerte, eine solche Summe anzunehmen, worauf sie ihm den Geldschein in die Hand drückte, ihn flüchtig umarmte und rasch davon­ging. Als er zum Frühstückstisch zurückkehrte, wirkte er leicht verlegen.

Ich frage mich übrigens, ob man später diese hundert Franken mit dem angeblichen Körpergewicht der Frau verwechselte. Doch jedenfalls vergass er sie nie mehr, weder ihre Begeisterung noch ihre Tränen, vor allem auch nicht ihr Gewicht, während er sie über die Geröllhalde trug. Ich kann mir vorstellen, dass sie ihm noch deutlicher in Erinnerung blieb als der belgische König.

*

Jäger war er früh geworden, hatte schon als Knabe seinen Vater auf die Jagd begleitet. Gisep Wieser, mein Urgrossvater, in der ersten Hälf­te des 19. Jahrhunderts geboren, als es im Tal noch Bären gab, war weit herum als Bärenjäger bekannt. Wurde irgendwo ein Bär gesichtet, so ging man ihn holen. Einmal sogar aus der Kirche, wäh­rend des Gottesdienstes. Ein Bauer aus Susch, ein gewisser Cazin, kam ge­räusch­los zur Türe herein, blickte sich um, fand ihn irgendwo, flüs­terte ihm etwas ins Ohr, worauf beide die Kirche verliessen. Natürlich war der Gottesdienst gestört, die Leute tuschelten miteinander; der Pfarrer, masslos verärgert, wollte mit seiner Predigt weiterfahren und man hörte ihm nicht mehr zu.

Gisep eilte mit Cazin nach Hause, um das Gewehr zu holen. Er zog sich nicht einmal um – er steckte bereits im Jagdfieber, obwohl er gerade aus der Kirche kam. Er lud die Waffe mit Pulver und Blei, dann zogen sie davon. Natürlich war der Bär nicht mehr dort, wo ihn Cazin gesehen hatte, doch vielleicht lungerte er umher und würde zurückkommen. Sie kletterten auf einen freistehenden, von Gras und Moos bewachsenen Felsen, mussten dort ziemlich lange warten. Nach einiger Zeit tauchte er tatsächlich auf. Sie sahen ihn am Waldrand daherschnüffeln. Er bemerkte die zwei Männer, blieb stehen, setzte sich auf den Hinterteil und schaute herunter. Gisep lag schon auf dem Bauch und zielte. Er drückte auf den Abzug, doch statt zu knallen, machte es nur «klick» – der Schuss war nicht losgegangen: sie sassen hier auf taufeuchtem Moos, wobei der Feuerstein oder die Zündkapsel nass geworden sein musste. Es hiess, so schnell wie mög­lich handeln, das Zeug herausnehmen und nochmals laden (was beim Vorderlader im­merhin eine Weile dauerte). Der Braune, statt sich wieder zu entfernen, kam langsam näher, vielleicht neugierig geworden, was diese zwei Menschen da trieben. Am Fuss des Felsens blieb er stehen, setzte sich wieder und schaute mit seinen kleinen Augen herauf. Von oben gesehen schien er riesig. Gisep manipulierte mit Pulver und Ladestock, während Cazin vor Angst zitterte. Es brauchte nur einen leichten Sprung, und dann war er da – klettern konnten sie ohnehin wie der Teufel, das wusste man. Vorläufig kam er nicht, ging stattdessen schnüffelnd um den Felsen herum, verschwand und tauchte wieder auf, richtete sich empor, die Vordertatzen anlehnend.

«Gisep», sagte Cazin, «falls ich sterben sollte ...»

«Du stirbst nicht, Idiot ... Hier, nimm mein Sackmesser, und wenn er kommt, stichst du ihm in die Augen.» Cazin konnte vor Auf­regung nicht einmal das Messer öffnen, klammerte sich stattdessen an Gisep fest, dass ihn dieser mit dem Ellbogen wegstossen musste. Endlich war es so weit, er nahm die Waffe in Anschlag, zielte und drück­te ab. Diesmal knallte es, einen Augenblick befanden sie sich in blauem Rauch, dann sahen sie unten das getroffene Tier, auf den Rücken zurückgeworfen, noch ein bisschen die Beine bewegend.

Ein Bauer brachte es mit Ross und Wagen ins Dorf. Der Bär war mit Blumen und Tannenreisig geschmückt, Leute kamen von überall herbei, man hob die Kinder empor, damit sie ihn mit der Hand be­rühren konnten. Cazin hatte einen Schock erlitten. Ob es stimmt, dass sein Haar innert kürzester Zeit grau geworden sei, bleibe dahingestellt.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren die Bären praktisch ausgerottet. Wölfe und Luchse hatten schon vorher dran glauben müssen, jetzt waren sie dran. Weiss Gott, welch seltsame Lust die Menschen antrieb, sie zu vertilgen. Taten sie es ihrer Kühe und Schafe wegen, die ihnen oft tatsächlich zum Opfer fielen? Oder war es nur ein dunkler Drang, eine Art Verfolgungslust, so wie oft Völker mit der gleichen Lust Angehörige eines andern Stammes liquidieren?

Während Jahren schienen sie ausgerottet, bis unerwartet ein Nach­fahre ihrer Sippe auftauchte, gemütlich durch die Gegend streif­te und friedliche Schafweiden heimsuchte. Man wusste nicht, woher er gekommen war, vielleicht vom Balkan herauf. Doch ein Heimat­recht wurde auch ihm verweigert. Die zwei Jäger, die ihn zur Strecke brachten, wurden als Helden gefeiert, man führte ihn auf geschmücktem Wagen durchs Dorf, die Bevölkerung jubelte.

Meinem Grossvater Tumasch blieben noch Rehe und Gemsen. Hirsche gab es damals in der Gegend noch nicht, die kamen erst später vom Nationalpark herüber. An die gesetzlich festgelegte Jagdzeit hielt er sich nur bedingt, im Prinzip jagte er das ganze Jahr. Die verbotene Jagd reizte auch ihn noch mehr als die er­laubte. Wenn er zum Beispiel Holz rüsten ging, nahm er das Ge­wehr mit, versteckte es in einem Sack oder unter der Pelerine. Einmal – eine Verrücktheit, obwohl er sonst überhaupt nicht verrückt war – erlegte er ein Tier in Gegenwart eines Jagdwächters, der zufällig herbeikam. Während sie miteinander plauderten, tauchten am Berghang Gemsen auf, Tumasch konnte nicht widerstehen, holte schnell sein Gewehr, zielte und traf. Es kam zu einem heftigen Streit, der Wächter war ausser sich, versicherte ihm, er werde ihn noch heute anzeigen, worauf Tumasch antwortete, er solle es ruhig tun, nur werde er dann auch hängen; ein Jagdwächter, in dessen Gegenwart man ungehindert wildern könne, sei ohnehin erledigt.

Während Tagen war ihm mulmig zumute. Er wartete, doch es pas­sierte nichts.

Wer ein Jahr später auf ihn schoss, ohne ihn zu treffen, haben seine Angehörigen nie erfahren. Er allein wusste es, er hatte den Mann sogar gestellt, hatte ihn aber nicht angezeigt. Er sprach einzig mit seiner Frau darüber, ohne ihr jedoch zu verraten, um wen es sich handelte.

Es passierte während der Jagdzeit, an einem regnerischen Septembertag, in der Nähe eines felsigen Wechsels, wo er jeweils Salz streute. Es war grau und neblig, die Felsen schimmerten nass. Einmal gingen Steine nieder. Er schaute mit dem Feldstecher, sah aber weder Tiere noch Menschen, nichts als graue Schwaden, Legföhren und Geröll. Eine Weile später, als er sich aufrichtete, geschah etwas Merkwürdiges: irgendwo fiel ein Schuss, er hörte eine Kugel nahe an seinem Kopf vorbeipfeifen (genau genommen zuerst das Pfeifen und dann den Knall), spürte dabei, wie sein Hut einen leichten Stoss erhalten hatte. Er duckte sich, nahm den Hut ab, sah, dass er durchlöchert war. Vielleicht hatte er leichtes Ohren­sausen, je nachdem etwas Herzklopfen. Er glaubte, Schritte zu vernehmen, entsicherte das Gewehr, kroch um einen Felsen herum, kletterte eine Runse hinauf. Als er sich wieder aufrichtete, fiel ein zweiter Schuss, diesmal ganz matt, ohne Widerhall. Doch dann sah er einen Mann auf dem nebligen Pfad dahineilen, knapp hundert Meter von ihm entfernt. Er erkannte ihn nicht, auch nicht mit dem Feldstecher. Er eilte ihm nach, einmal stolperte er, während der andere immer schneller zu gehen schien, im Nebel verschwand, dann plötzlich wieder sichtbar wurde. Von Angst, dass es nochmals knallen könnte, war nicht die Rede, Haupt­sache, dass er den Kerl erwischte. Er keuchte, er schwitzte trotz Regen. Dabei spürte er jetzt am linken Arm ein eigenartiges Kribbeln ...

Wie er in einen Lawinenzug einbog, sah er den Mann ­unerwartet vor sich, kaum zehn Meter entfernt, so dass er erschrocken stehen blieb. Jetzt erkannte er ihn auch. Der andere bemerkte ihn nicht, er lag flach auf dem Bauch und trank Wasser, Gewehr und Mütze hinter ihm am Boden. Doch plötzlich hob er den Kopf und schaute zurück, sah, dass jemand auf ihn zielte, wobei er zusammenfuhr und einen merkwürdigen Laut von sich gab ...

Ich versuche, mir die Situation vorzustellen: eine Schneise in grauem Mergel, Geräusch eines kleinen Baches, der Mann da am Bo­den, sein Gesicht, während der andere die Waffe schussbereit hält – zwei Männer vom gleichen Dorf, vielleicht Nachbarn. Ich kann mir denken, dass es Tumasch selber schwindelt, weil er nicht weiss, was er jetzt tun wird, abdrücken oder nicht –, vielleicht verliert er die Selbstkontrolle und es kommt alles, wie es der Augenblick will oder die Einsamkeit des Ortes. Ich stelle mir vor, wie er, als der Feind aufstehen möchte, ihm befiehlt: «Bleib dort und rühr dich nicht.» Er kommt langsam näher, stösst das Gewehr am Boden mit einem Tritt beiseite, nimmt seinen Hut ab, zeigt ihm das Loch: «Du hast ein biss­chen zu hoch gezielt – wahrscheinlich wegen des Nebels. Nebel verändert die Perspektive ... Abgesehen davon könnte ich dich jetzt niederknallen wie einen Hund; wir wären hier ganz allein, vielleicht würde man nicht einmal den Schuss hören. Leider hast du Familie. Aber ich werde einen versiegelten Brief hinterlassen; falls mir etwas passiert, wird man wissen, wer es gewesen ist. Und jetzt hau ab, und zwar schnell!» Er hält noch immer seine Waffe halb im Anschlag, der andere richtet sich zaghaft auf, bückt sich nach seiner Mütze, stolpert, entfernt sich, blickt flüchtig nochmals zurück und verschwindet. Sein Gewehr liegt noch da.

Erst jetzt zieht Tumasch seinen Tschopen aus, bemerkt den Riss am Ärmel, sieht, dass sein linker Unterarm blutet. Er krempelt den Hemdärmel hoch und schaut. Streifschuss, etwa fünfzehn Zentimeter lang, nicht sehr tief, ein roter Striemen. Merkwürdig, dass er zuerst nichts gespürt hatte. Schmerz empfindet er auch jetzt nicht, höchstens ein Brennen. Er setzt sich, nimmt das Ta­schentuch heraus und versucht, sich die Wunde zu verbinden. Man müsste einen Knoten machen, was ihm einhändig nicht gelingt. So wickelt er das Tuch notdürftig um den Arm, zieht wieder die Jacke an, nimmt den Rucksack, die beiden Gewehre. Dasjenige des andern entlädt er, steckt die Patrone in die Seitentasche. Jetzt hat auch er Durst, er kauert nieder und trinkt, an der gleichen Stelle wie vorhin sein Gegner.

Dann macht er sich auf den Heimweg, ohne Jagdbeute, steigt vor­sichtig auf dem schon dämmerigen Pfad talwärts. Hie und da bleibt er stehen und horcht. Um ihn herum noch immer Nebel, es tropft im Gebüsch.

Als er das Dorf erreicht, ist es schon Nacht. Irgendwo tritt er leise in einen Hausflur und lehnt das Gewehr, das nicht ihm gehört, an die Wand. Er hatte gehofft, unbemerkt verschwinden zu können, sieht dann eine Frau aus dem Dunkeln auf ihn zukommen. Er kennt sie, er kennt ihre Gestalt, ihre Stimme. Sie flüstert: «Was bringst du?» – «Nur das Gewehr deines Mannes – er hat es irgendwo vergessen.»

Abends trinkt er gegen seine Gewohnheit ein Glas Wein, ohne nach­her lachen zu müssen. Später, im Schlafzimmer, überrascht ihn seine Frau dabei, wie er sich mit einem Gazestreifen den linken Arm verbindet. Er erzählt ihr, er sei ausgerutscht – einfach ausgerutscht und dann auf eine spitze Felskante gefallen. Sie will seinen Arm sehen, nimmt den Verband weg, reinigt die Wunde mit einem Desinfektionsmittel.

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