Kitabı oku: «Gesang der Lerchen», sayfa 11

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Sophies Mutter war durch ihren Kollegen und Genossen, den Staatssekretär für das Hoch- und Fachschulwesen, über die Sittenlosigkeit im Heim und über die Vergiftung durch westliche Nachrichten informiert worden. Sie bestellte Philipp zu sich in das Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen.

»Was ist denn bei euch im Heim los? Da höre ich ja entsetzliche Sachen.«

Philipp erzählte die Geschichte von Werner und den geschwängerten Frauen. Edda war empört.

»Was haben sich diese Leute eigentlich dabei gedacht!? Das hat mit sozialistischer Liebe und Moral gar nichts zu tun. Das ist bürgerliche Dekadenz. Aber es soll auch ein Devisenvergehen vorgekommen sein, habe ich gehört.«

Philipp tat ahnungslos. Edda fragte weiter.

»Was ist das übrigens für ein Mensch, mit dem du da zusammenwohnst?«

Vorsicht!, dachte Philipp, darum hat sie dich also kommen lassen. Diese Frau weiß mehr, als sie sagt.

»Er ist aus Potsdam, hat früher mit seinen Eltern in Polen gelebt. Sein Vater war polnischer Offizier; er ist von den Nazis in Katyn erschossen worden.«

»Hat er dir das so gesagt, von den Nazis?«

Philipp tat wieder ahnungslos.

»Ja, sicher!«

»Und wieso lebt er in der DDR?«

»Er ist unter der Besatzung der Nazis Deutscher geworden; seine Mutter ist Deutsche. Die Polen haben sie nach 45 aus Krakau vertrieben − äh, sie wurde umgesiedelt.«

Philipp konnte sich Eddas Interesse für Christian nicht erklären, vermutete aber, dass Sophie ihrer Mutter etwas erzählt hatte. Aber was? Was wusste Sophie, und was wusste ihre Mutter über das Leben im Heim?

Kurze Zeit später bekamen alle Heimbewohner die schriftliche Mitteilung vom Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen, dass das Heim zum Ende des Semesters geschlossen werde. Den Heimbewohnern der ABF wurde zugesagt, dass sie bis eine Woche nach dem Abitur wohnen bleiben könnten. Christian und Philipp bekamen vom Büro der Fakultät Zimmer im Bezirk Prenzlauer Berg und außerhalb in Biesdorf angeboten. Beides sagte ihnen nicht zu. Da erinnerte Christian sich an das ehemalige Hausmädchen seiner Großeltern. Trude wohnte im Bezirk Friedrichshain und war inzwischen eine Frau mit weißen Haaren. Sie hat nie geheiratet und war nach dem Ende des Krieges, als Maria aus Polen vertrieben und mit ihrem Sohn in ihr Elternhaus zurückgekehrt war, von dieser entlassen worden. Allein und mittellos, wurde Trude von ihrer verheirateten Schwester aufgenommen. Zuerst starb ihr Schwager und bald danach ihre Schwester. Seitdem wohnte Trude allein in der großen Wohnung.

Erfreut über den Besuch von Marias Sohn war Trude sofort bereit, den beiden jungen Männern ihr größtes Zimmer zu überlassen, mit Plüschsofa und Biedermeier-Möbeln. Für zwei Betten wäre auch noch Platz. Ja, sie bot sich sogar an, ihnen auch mal etwas zu kochen, wenn sie es denn wünschten.

Isa und Lena dagegen wollten nicht wieder zusammen wohnen. Sie bekamen ebenfalls von der Musikhochschule Zimmer im Bezirk Prenzlauer Berg und außerhalb angeboten. Lena nahm ein Zimmer in Mahlsdorf, Isa bemühte sich um eine Bleibe in Friedrichshain, fand aber nichts und entschied sich für Prenzlauer Berg.

Philipp und Isa stellten frühzeitig den Antrag auf einen Interzonenpass, warteten auf die Prüfungen, auf das Ende des Semesters und freuten sich auf die Ferien.

Christian und Philipp beschlossen, an den beiden letzten Nachmittagen vor Beginn der Prüfungen nicht mehr zu lernen, das schöne Wetter auszunutzen und baden zu gehen. Sie überredeten die Frauen mitzukommen, und so fuhren sie gemeinsam hinaus an den Müggelsee, schwammen, tollten am Strand herum oder lagen in der Sonne und machten Pläne für die Zukunft. Isa freute sich, zusammen mit Philipp in ihrer Heimat und bei ihren Eltern sein zu können.

Lena schwärmte von der Sängerin Erna Berger und wollte wie diese gerne bald Liederabende geben. Christian wollte nun doch nicht Chemie studieren, sondern lieber Physik, weil das eben eine exakte Naturwissenschaft sei, in der es streng mathematisch zuginge und bei der man nicht so viel unnützes Zeugs auswendig lernen müsse wie in der Chemie. Philipp meinte, dass er wohl oder übel bei der Chemie bleiben werde, denn um jetzt noch zu wechseln, dazu sei er schon zu lange dabei, und das Auswendiglernen liege ihm mehr als die Mathematik.

Am Abend des zweiten Tages fand Philipp ein Schreiben der Sowjetischen Militäradministration SMA vor, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass sein Antrag auf einen Interzonenpass abgelehnt worden sei. Einen Moment dachte er an seine Befragung durch Sophies Mutter. Auch an Werner Peitz musste er denken und dass Christian ihn gewarnt hatte, verscheuchte aber diese Gedanken schnell wieder. Ich sehe schon Gespenster, dachte er, nahm das Schreiben und ging zu Isa. Die zeigte ihm erfreut ihren Pass, aber als sie Philipps Brief gelesen hatte, begann sie zu weinen und stampfte mit dem Fuß auf.

»Warum, warum!? Was haben die gegen dich? Ich habe mich so auf die Ferien gefreut.«

»Ich verstehe das auch nicht, vielleicht darf nur ein Teil von uns Westlern rüber, und es hat gar nichts mit mir zu tun. Du hast eben Glück gehabt.«

»Willst du nicht mal nach Karlshorst gehen und bei der SMA nachfragen?«

Philipp erzählte ihr die Geschichte mit dem Stadtplan und von seinem Verhör.

»Ich habe keine Lust, noch einmal als Spion verdächtigt zu werden. Lass uns nach der Prüfung weiter darüber reden.«

Und dann begannen die Prüfungen. Lichtweiß nahm Philipp zur Seite und teilte ihm mit, dass Direktor Reitmann an all seinen mündlichen Prüfungen teilzunehmen gedenke.

»Aber keine Angst«, flüsterte Lichtweiß, »wir werden das schon schaukeln.«

Sollte das vielleicht alles nur wegen der versäumten Stalin-Feier sein?, fragte Philipp sich. Als er dann am Tisch den Prüfern gegenüber saß und mitten unter ihnen Reitmann sah, war ihm nicht ganz wohl. Die Gesichter der Dozenten drückten jedoch Entgegenkommen und Unterstützung aus, so dass er bald ruhiger wurde. Und tatsächlich schien es, als ob die Prüfenden vorher mit den ihm genehmen Fragen versorgt worden waren, denn sie fragten genau die Themen ab, in denen Philipp seine besonderen Stärken hatte, selbst Ordeich hielt sich daran.

So ging alles gut. Alle in der Klasse bestanden das Abitur und waren zufrieden. Bei der Übergabe der Zeugnisse durch Lichtweiß waren auch die anderen Dozenten anwesend, und nach einer kleinen Rede des Klassenlehrers begann das allgemeine Händeschütteln. Darüber kam Reitmann in die Klasse, gratulierte auch und teilte mit, dass er für einen noch eine besondere Auszeichnung habe: Christian Koschek sei aufgrund seiner Kenntniss der polnischen Sprache und seiner guten Leistungen ausgewählt worden, in der Sowjetunion studieren zu können. Reitmann überreichte Christian ein Schreiben des Staatssekretärs für das Hoch- und Fachschulwesen und gratulierte. Alle klatschten, Christian bedankte sich für die besondere Auszeichnung und versprach, die DDR würdig zu vertreten. Man wünschte ihm Glück, einige beneideten ihn, und Sophie erzählte vom Leben in der Sowjetunion und von den neuen Menschen dort.

»Kommt, gehen wir uns erst einmal besaufen!«, sagte Philipp.

Sie gingen in das Lokal »Zum groben Gottlieb« nahe dem Deutschen Theater. Sophie und Angela begleiteten die jungen Männer.

»Was wollt ihr Grünschnäbel denn hier?«, begrüßte Gottlieb sie. »Dass mir das nicht zur Gewohnheit wird; normalerweise dürfen hier nur anständige Leute rein. Setzt euch, trinkt und verhaltet euch ruhig!«

Sie tranken Bier, sprachen über die Prüfung, über die Dozenten, und sie waren sich einig, dass es doch eine schöne Zeit gewesen war, die eigentlich zu schnell vergangen sei.

Philipp trank viel und war bald betrunken.

»Ist das Zimmer bei dir noch frei?«, fragte er Sophie.

»Ja, ist noch frei.«

»Wann kann ich einziehen?«

»Wenn ihr schon nächste Woche aus dem Heim raus müsst, dann Montag. Mutti wird sich auch freuen.«

Als sie das Lokal verließen, mussten die anderen Philipp stützen.

»Wisst ihr was, wir verpassen ihm eine kalte Dusche«, schlug Christian vor.

Beim nächsten Hydranten setzten sie Philipp in die zum Tränken der Pferde vorgesehene Aussparung im Kantenstein. Christian zog den Hebel; ein großer Wasserstrahl ergoss sich über Philipp. Dieser schnappte nach Luft, sprang auf, klimperte erstaunt mit den Augenlidern und schaute die anderen vorwurfsvoll an.

»Warum macht ihr das, ich war so schön besoffen!«

Als sie im Heim eintrafen, war Philipps Kleidung immer noch durchnässt. Auf seinem Bett lag ein Brief von seiner Mutter. Ohne sich umzuziehen las er: Es geht uns gut, was wir auch von Dir hoffen. Opa kriegt keine Luft. Es geht immer schlechter. Oma hat ein Bein gebrochen. Onkel Hännes ist dauernd betrunken. Er wird noch seine Arbeit verlieren. Wenn Du kommst, wollen wir das Schwein schlachten. Die Witwe von Hermann ist auch gestorben.

Es grüßt Dich Deine Mutter

Am nächsten Tag half Christian Lena beim Umzug nach Mahlsdorf. Sie nahm die Nachricht von seinem Studium in der Sowjetunion gefasst entgegen. Die Beziehung zwischen den beiden war im Laufe der Zeit mehr und mehr abgekühlt. Ihre Liebe war auf der Treppe zwischen dem Keller und der Etage der Frauen verloren gegangen.

Philipp half Isa beim Packen. Ihre Sachen stellten sie vorübergehend bei den Männern unter und Philipp versprach, sie am Wochenende in ihr neues Zimmer im Bezirk Prenzlauer Berg zu bringen. Dann begleitete er Isa zum Bahnhof Friedrichstraße.

Sie standen auf dem Bahnsteig, um Abschied zu nehmen.

»Wirst du nun allein in Friedrichshain wohnen?«, fragte sie.

»Ich weiß noch nicht.«

Sie stand vor ihm und schaute ihn ängstlich und mit großen Augen an. Philipp fühlte sich elend.

»Schreibst du mir?«, fragte sie.

»Sicher schreib ich dir.«

Plötzlich fühlte er ein seltsames Brennen in der Brust.

»Ich liebe dich«, sagte er.

»Ich liebe dich auch«, antwortete Isa und kramte nach ihrer Fahrkarte.

»Nein, nein, ich liebe dich wirklich. Was immer sein wird, ich liebe dich. Das habe ich noch zu keiner gesagt.«

Er nahm sie in seine Arme und drückte sie an sich.

»Puh! Ich kriege ja keine Luft mehr!«, stöhnte Isa und lachte glücklich. »Vielleicht bekommst du ja doch noch einen Pass, und das Ganze war nur ein Missverständnis. Dann kommst du nach, versprochen?«

»Versprochen!«

Der Zug kam, Isa stieg ein, Philipp drehte sich um und ging, ohne noch einmal zurückzuschauen. Als Christian am folgenden Tag zum Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen ging, um seinen Aufenthalt in der Sowjetunion zu regeln, ging Philipp mit; er wollte sich bewerben, ebenfalls in Moskau studieren zu dürfen. Aber der Genosse Abteilungsleiter machte ihm keine Hoffnung.

»Du hast Verwandte in Westdeutschland, Genosse Siebert, damit hast du keine Chance. Übrigens: Da gehört das Parteiabzeichen hin!«

Er stieß mit dem Zeigefinger energisch gegen das Revers an Philipps Jackett. Philipp trug noch immer den amerikanischen Sakko, den seine Mutter ihm lange vor der Währungsreform auf dem Schwarzmarkt gegen ein Stück Schweinespeck besorgt hatte − aber eben ohne Parteiabzeichen der SED.

Am Montag zog Philipp in Weißensee ein. Am Revers trug er das Abzeichen mit den verschlungenen Händen. Er wollte studieren und weiterkommen im Leben.

Zweiter Teil
Licht auf dem Wasser
1

Sophie seufzte.

»Ich möchte so gerne einmal nach Westdeutschland reisen und auch deine Familie kennen lernen. Jetzt in den Ferien hätten wir schön Zeit dazu.«

Philipp hob ratlos die Schultern.

»Wie willst du das anstellen?«

»Weiß ich auch nicht. Mutti würde Westkontakte nie erlauben. Als Tochter einer Stellvertretenden Ministerin der DDR darf ich so etwas gar nicht erst denken.«

Sophie berichtete, wie sie einmal, in einem Buch vertieft, am Bahnhof Friedrichstraße vergessen habe, aus der S-Bahn auszusteigen, und unfreiwillig nach Westberlin gefahren sei.

»Mein Herz schlug ganz doll, ich war sehr aufgeregt. Am Bahnhof Zoo bin ich sofort in den nächsten Zug Richtung Osten gestiegen und zurückgefahren. Die Mutti weiß bis heute nichts davon.« Sie machte eine Pause und dachte nach. »Wenn ich reisen sollte, dann dürfte Mutti das nie erfahren.« Wieder machte sie eine Pause und überlegte. »Man müsste schwarz über die Zonengrenze gehen. Aber mit dem Lotsen, dem Genossen Wendt, über die Grenze bei Hötensleben, das ginge nur über die Partei – die würde das für mich nie möglich machen, und wenn, dann würde Mutti sicher bald davon erfahren. Nein, es geht nicht – leider.«

Philipp kam ein verwegener Gedanke: Was, wenn ich der Tochter einer mächtigen DDR-Funktionärin dazu verhelfe, vom Gift des Kapitalismus infiziert zu werden?

»Es müsste doch gehen, und ohne Partei. Wir könnten ja so tun, als gingen wir zum Genossen Wendt, um uns offiziell über die Grenze bringen zu lassen, und dann waten wir seitab von dem Grenzposten durch den Bach.«

Er malte die Überquerung der Grenze in allen Farben aus und schilderte, wie leicht das sei, beschrieb die Weiterreise in Westdeutschland, die Ankunft in seiner Heimat und die Überraschung und Freude seiner Familie, wenn er mit Sophie dort auftauchen würde. Er versicherte ihr, dass seine Mutter und die Großmutter sich ganz besonders freuen würden, und erzählte von dem von der Mutter angekündigten Schlachtefest und den Erinnerungen an seine Kindheit und Jugendzeit in Westdeutschland.

»Schon unter 38, das Fieber geht langsam zurück«, sagte die Mutter und schlug das Quecksilber herunter.

»Darf ich aufstehen?«, fragte Philipp, hoffend, dass sie ihn mitnehmen würde zur Stadt.

»Nein, heute noch nicht; ich bringe dir etwas mit«, tröstete sie ihn und ging.

Es wurde ihm langweilig im Bett. Lesen mochte er nicht mehr. Die Märchen fand er doof, und die Heldengeschichten in seinem Lesebuch kannte er längst. So versuchte er zu erraten, was die Mutter ihm wohl mitbringen würde. Vielleicht Salmiakpastillen? Die konnte man in Sternform oder anderen lustigen Formen auf den Handrücken kleben, und wenn man sparsam daran leckte, hatte man stundenlang etwas davon. Eine Lakritzstange wäre auch nicht schlecht. Klein geschnitten und in eine halb mit Wasser gefüllte Flasche gegeben, erhielt man durch kräftiges Schütteln einen Schaum, den man nuckeln und durch abermaliges Schütteln sofort wieder erneuern konnte. Aber Erwachsene haben ja keine Fantasie, dachte Philipp, sicher bekomme ich wieder nur einen Schokoladenriegel. Mit dem konnte man nichts weiter machen als ihn aufessen.

Die tief stehende Novembersonne schien direkt auf Philipps Bett. Ungeduldig wartete er auf die Rückkehr der Mutter. Als sie endlich kam, war sie sehr erregt. Von SA-Männern berichtete sie, die in der Nacht Schaufensterscheiben eingeschlagen und die Wohnungen der Leute verwüstet hätten. Jetzt ständen diese Männer in den braunen Uniformen vor den zertrümmerten Schaufenstern, und der Kopetzki, der Vater von Bruno, sei auch dabei. Philipp verstand nur, dass sie ihm nichts mitgebracht hatte, nicht einmal einen Schokoladenriegel. Als sie ihm dann aber von Herrn Elkan erzählte und dass dieser von den SA-Männern verprügelt worden sei, wurde er doch aufmerksam. Er wusste, dass Herr Elkan im Krieg gegen die Franzosen gekämpft und dabei einen Arm verloren hatte; er war einer seiner Helden. So einen Mann konnte man doch nicht verprügeln, das war feige.

Wenn Brunos Vater daran beteiligt war, würde er nicht mehr mit Bruno spielen, beschloss Philipp. Mit Bruno war in der letzten Zeit ohnehin nicht viel los. Immer musste er seine kleine Schwester mitschleppen, die Adolfine hieß und von den Jungen Hitlerine genannt wurde. Sie hatten das Gerücht gehört, dass ihr Vater sie Adolfine-Hitlerine nennen wollte, der Standesbeamte habe jedoch nur Adolfine zugelassen.

»Das Geschäft von Elkan sieht schlimm aus, auch die Wohnung haben sie verwüstet«, sagte die Mutter.

»Ist das Klavier auch kaputt?«, fragte Philipp.

»Sicher, auch das Klavier.«

Er dachte an die Besuche, die regelmäßig am Sonntagnachmittag stattfanden. Es gab Kakao und Kuchen, und Ruth, die nur wenig älter war als Philipp, spielte Klavier. Hinterher durfte er auch auf den weißen und schwarzen Tasten klimpern, aber meist ermahnte ihn Ruth, er solle nicht so fest hauen. Philipp tröstete sich dann mit dem Schemel, den er ganz niedrig oder auch ganz hoch drehte, und wenn die Mutter ihn daran hindern wollte, lachte Frau Elkan nur.

»Lassen Sie ihn ruhig, es macht ihm doch Spaß.«

»Ist der Schemel noch heil?«, fragte Philipp die Mutter.

»Junge, ich habe jetzt andere Sorgen, als mich um deinen Schemel zu kümmern«, sagte sie ungeduldig und ging wieder.

Wie konnte sie so etwas sagen! Es war ja gar nicht sein Schemel, aber wenn Elkans ein neues Klavier kaufen mussten, brauchten sie doch einen Schemel.

Am Abend war das Fieber wieder gestiegen, nasse Tücher um die Waden wie am Vortage bekam Philipp jedoch nicht mehr. Auch am nächsten Morgen durfte er das Bett noch nicht verlassen. Die Mutter hatte wenig Zeit für ihn.

»Ich fahre mit Tante Lenchens Tempo in die Stadt«, sagte sie und ermahnte ihn, dass er ja im Bett bleiben solle, weil er sonst einen Rückfall bekäme.

»Tante Lenchens Tempo« bedeutete, dass die Mutter mit Tante Lenchen irgendwas transportieren wollte. Diese hatte einen Gemüseladen und besaß für die Fahrten zum Markt und für nachbarliche Gefälligkeiten ein kleines, dreirädriges Auto mit einer offenen Ladefläche. Was die beiden wohl vorhatten? Während Philipp sich alles Mögliche ausmalte, musste er eingeschlafen sein.

Er wachte erst auf, als laute Stimmengeräusche aus dem Flur zu ihm nach oben drangen. Was war los? Was wollten die vielen Menschen in ihrem Haus? Er stand auf, legte sich eine Wolldecke um, schlich zur Treppe, setzte sich auf die oberste Stufe und lugte durch die Stäbe des Geländers nach unten.

Die ganze Nachbarschaft war dort versammelt. In großer Geschäftigkeit wühlten die Menschen in Bergen von Schuhen und redeten aufgeregt durcheinander. Sie nahmen einzelne Schuhe auf, warfen sie wieder zurück, nahmen andere, warfen auch diese wieder zurück, bis sie zwei passende zu haben schienen, die sie dann an sich drückten.

»Sechs Paar habe ich; wenn ich Abschlag geholt habe, bringe ich das Geld«, sagte eine Frau mit einem ganzen Arm voller Schuhe und ging.

Neue Leute kamen und begannen gleich mit dem Wühlen. Eine kleine, alte Frau hatte ein Paar moderne hochhackige Lackschuhe in der Hand.

»Hier ist ein Kratzer dran. Kosten die auch eine Mark?«, rief sie.

»Nein, fünfzig Pfennig«, hörte Philipp die Mutter antworten.

Auf der unteren Treppenstufe entdeckte er eine Glasscherbe. Vorsichtig schlich er sich nach unten, nahm die Scherbe in die Hand und prüfte sie. Sie war dicker als das Fensterglas in ihren Fenstern, das sah er sofort, und an der Bruchstelle schimmerte es grün. War sie etwa von Elkans Schaufenster?

»Gehst du wohl ins Bett zurück!«, hörte er die Mutter rufen.

Sie kam zu ihm und schob ihn die Treppe hoch.

»Was ist mit den Schuhen?«, fragte Philipp.

»Elkans schließen ihr Geschäft; sie gehen weg aus Deutschland«, sagte sie.

»Aber warum denn?«, fragte er.

»Sie sind Juden«, antwortete die Mutter, dann war sie schon wieder unten und er kroch zurück in sein Bett.

Juden! Da hatte er nun was zum Grübeln. Natürlich wusste Philipp, dass die Juden aller Leute Unglück waren, der Lehrer hatte es ihnen oft genug gesagt. Warum, das wagten sie ihn nicht zu fragen, weil man dafür mit dem Lineal auf den Kopf geschlagen wurde, und wenn der Lehrer Alkohol getrunken hatte, schlug er sogar mit der Kante des Lineals. Die Juden bedeuteten Unglück, basta! Aber die Elkans? Wenn sie Juden waren, mussten dann nicht auch sie ihr Unglück sein? Philipp versuchte sich an alle Besuche zu erinnern, die er mit der Mutter bei den Elkans gemacht hatte, aber ihm fiel nichts Ungewöhnliches ein, außer dass Herr Elkan ihm manchmal den Kopf streichelte, was er nicht leiden konnte, ihm aber verzieh, weil Elkans ja nur eine Tochter hatten.

Seine Mutter mochte Philipp nicht fragen, sie würde ihn nur auslachen. Den Herrn Kaplan im Religionsunterricht? Aber der würde sofort zurückfragen: »Kennst du auch deinen Katechismus?« Und dann musste man mindestens eine Seite herunterrasseln können und durfte nicht stecken bleiben. Als aber am Nachmittag der Vater von der Arbeit zurück war und nach Philipp schaute, empfing dieser ihn gleich mit der Frage.

»Warum sind die Elkans unser Unglück?«

Der Vater schaute ihn lange an und legte dann prüfend seine Hand auf Philipps Stirn.

»Was du auch immer für Fragen stellst! Damit bringst du uns noch mal in Schwierigkeiten.«

»Pass auf, dass die Deutschen dich nicht sehen!«, ermahnte die Mutter Philipp.

So schlich er, den Topf in der Hand, zur Buchenhecke, die den Bauplatz und die Neue Kolonie voneinander trennten. Im Schutz der Hecke kam er zu der Stelle, an der sie öfter den Kriegsgefangenen die gekochten Kartoffeln hinstellten.

»Die Deutschen«, das waren die Männer der Wachmannschaft und der Bauleitung. Von den Gefangenen hatten sie einen Schacht errichten lassen, und nun gruben diese einen Luftschutzstollen in die Erde. Den ganzen Tag förderten sie Loren voller Schotter und Lehm nach oben, kippten alles am Rande des Platzes zu einem kleinen Berg auf und schickten die Wagen wieder mit Beton nach unten.

In der Nacht gab es schon zum zweiten Mal Fliegeralarm. Die Leute aus der Neuen Kolonie gingen in den Stollen. Die ersten Kriegsjahre waren sie bei Alarm zum drei Kilometer entfernten Betonbunker im Zentrum von Hamborn gewandert. Opa Jacob und einige andere Alte waren meist in ihren Häusern zurückgeblieben. Als die Zeit zwischen dem Sirenengeheul und den ersten Bombeneinschlägen immer kürzer und die Bomben immer größer wurden, brachten sich die Menschen im Laufschritt in Sicherheit. Philipp nahm das alte Herrenfahrrad, setzte Oma Josepha auf die Stange, und sie versuchten ebenso schnell wie die Laufenden den Bunker zu erreichen. Josepha, die nichts vom Radfahren, aber alles vom Lenken verstand, ließ sich auch durch Philipps Bitten nicht davon abbringen, selber zu lenken. So landeten sie auf dem Wege zum Bunker immer mal wieder im Graben und waren oft nicht früher am Ziel als die anderen.

Mit der Zeit gingen trotz Verbots immer mehr Leute in den nahen, noch unfertigen Stollen, der bisher keinen zweiten Ausgang hatte. Opa Jacob ging nun auch mit. Alle waren eingeübt, bei Alarm irgendwelche Habseligkeiten zu greifen und mit in den Stollen zu nehmen. Jacob musste Josephas Mantel mit dem Pelzkragen tragen. So hockten sie in dem unfertigen Stollen und warteten auf die Bomben. Philipp stand mit den anderen Jungen, den jungen Männern und dem Vater am Stolleneingang. Sie hatten die Aufgabe übernommen, die Häuser im Auge zu behalten und bei Brandbombenabwurf das Feuer zu löschen.

In dieser Nacht schlug die erste Bombe vor dem Stollenzugang ein. Paul stand auf der obersten Stufe. Ihm wurde die Kleidung vom Leibe gerissen, Erde drang tief in seine Haut, er wurde vom Luftdruck hochgehoben und die Stufen hinuntergeschleudert. Philipp, der hinter seinem Vater stand, blieb unverletzt. Die nächsten zwei Bomben durchschlugen die Betondecke des Stollens; viele Menschen wurden unter Geröll und Lehm begraben und getötet. Die hinter den Einbrüchen Sitzenden wurden von der Außenwelt und damit auch von der Luftzufuhr abgeschnitten. Auch Philipps Familie war unter den Eingeschlossenen. Bis zum Morgengrauen hatten die Männer und die Jungen zu tun, durch Geröll, Lehm und zwischen den Toten einen Durchbruch zu schaffen, um die Eingeschlossenen zu befreien. Halberstickt krochen diese bei Tagesanbruch über Lehm, Geröll und über die Toten ins Freie.

Philipp hatte lange um seine Familie bangen müssen. Endlich kroch Oma Josepha hervor, dann die Mutter und zuletzt Opa Jacob, einen lehmverschmierten Lappen hinter sich herziehend, der zuvor Omas Mantel war und den er nicht loslassen wollte.

Am Mittag kamen zwei Männer in Polizeiuniformen ins Haus. Sie baten darum, dass jemand mitkomme zum Platz. Philipp meldete sich. Den Einwand der Mutter, er sei eben erst fünfzehn geworden und habe die ganze Nacht geholfen, ließen sie nicht gelten.

»Er ist doch ein Hitlerjunge – oder?«, fragte der jüngere Polizist.

Philipp nickte eifrig.

Auf dem Platz lagen die Toten im Lehm und Morast, aufgereiht und übereinander. Der ältere Polizist reinigte das Gesicht des ersten Toten mit einem Handfeger, Philipp sagte dessen Namen, der jüngere notierte ihn auf einem Zettel, heftete diesen dem Toten an die Kleidung, und gemeinsam legten sie ihn zur Seite. So ging es viele Male weiter. Philipp kannte alle, nur bei den ganz kleinen Kindern gab es Schwierigkeiten.

»Das macht nichts«, sagte der jüngere Polizist, »die Mütter haben sie ja noch in den Armen.«

Am Ende zählten sie die Reihe.

»Zweiundvierzig«, sagte der Ältere.

»Stimmt«, bestätigte der Jüngere, und: »Dass aber auch gleich zwei Bomben genau den Stollen treffen mussten. Die sind durch den Boden gegangen wie durch Butter.«

»Ich vermute, dass die Betondecke zu dünn war. Sie sollen Zement verschoben haben«, sagte der Ältere.

»Ach«, wehrte der Jüngere ab, »es wird viel erzählt. Man sagt auch, dass hier irgendwo Positionslichter verteilt seien, die bei Fliegeralarm brennen, damit die Chemiefabrik verschont bleibt. Alles dummes Zeug.«

»Verstehen kann man die Leute aber, denn von den vielen Bomben hat keine die Fabrik getroffen.«

Die Loren haben sie zurückgelassen und auch die Schienen. Beides benutzten die Bewohner der Neuen Kolonie, um die Bombentrichter mit Schotter zu füllen. Auch die vielen Betonreste mussten mit Hacke und Schaufel gelöst und weggefahren werden. Alle waren genötigt mitzuhelfen. Philipp murrte wegen der schweren Arbeit und dem wenigen Essen. Die Mutter wollte ihn trösten: Wenigstens hätten die Bombennächte ein Ende und sie sollten dem Herrgott dankbar dafür sein. Davon werde ich auch nicht satt, dachte Philipp, wagte es aber nicht laut zu sagen.

Zwei Männer kamen auf die Arbeitenden zu; es waren ehemalige Kriegsgefangene. Sie grüßten erfreut und gaben durch Gestik und mit wenigen deutschen Worten zu erkennen, dass es sie amüsierte, die Deutschen ihre schwere Arbeit verrichten zu sehen, und dass sie jetzt auf den Rücktransport in ihre Heimat warteten. Sie klopften Philipp auf die Schulter.

»Frau gutt, du gutt, kommen mit!«

Die Mutter lehnte höflich ab, so ging Philipp allein mit ihnen. Sie führten den Jungen in eine Turnhalle, die vollgestellt war mit Pritschen, auf denen viele Männer lagen und hockten. Man begrüßte ihn mit Hallo und Schulterklopfen. Philipp musste an einem Tisch Platz nehmen, wurde mit Schokolade gefüttert und bekam süßlichen Rotwein zu trinken. Von allen Seiten steckten sie ihm Köstlichkeiten zu. Neben ihnen, in der Mitte der Halle, war ein Geviert abgeteilt aus mit Decken behängten Schnüren. Während der ganzen Zeit, in der Philipp es sich schmecken ließ, hörte er von dort Geräusche und Gekicher. Dann hob sich der Vorhang, und ein Mann und eine Frau, beide nackt und bäuchlings nebeneinander auf einer Pritsche liegend, schauten freundlich und nickten ihm zu.

Philipp stand mitten auf dem Hof, um ihn herum viele fremde Menschen. Eine Frau mit nackten, starken Armen und mit einem großen Busen nahm ihm den Pappkarton mit seiner Wäsche ab.

»Ist das alles?«, fragte sie. »Den nehme ich schon mal mit. Philipp heißt er«, sagte sie zu den anderen.

Eine alte Frau, schwarz gekleidet und mit einem krummen Rücken, tastete seinen Arm ab.

»Wie alt bist du?«

»Ich werde vierzehn.«

Sie wandte sich an einen dazukommenden Mann.

»Aber du hast gesagt, dass du dieses Mal einen kräftigen Jungen nimmst.«

»Lass gut sein, Mutter«, sagte der Mann, »so schwach ist er nun auch wieder nicht.« Er drehte sich um zu Philipp. »Wir müssen alle fleißig arbeiten. Das dort ist Pierre, den wirst du morgens aus dem Lager holen und abends wieder abliefern. Nadja ist unsere Heulsuse. Habe ich Recht, Nadja?«

»Ich nix Suse«, sagte Nadja, eine junge Frau mit langen Zöpfen und Holzgaloschen an den Füßen. Ihre Augen blitzten zornig.

»Opa Schilling hilft uns nur an wenigen Tagen«, fuhr der Mann fort. »Er kann dir den Hof zeigen.« Und zu dem alten Mann sagte er: »Du nimmst ihn dann mit zum Ausbessern der Zäune, Schilling.«

»Ja, Bauer«, sagte der Angesprochene.

Der Bauer zeigte auf ein Mädchen in Philipps Alter.

»Bella bleibt auch ein Jahr bei uns.« Und mit einem leichten Vorwurf in der Stimme sprach er weiter. »Sie ist sofort nach ihrem Schulabschluss gekommen, ist schon eine ganze Woche hier.« Der Vorwurf wurde deutlicher. »Wir müssen alle da unsere Pflicht tun, wo der Führer uns hingestellt hat, damit der Endsieg bald kommt. Ach ja, ehe ich es vergesse, zehn Mark im Monat und jeden zweiten Sonntag frei. Und nun«, er klatschte in die Hände, »alle wieder an die Arbeit; die Mittagspause ist schon lange vorbei!«

Philipp folgte Opa Schilling, der ihm die Ställe zeigte und die Tiere darin. Sie sahen die Boxen mit den Sauen und den wenige Tage alten Ferkeln und im Kuhstall die ganz jungen Kälber.

»Die größeren sind mit den Kühen auf der Weide. Die Pferde sind alle draußen, auch das Fohlen, den Stall müssen wir uns jetzt nicht ansehen«, sagte Opa Schilling. Im Schweinestall lösten die beiden einen Höllenlärm aus. »Die glauben, es gibt Fressen, wenn sie mich sehen«, schrie Opa Schilling und zeigte dann auf eine Stiege in der Stallecke. »Dort geht es zu deiner Kammer. Ratten musst du nicht fürchten; es gibt viele Katzen auf dem Hof.«

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