Utopie einer lobbaren Zukunft

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Otto Ulrich

Utopie einer lobbaren Zukunft

Zeitfelder 1921 – 2021 – 2121

ISBN E-Book 978-3-95779-139-9

ISBN gedruckte Version 978-3-95779-135-1

Diesem E-Book liegt die Erste Auflage 2021 der gedruckten Ausgabe zugrunde.

© Info3 Verlagsgesellschaft Brüll & Heisterkamp KG

Frankfurt am Main, 2021

Lektorat Jens Heisterkamp, Frankfurt am Main

Umschlag: Frank Schubert, Frankfurt am Main

(Foto: Shutterstock)

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH

Über dieses Buch

Wenn von Zukunft die Rede ist, kommt heute meist nur der technologische Fortschritt zur Sprache. Otto Ulrich nimmt eine andere Perspektive ein: Drei jahrhundertübergreifende „Zeitfelder“ werden in den Blick gerückt auf der Suche nach Ideen und Impulsen, die sich bereits als zukunftsbildend erwiesen haben oder noch erweisen werden.

Aus einer verblüffenden Perspektive – aus dem Jahr 2121 – fällt schließlich der Blick auf unsere Gegenwart zurück. Dabei zeichnen sich Erneuerungsimpulse ab, die den Umriss einer nachhaltigen, humanen und spirituellen Kultur erkennbar werden lassen, samt einem neu begrünten Kontinent, der in der Phantasie des Autors entsteht. Provokante Voraussagen wie die Überwindung der Digitalisierung oder die künftige Breitenwirksamkeit der Anthroposophie fordern zum Mitdenken auf.

Über den Autor


Otto Ulrich, 1942, (Dr. rer. pol.), Physikingenieur, hat als Politikberater viele Jahre im Bundeskanzleramt und als Diplomat in Brüssel die Innenseite der politischen Macht kennen gelernt. Er ist Autor von Büchern, Essays – etwa in Die Zeit, Geo, Scheidewege, Universitat, Die Drei, etc. Er ist Entwickler des von der UN zertifizierten Weltklima-Konferenzspieles „Cooling down“.

Inhalt

Einleitung

1. Kapitel 1921: Die Vergangenheit unserer Gegenwart

2. Kapitel 2021: Unsere Zeit

3. Kapitel 2121: Die Zukunft unserer Gegenwart

Literatur und Anmerkungen

Einleitung

Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ als biologistischer Ansatz

Auf der Suche nach Jahrhundert-Themen

Das vorliegende Buch will einen Dreisatz von und zwischen den Jahren 1921, 2021 und 2121 versuchen. Es will vor- und zurückblicken zugleich, will nachvollziehen wie vor hundert Jahren vorausgeblickt wurde und eine Zukunft beschreiben, aus der heraus sich nach hundert Jahren auf unsere Jetztzeit zurückblicken lässt.

Vor hundert Jahren war es insbesondere Oswald Spengler, der eine Zukunftsvision beschrieb, eine pessimistische zwar, aber eine weit vorausblickende. Deshalb kommen wir um Spengler nicht umhin, auch wenn sein Werk zurecht umstritten ist und der Autor seine Ansichten keineswegs teilt, was noch zu begründen ist.

Heute wird die Zeit zwischen 1450 und 1620 gerne als „Geburtszeit der Moderne“ angesehen, als Zeit, in der ein neues Großkapitel der europäischen Geistesgeschichte aufgeschlagen wurde. Ob später einmal die Zeit zwischen 1921 und 2121 wiederum als Zeit eines Epochenwechsels angesehen werden kann, soll hier geprüft werden. Was wichtig ist, gerade weil Oswald Spengler (1880–1936) in seinem Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes behauptet, dass zwar immer wieder neue Kulturen entstehen und eine Blütezeit erleben, um sich dann aber durch eine Phase des Verfalls zu vollenden und unterzugehen. Das wurde als Zyklentheorie bekannt.

Immer wieder spricht er vom „Erlöschen der Zivilisation“, vom „Ende des Abendlandes“ – und hat dabei das „Ende der Antike“ im Auge: Er begründet, wie er meint, eine „Philosophie der Zukunft“, um dieser aber auch zugleich eine Zukunft abzusprechen, weil diese wohl kaum „aus dem erschöpften Boden des Abendlandes hervorgehen kann.“1 Es gehe letztlich um ein „Ausharren bis zum Ende“. „Die Zeit lässt sich nicht anhalten, es gibt keine weise Umkehr, keinen klugen Verzicht“, so Spengler.2

Sein Pessimismus seiner Gegenwart gegenüber bot sich damals demokratiefeindlichen und rechtsextremen Kräften als Ansatzpunkt. Rudolf Steiner dagegen bezeichnet den Untergang des Abendlandes schlicht als ein „furchtbares Buch“.3 Er sieht in Spengler einen Mathematiker am Werk, der – ganz Positivist und Fatalist – „eine „naturwissenschaftliche Theorie des Untergangs“ geschrieben habe.4 „Spengler bezieht sich stets auf Goethe, allerdings geht es ihm nicht um das Leben, das dieser so intensiv studierte, sondern um den Tod“, wie es Karen Swassjan betont.5

Wer war Oswald Spengler? Als Sohn eines Postsekretärs in der Provinz geboren, galt er als ein einsames und kontaktarmes Kind. Als Jugendlicher interessierte er sich stark für Geschichte und Geografie, besonders befasste er sich mit der Neuordnung Europas und der übrigen Welt. Nach dem Studium von Mathematik und Naturwissenschaft promovierte er über die Heraklitische Philosophie. Er galt als arrogant und egozentrisch, auch wird er als depressiv und menschenverachtend beschrieben, als „ein Mensch ohne Liebe“, wie Ricarda Huch ihn sah.

Mit dem Untergang des Abendlandes legte Spengler – so beschreibt es Peter Selg – eine „verblüffende Philosophie der Geschichte“ vor 6, bestimmt von der Behauptung, am Ende der abendländischen Kultur stehe der zivilisatorische „Gehirnmensch“: „Der reine Gehirnmensch, für den die Welt restlose Beute seiner intellektuellen Fähigkeiten ist, erscheint mit dem 3. und 19. Jahrhundert“7 – was Folgen hat, eine „mechanische Naturanschauung“, und dazu führt, „Kultur und Zivilisation als erstarrt, als Mechanismus“ zu verstehen.8

Entlang dieser Aussagen, wonach wir in einer von „Mechanik bestimmten Gesellschaft leben“ und dem prophezeiten „Tod der abendländischen Zivilisation“ entgegengehen, soll in dem vorliegenden Buch versucht werden, die Ausblendungen und Verkürzungen von Oswald Spengler zu überwinden – was nicht ausschließt, seine zeitkritische Zivilisationsanalyse in Teilen auch zu bestätigen. Wo Spengler etwa von „Morphologie“ spricht – was für ihn ein Schlüsselwort darstellt – sollte eigentlich von „Metamorphose“, also einer am Lebendigen orientierten Vision von Zukunft gesprochen werden, und zwar mit neuen Impulsen, die bereits „unterwegs“ sind; Impulse nämlich, die sich gerade in unserer Zeit weiter und weiter entfalten, auch deshalb, weil sie schon gereift sind und die Phase des Papiers verlassen haben. Es soll hier dargestellt werden, warum ein „Wiederaufstieg des Abendlandes“, oder, Spenglers Formulierung überwindend, eine „lobbare Zukunft“ durchaus erkennbar wird. Es geht darum, den längst angelegten Weg hin zu einer zukunftstauglichen, nachhaltigen Gesellschaft dem Fatalismus des „Untergangs“ entgegenzustellen.

Dies setzt voraus, den aktuell laufenden Versuch, die Geschichte der Menschheit als Geschichte des Fortschritts zu erzählen, als Reduktionismus zu entlarven. Denn zumeist wird Fortschritt heute nur als Beschleunigung der Eroberung des gesellschaftlichen Zusammenlebens durch die Technik – insbesondere durch Digitalisierung – erzählt. Dies bestätigt die alte, aber ungebrochen weiterhin hochaktuelle Prognose, die schon Helmholtz 1869 formuliert hat und die da lautet: „Das Endziel aller Naturwissenschaften ist, die allen Veränderungen zugrundeliegenden Bewegungen und deren Triebkräfte zu finden, sich also in Mechanik aufzulösen.“ Heute, so wird uns glauben gemacht, sollte Fortschritt außerdem verstanden werden als Möglichkeit, durch harte Arbeit zu einem Aufstieg innerhalb der Leistungsgesellschaft zu kommen – ein verbreitetes, aber höchst problematisch werdendes Verständnis von Fortschritt, was zu begründen sein wird.

Der Untergang des Abendlandes – erschienen 1920 – begründet die kulturpessimistische Annahme des laufenden Niederganges eines Zivilisationstypus, der sich, nach heutiger Lesart, aus der Orientierung an Globalisierung und Technologisierung ergibt. Im Kern sind es die Naturwissenschaften und die Mathematik, die sozialtechnologische Regelungen erzwingen und damit das mechanische Grundgetriebe moderner Gesellschaften bestimmen. Oswald Spengler beschreibt einen unaufhaltbaren Niedergang, gar einen Untergang unserer Zivilisation, den wir heute durch die Leistungsgesellschaft mit ihrem zentralen Motor, dem Glauben an sozialen Aufstieg durch Leistung und Digitalisierung, paradoxerweise weiter beschleunigen.

Spengler sieht eine mechanische Welt am Werk, die einem großen Uhrwerk gleicht. Nur Logik, Rationalität, Mathematik und Naturwissenschaften – Basisbausteine neuer Technologien – bestimmen für ihn die Richtung, in die hinein sich die Leistungsgesellschaft weiterentwickelt – um immer mehr Verlierer zu erzeugen. Auch die Experten und Akademiker, die mit ihren Ideen die Entwicklung vorantragen, die scheinbaren Gewinner, haben dann doch unter den Folgen ihrer Ideen zu leiden, der Zerstörung der Natur, die Folgen des Klimawandels. Die wahren Verlierer, die unteren und mittleren Schichten, jene, die den Aufstieg nicht schafften, sie finden sich in einer blockierten Situation wieder, steckengeblieben, abgehängt, was als Demütigung empfunden wird, Futter des populistischen Aufstandes.9 Deshalb ist die Gegenwart aufgefordert, gerade auch in Verantwortung für kommende Generationen, eine – wie es der Club of Rome vorschlägt – sich im Gleichgewicht befindende Zukunftsgesellschaft zu entwickeln, die das Gemeinwohl auch unter Mitbeachtung der Pflanzen und Tiere in den Mittelpunkt stellt. Dazu gehört auch, die tieferen ökologischen Ursachen der Ausbreitung von Viren zu erforschen. Angesichts der immer lauernden Pandemiedrohungen, des Klimawandels, des Artensterbens, des Ressourcenverbrauchs, aber auch mit Blick auf die Forderungen der Fridays-for-Future-Bewegung ist diese Hinwendung zum Gemeinwohl absolut angesagt.

 

Dazu passt auch, was Papst Franziskus im November 2020 initiiert hat: Auf einer Digitalkonferenz zum Thema The Economy of Francesco, an der mehr als 2000 junge Menschen aus 120 Ländern und auch international bekannte Wirtschaftsexperten teilnahmen, ging es darum, Ideen für eine „alternative“ Wirtschaft zu finden und zu diskutieren, „die Leben schafft und nicht tötet, die inklusiv und nicht exklusiv ist, (…) die sich um das Erschaffene kümmert und es nicht ausplündert.“10

Eine zeitgemäße Sache, könnte man meinen – die Konferenz blieb allerdings im unterschwelligen Forderungsbereich stecken, ein ökologischer Maßstab wurde nicht erkennbar: Bei allem Engagement kamen die präsentierten Ideen nicht über Appelle hinaus, es blieb die vage Hoffnung, den Startschuss für eine globale Bewegung gegeben zu haben, „die sich für eine gerechtere, nachhaltige Wirtschaftsordnung einsetzt“ – eine Forderung, die schon um 1980 nicht mehr neu war.

Auch Klaus Schwab, Gründer und Vorsitzender des World Economic Forum, meinte sich wohl an der aktuell auflebenden Suche nach Wegen in die Zukunft, angetrieben auch durch die Corona-Pandemie, beteiligen zu müssen – mit einem an sich sehr zeitgemäßen und anspruchsvollen Versuch: Durch einen sogenannten „Great Reset“11 soll die Zukunft erreichbar werden. Hier ebenso wie bei Papst Franziskus zeigt sich eine zwar starke Gegenwartsanalyse, aber, daran gemessen, handelt es sich im Kern doch eher um systemkonforme und konventionelle Lösungsansätze, immer deklariert als ein Neubeginn. So wird etwa, als Beispiel, nicht erkennbar, wie ein „Reset“ im Verhältnis von Gesundheit und Gesellschaft aussehen könnte, obwohl gerade dieses unter den Corona-Anforderungen unter Stress geraten ist. Kein Hinweis auch auf eine neue Erzählung darüber, wie die gegenwärtige Menschheitssituation unter dem Druck der Pandemie als Lernprozess für die Zukunft zu nutzen sei. Kein Wort darüber, warum der Umgang mit dem Virus zeitgeschichtlich als Potenzial gesehen werden könnte, um daraus für die Zukunft zu schöpfen.

Hier nun, in den vorliegenden Untersuchungen, werden grundlegendere Fragen aufgeworfen. Es soll gezeigt werden, dass eine Zukunftsgesellschaft längst unterwegs ist, die das Gemeinwohl unter Mitbeachtung aller Lebewesen in den Mittelpunkt stellt.

Wenn heute, was üblich ist, die Zukunftserwartung von der Digitalisierung bestimmt wird, so wäre dies eine Perspektive, die Spengler wohl teilen würde, mit der aber Gemeinwohl nicht einlösbar ist. Denn er geht davon aus, dass Zukunft nicht aus einer zu Ende gehenden Kultur ableitbar ist, „in der schöpferische Elemente, die Bildkraft, die Symbolik erloschen ist.“ Leben wir doch in einer Welt „der leeren Formeln, zwischen Gerippen von toten Systemen, in einer systemgewordenen Naturerkenntnis“, die wir, obwohl „sinnlos und wertlos, doch mechanisch beibehalten, aber verachten und als wertlos empfinden.“12

Erkennbar liefert Oswald Spengler, an Goethe geschult, mit seinem geschichtsanalytischen Blick einen kulturpessimistischen Befund dort, wo Goethe zwischen einer Orientierung am Werdenden, also am Lebendigen, und einer Orientierung am Gewordenen, also an der Mechanik, am Toten unterscheidet.3 Denn, so Spengler, „Zahlen, Formeln, Gesetze sind nichts“, „eine Zahl an sich gibt es nicht und kann es nicht geben.“ Heute, im digitalen Zeitalter, wäre die Orientierung an Algorithmen hinzuzufügen, aber es fehlt „die Angebundenheit an das Lebendige, an das lebende Menschentum.“13 „Die eigentliche Tendenz aller Mechanik geht auf eine geistige Besitzergreifung durch Messung zurück“, so Spengler, was, würde es heute formuliert, der Auflösung der Natur und des Lebendigen durch gemessene Daten – gleichsam einer „Zweiten Wirklichkeit“ – entspricht und als modern gilt, mithin Credo der mathematischen Naturwissenschaften ist, aus der permanent Maschinen hervorgehen, die uns zwingen, uns an deren Regeln anzupassen.

Um 1920 war die Zeit nicht reif, das damals wie heute herrschende naturwissenschaftlich-materialistische Bild von Mensch und Welt zu erweitern. Eindeutig war die Zyklentheorie von Spengler das zentrale akademische Diskursthema der Zeit nach 1920 in Heidelberg. Hinzu kommt damals Alfred Weber. Er und Oswald Spengler waren die zentralen Heidelberger Gesellschaftsanalytiker. Sie vor allem entwarfen das Bild einer kulturpessimistisch gegründeten Zivilisation, die allein nach mathematisch-mechanischen Gesetzmäßigkeiten funktioniere – was heute in den Algorithmen der Digital-Welt seine Steigerung findet. Die gegenwärtig formulierbare Warnung vor einem „Algorithmenfaschismus“14 entspricht konsequent der frühen Vorhersage von Spengler und Weber, wenn sie von einer untergehenden Mechanik-Gesellschaft sprachen. Heute, mit Blick auf die „Tyrannei der Leistungsgesellschaft“15, wird dies von der Digitalisierung, nunmehr technologisch hochgerüstet, weiter vorangetrieben.

Wenn Spengler davon ausgeht, dass immer wieder neue Kulturen entstehen, eine Blütezeit erleben, sich durch eine Phase des Verfalls vollenden und untergehen, dann sagt er damit nichts darüber, was diese Entwicklungen antreibt, auch nichts darüber, dass es eine durch Menschen vorangetriebene nächste, höhere Kulturstufe geben wird. Den grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Leben und daraus erwachsender weiterer Entwicklung kennt er nicht. „Die Idee eines Entwicklungsziels der Menschheit verwarf er immer wieder mit Nachdruck“, so Peter Selg. Der Begriff „Menschheit“ war für Spengler ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort.

Naheliegend: er vertritt eine biologistische Betrachtungsweise, die abgrundtief zu wenig leistet. Spengler bekommt nicht in den Blick, was er bei Goethe, dem er doch so zugetan war, hätte finden können: Wissen und Erleben miteinander in Einklang zu bringen, mit beiden so umzugehen, dass eine Steigerung, etwas Neues und Wertvolleres entstehen kann. Oswald Spengler ist mit seinem starren Ansatz weit davon entfernt, überhaupt die Dimension des Lebendigen in den Blick zu bekommen. Er hat Goethe nicht verstanden. Die Steigerung bei Spengler liegt darin, dass er sein mechanisches Verständnis von Entwicklung auf die Gesellschaft überträgt, deshalb muss diese notwendigerweise untergehen, weil kein Raum für Kreativität und Lebendigkeit gegeben ist.

Eine verpasste Chance! Stattdessen unterstellt Spengler, um seine These vom Untergang des Abendlandes zu begründen, dass der geschichtliche Verlauf der weiteren menschlichen Zivilisation stets nach starren Gesetzen der Mechanik und der Mathematik ablaufen werde, also zwangsförmigen Charakter habe. Damit versäumt er, was Goethe folgend möglich gewesen wäre, nämlich gesellschaftliche Entwicklung an den Gesetzen des Lebendigen auszurichten. Indem Spengler wohl nicht nur aus methodischen Gründen glaubte, die von Menschen getragene Entwicklung „flach“ halten zu müssen und indem er das der Pflanzenwelt zugrundeliegende Wandlungsprinzip ignoriert, unterwirft er seine weltgeschichtlichen Entwicklungen einem Automatismus, einer Mechanik gleich, die aufgrund ihrer mathematischen Grundlagen nur logisch gebauten Gesetzen folgen kann. Spengler muss aufgrund seines Vorgehens den Menschen, sein Denken, Fühlen und Wollen, mithin den Menschen als handelnden Akteur ignorieren, was dem damaligen mechanistischen Menschenbild entspricht. Heute leitet das in die Haltung über, den „Menschen als Maschine“ zu betrachten, um ihn so programmieren zu können.

In der vorliegenden Untersuchung geht es aber nun um eine Überwindung einer die Gegenwart zutiefst bestimmenden, kulturpessimistisch geprägten Zukunftserwartung. Es wird versucht, der heute von den Eliten fehlgelenkten Leistungsgesellschaft ein Bild von Gesellschaft gegenüberzustellen, das an humanen, sozialen und auch an spirituellen Kriterien ausgerichtet ist.

Eine weitere Hauptthese der geschichtsphilosophischen Sicht Spenglers ist die Annahme, unsere Zeit sei unfähig, kreativ zu wirken. Was nur deshalb als richtig unterstellt werden kann, weil im mechanistisch gestimmten Prüfschema nur messbare Paradigmen gefunden werden können. Für Ideen, die ihre Substanz jenseits dieses Rasters entfalten – etwa die Heileurhythmie oder die biodynamische Landwirtschaft – ist in dieser Betrachtungsweise kein Platz.

Womit angedeutet wird, warum die Gegenwart von einer bodenlosen geistigen Orientierungslosigkeit gekennzeichnet ist, die der jungen Generation nur die seelenlose Digitalwelt als Zukunftsversprechen anzubieten weiß – was eine Jahrhundertfalle ist, worüber hier aufzuklären versucht wird. Wohl auch deshalb lässt die kulturpessimistisch geprägte Gegenwart erkennbar keine Funken sprühen, die über die technikverliebte Zeit von 1921 bis 2021 und darüber hinaus fliegen würden. Aus „Künstlicher Intelligenz“ und E-Autos – Speerspitzen der Digitalwelt und angesagte Triebfedern zur Weiterentwicklung der Leistungsgesellschaft – wird sich die Geburt einer neuen und vor allem nachhaltigen Zukunftsgesellschaft kaum ableiten lassen. Und zwar notwendig nicht, weil übersehen wird, dass die digital beschleunigte Leistungsgesellschaft permanent „Kinder“ gebären muss, die sie auffressen und zerreißen – die Energiekrise und das Wachwerden der Verlierer dieser Entwicklung sind Beispiele dafür.

Könnte es sein, dass sich dies auch deshalb ändern muss, weil die gegenwärtige Corona-Pandemie dazu zwingt, über das gesellschaftliche Zusammenleben neu nachzudenken?

Wer sich der vermeintlichen Aufbruchszeit der 1920er Jahre aus der Perspektive unserer Zeit, 2021, nähert, dem fällt auf, dass bereits damals, ähnlich wie vor 500 Jahren in der Renaissance, geistige „Samenkörner“ in die Welt gesetzt wurden, die die Zeit bis heute wachsend überstanden haben. Sie versprechen, größer werdend, auf dem Weg nach 2121 wiederum ein ganz neues Großkapitel der menschlichen Geistesgeschichte zu schreiben. Dem würde Spengler wohl nicht widersprechen – einerseits. Dass aber diese Fortschreibung der Geistesgeschichte dann andererseits auf den Menschen als Träger des Geistes (heute können wir sagen, auf den Bürger und die Bürgerin als Träger der Zivilgesellschaft) abhebt, damit könnte er wohl nichts anfangen.

Zunächst also soll hier versucht werden, aus dem „Strom der Zeit“ von 1921 bis in die Gegenwart bestimmte „Strömungsthemen“ herauszufiltern. Es sind Themen, die ihre Zukunftstauglichkeit dadurch zu erkennen geben, dass sie auf dem Wege in die Gegenwart gezeigt haben, ein Wandlungspotenzial in sich zu haben, um vielleicht auch das Zeitfeld bis 2121 gestalten zu können (was nicht ausschließt, dass ihnen dann doch auf diesem Wege „die Puste“ ausgeht).

Versucht soll werden, Kontinuitätslinien aus der Zeit von 1921 bis 2021 als geschichtswirksame Trends zu identifizieren. Themen also, die versprechen, eine Jahrhundert-Kraft zu haben, geeignet, die Zeit bis 2121 zu prägen, zu formen, gar zu bestimmen. Gesucht werden also geistige Potenziale, von denen, so sie gefunden werden, erwartbar ist, dass sie nicht stecken bleiben. Neben den Ideen zum Umgang mit dem Atommüll, der Energiekrise und den Folgen der Digitalisierung gilt es auch und besonders nichttechnische Impulse und Ideen zu suchen, die Grundlage einer Zukunftsgesellschaft werden könnten – wobei insbesondere Hermann Hesse und Rudolf Steiner in den Blick kommen werden.

Erkennbar ist etwas, was Spengler aber wohl noch nicht gesehen und nicht gemeint haben kann: dass technische Visionen aufsteigen, blühen und verschwinden, dass sie kaum Nachhaltigkeit entfalten können, weil sie allein davon geprägt sind, dem kapitalistischen Grundtrieb einer Wachstumsgesellschaft weiter Futter zu geben. Moralische, gar spirituelle Ansprüche, Auflagen, Forderungen an technologische Machbarkeitsvisionen – etwa in der Gentechnik, der Atomtechnik, der Künstlichen Intelligenz – haben ihre einstmals starke Kraft der Ausstrahlung und der bestimmenden Beeinflussung technischer Ideen weitgehend verloren, zumindest eingebüßt. Der heutige Ruf nach „sozialverträglicher Technikgestaltung“ ist Folge davon, dass „kapitalistische Technikentwicklung“ zum Motor der Leitungsgesellschaft gehört und damit in erster Linie nicht demokratischen Zielen dienen kann.

 

Welche Themen nun könnten geeignet sein, vom „Jahrhundert-Blick“ wahrgenommen zu werden? Themen haben Chancen hier als „Strömungsthemen“ aufgenommen zu werden, wenn von ihnen erkennbar gesellschaftsverändernde Wirkungen ausgehen. Umgekehrt geht es hier weniger um „Nebenthemen“ oder zielgruppengebundene „Aufregerthemen“, die durchaus hohe emotionale Bedeutung bekommen können. Sie können wohl auch „durchgängig“ sein wie das Thema Rassismus, die Themen Unrecht/Gerechtigkeit, Ausbeutung, Hunger/Armut/Reichtum – all dies kann durchaus Signatur des Wandels sein, aber richtungslos bleiben.

Auch altmoderne Themen – etwa die katholische Kirche, einstmals eine mächtige Gesellschaftsgestalterin – kommen in diesem Jahrhundert-Blick nicht mehr vor. Der Jahrhundert-Blick möchte der allgemeinen Orientierungslosigkeit und der scheinbaren Zukunftsleere eine inhaltlich unterfütternde Perspektive geben, also in Anspruch nehmen, dass das Bild von einem „Wiederaufstieg des Abendlandes“ mit Substanz füllbar ist – wenn sich die Perspektive des Blickes dreht, wenn, wie hier, aus der Perspektive des Jahres 2121 in die Gegenwart des Jahres 2021 geschaut wird.

So wird hier gleichzeitig versucht, dem Gedanken von einem „Doppelstrom der Zeit“ (Rudolf Steiner) zu folgen, also den Blick von der Vergangenheit des Jahres 1921 in die Gegenwart und dann aus der Zukunft des Jahres 2121 in die Gegenwart von 2021 zu lenken.

Der Weg in die Zukunft ist durchaus schon vorgezeichnet, er entspringt nicht aus dem Nichts, er hat eine lange, mindestens eine schon hundertjährige Vorgeschichte. Die Themen, die unterwegs sind, haben nur dann Chancen, die Zukunft zu gestalten, wenn der Mensch als Akteur die Gestaltung dieser Zukunft aktiv betreibt – ein Anspruch, den Spengler so wohl nicht teilen kann, kommt doch der Mensch als handelndes Subjekt bei ihm überhaupt nicht vor.

Birgt also, so soll gefragt werden, die Vergangenheit der letzten 100 Jahre ein Ideengut, dass, entfaltet und menschengemäß gestaltet, (mindestens) die folgenden 100 Jahre prägen kann? Gesucht wird eine am Lebendigen orientierte, nicht vorrangig technisch bestimmte Vision, die eine Gesellschaft hervorbringen könnte, in der die Natur und der menschliche Umgang mit der Natur eine lebendige Verpflichtung ist – um damit eine Alternative zur „Tyrannei der Leistungsgesellschaft“ zumindest formulierbar zu machen.

Das schließt wohl ein – dies lehrt das Jahr 2020 –, dass auch die Sesshaftigkeit von Viren und unser Verhältnis zu Tieren dabei mit bedacht werden muss. Eine Fragestellung, die in der Mechanik eines „Unterganges des Abendlandes“ methodisch keinen Platz hat, aber die Chance öffnet, eine „lobbare Zukunft“ mindestens durch Anknüpfung an ökologische, humane und demokratische Ideen mit zukunftstauglichen Inhalten füllen zu können.

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