Kitabı oku: «Bananenangst», sayfa 4
„Das wird sich bestimmt legen“, beschwichtigte Arielle mit Engelsstimme.
„Die Hoffnung habe ich aufgegeben. Jedenfalls habe ich Hunger und werde alles essen.“
„Sehr schön. Und Sie, Frau Samt?“
„Mir geht’s gut. Ich werde alles essen.“ Wieder zwang sich Penelope zu einem Lächeln, sah aber tieftraurig aus.
„Möchten Sie noch etwas hinzufügen?“
Sie schüttelte den Kopf und sah hinab auf ihren Teller, zwei kleine Packungen Butter fixierend. I know your struggle!
„Herr Herbst?“
„Meine Nacht war wieder etwas schwierig wegen der Magenschmerzen. Aber heute Morgen geht es schon wieder. Ich habe Hunger und freue mich auf mein Frühstück.“
„Und Sie essen …?“
„Ich esse alles, wie immer.“
„Sehr schön. Und wie geht es Ihnen, Frau Schweighart?“
Wie ehrlich sollte ich sein? Die Nacht war die Hölle gewesen und ich könnte Berge essen. Aber nichts von dem, was auf dem Tisch stand: Butter, Marmelade, Käse. Gut, einen Apfel habe ich auch bekommen. Aber der war winzig. Mehr Kirsche als Apfel. Niemals würde er mich satt machen.
„Die erste Nacht war … okay.“ Ich lächelte sie an und nickte, um zu zeigen, dass ich nichts mehr sagen wollte. Ihre grünen Augen durchdrangen mich jedoch.
„Wie ist Ihr Hungergefühl?“
„Vorhanden.“
Sie starrte mich an. Ich starrte zurück und senkte schließlich den Blick.
„Gut, dann fangen wir an. Guten Appetit.“ Arielle sagte die Uhrzeit an und Lisa, mir gegenüber, schnappte sich ihr Brötchen, halbierte es, strich dick und fett Butter drauf und verschlang die eine Hälfte noch bevor ich überhaupt das Messer in die Hand genommen hatte. Ihr gegenüberzusitzen verunsicherte mich noch mehr, als es die glänzende Butter tat, die ich vorbildlich auf meinen Teller gelegt hatte. Jeder Esspatient hatte seinen eigenen Ernährungsplan, den er einhalten sollten. Weil ich ganz neu war, hatte ich noch keinen Durchblick. Mein Plan stand noch nicht zu 100 Prozent. Generell galt aber, dass ich so viel essen sollte, wie ich konnte. Salat, Gemüse und Obst natürlich ausgeschlossen. Pascal half mir, meine Ration, die wohl eine vollwertige und „normale“ Mahlzeit war, vor meinem Teller in Stellung zu bringen: Ein Vollkornbrötchen, ein Vollkornbrot, zwei 10 Gramm Packungen Butter, eine Scheibe Käse, eine 20 Gramm Packung Magerquark. Eine kleine Packung Marmelade. Einen Apfel. Magerquark und Apfel waren meine Freunde, das würde ich vielleicht schaffen, aber der Rest?
„Wie alt sind Sie denn, Frau Schweighart?“, fragte mich Arielle. Smalltalk. Okay. Alles cool. Ein ganz normales Frühstück und ich würde ganz normal essen. Kein Problem.
„23“, antwortete ich und nahm das Vollkornbrötchen in die Hand. Es sah eigentlich ganz gut aus. Dunkelbraun mit ausreichend Körnern auf der Oberfläche. Aber wieso hatte mir Pascal Brötchen UND Brot hingelegt? Musste ich wirklich so viel essen? Pascal hatte auch Brötchen und Brot. Lisa und Penelope jeweils nur ein Brötchen. Warum musste ich mehr essen als die anderen? So verfressen war ich nicht.
Wollte ich nicht sein.
„Und was machen Sie beruflich?“
„Ich bin Studentin. Soziologie.“
Penelope lachte. „Da hörst du bestimmt oft die Frage: ‚Was kann man denn damit machen?‘“
„Oh ja.“
„Mit sowas kann man ja auch nichts machen“, schmatzte Lisa. An ihrem Mundwinkel hingen Brotkrümel und Butter. Sie aß mit offenem Mund. Ich konnte sehen, wie sich Butter, Käse und Brot in ihrem Mund vermengten. Mir wurde schlecht.
„Als Geisteswissenschaftler hat man viele berufliche Chancen“, rettete mich Arielle. „Zwar gibt es nicht den einen Beruf, den man nach Abschluss des Studiums ausführen kann, aber man ist für viele Bereiche qualifiziert.“
„Das stimmt“, meinte Pascal. Er saß stocksteif auf seinem Stuhl, aß sehr langsam, kaufte oft. „Dir stehen alle Türen offen, da bin ich sicher.“ Er zwinkerte mir zu und sah auf das Brötchen in meiner Hand. Mir wurde heiß. Schon sechs Minuten der Frühstückszeit verbraten. Kurzerhand schnitt ich es durch und fühlte mich wie eine Gewinnerin. Gleichzeitig kam das schlechte Gewissen. Es war Donnerstag. Bei uns zu Hause hatte es unter der Woche nie frische Brötchen gegeben. Sowieso sehr selten. Wenn, dann nur samstags. Frische Brötchen waren teuer, eine Ausnahme. Ein Luxus. Mein Frühstück bestand stehts aus Müsli. Beziehungsweise aus einem großen Apfel mit viel Milch und Zimt und ein klein wenig Haferflocken. Das Brötchen sah auch von innen gut aus. Nicht wie die meisten Brötchen, die sich zwar Vollkorn nannten, aber innen weiß wie Kreide waren und die Körner nur von außen dran gedrückt wurden. Nein, auch im Teig verteilt waren viele Körner. Es duftete himmlisch. Mein Magen knurrte laut und schmerzhaft. Pascals Worte von gestern schwirrten mir im Kopf umher. Je früher ich die volle Portion essen würde, umso leichter würde mir die ganze Therapie fallen. Und ich wollte gesund werden.
Außerdem sollte mich Arielle nicht für eine verzogene Göre halten. Ich würde es schaffen. Ich konnte es schaffen. Aber was sollte ich zuerst essen? Quark? Eigentlich liebte ich Marmelade. Früher mal. Auch Käse habe ich geliebt. Dann zwei Jahre lang nicht gegessen und mich vor fünf Monaten langsam wieder an Lightprodukte herangewagt. Ich trank einen großen Schluck Tee und genoss, wie die warme Flüssigkeit meine Speiseröhre hinunterlief. Mein Magen wurde warm, der Schmerz ließ etwas nach. Penelope und Arielle unterhielten sich über den öffentlichen Nahverkehr und ich schnappte mir mein Messer, eine Packung Butter und verteilte alles auf der Unterseite meines Vollkornbrötchens. Okay. So weit, so gut. Und jetzt? Was drauf? Käse, Quark oder Marmelade? Mein Körper schrie nach Käse, aber diese Scheibe hatte bestimmt 100 Kalorien, wenn nicht mehr. Quark würde satt machen. Für die gleiche Kalorienanzahl könnte ich eine größere Menge essen. Das waren die Gedanken, die mich die letzten Jahre immerzu begleitet hatten. So hatte ich abgenommen. Innerhalb von wenigen Tagen würde ich diese Rituale und Grundsätze auch nicht abschütteln können, so viel war klar.
„Selbst fahre ich auch lieber mit der Bahn als mit dem Auto“, sagte Arielle, während ich mit zitternden Händen die Quarkpackung öffnete und den Inhalt auf die fette Butter auftrug. Arielle hatte schon ein halbes Brötchen gegessen und biss nun beherzt in die zweite Hälfte. Vollfett-Frischkäse mit Kirschmarmelade. War das ihre Lieblingsmarmelade? Schmeckte es ihr?
„Aber diese Unzuverlässigkeit“, sagte Pascal.
Ich schloss die Augen und biss ab. Einfach so. Die Kruste des Brötchens war knusprig, doch nicht zu hart. Verbrannte Brötchen konnte ich nicht ausstehen. Dieses Brötchen aber war perfekt. Dazu der säuerliche Geschmack des frischen Quarks und – was war das? Durch irgendetwas schmeckte der Quark noch intensiver, noch besser. Butter. Oh nein. Sie schmeckte. Das durfte nicht sein. Sie sollte nicht schmecken. Nein, sie schmeckte auch nicht. Bei Butter musste ich immer an meinen Opa denken, der sie stets zentimeterdick auf das Weißbrot gestrichen und gegessen hatte. Mit Zucker drauf. Abstoßend. Der zweite Biss schmeckte wieder. Nicht. Doch. Nein. Mein Kopfkarussell machte mich ganz benommen. Aber ich aß weiter. Wollte mich gesund essen. Wollte nicht mehr leiden und endlich satt sein.
Lisa hatte schon längst all ihr Essen verputzt und sogar den Teller abgeschleckt. Getrunken hatte sie nichts dazu. Jetzt saß sie wieder da und starrte mich durch ihre schiefe Brille an. Der Zwang, ihr die Brille geradezurücken, plagte mich und ich erinnerte mich an eine dieser Fragen, die wir Psychos bei den Formularen immer ausfüllen mussten: „Wie sehr würde es Sie irritieren, wenn jemand Ihre Wohnung umstellen würde?“ Ganz ehrlich, was war das für ‘ne Frage? Jeder „normale“ Mensch wäre irritiert, wenn man heimkommen würde und plötzlich würde das Bett in der Küche stehen.
Pascal erzählte von seinen zwei Töchtern, die eine studierte Germanistik und Englisch auf Lehramt, die zweite machte ein Au-pair in Frankreich. Die Studentin hatte vor Kurzem ein Baby bekommen, wollte das Studium aber weiterführen. Sein Enkel war zu früh gekommen, aber mittlerweile bei Kräften. Pascal schien ganz vernarrt in seinen Enkel zu sein. Seine Augen funkelten, während er redete. Die fröhliche Erzählung lenkte mich ab und plötzlich war mein halbes Brötchen weg. Hatte ich es gegessen? Ich spürte nichts. Keine Sättigung. Nicht einmal annähernd. Weil ich nicht wieder so eine Horrornacht durchmachen wollte, griff ich die andere Hälfte, strich die restliche Butter drauf, legte Käse hinzu und biss ab. Oh Gott! Das musste der Himmel sein.
„Die Zeit ist vorbei“, sagte Arielle, als ich gerade Gefallen an meinem Butterbrötchen gefunden hatte. Perplex sah ich sie an. Was hieß das jetzt? Mein Hunger war lange nicht gestillt.
„Es tut mir leid, Frau Schweighart. Sie haben Ihre Portion nicht geschafft.“
„Aber ich bin ja gar nicht fertig.“
„Wie lange willst du noch deine Mini-Bissen zehntausendmal kauen?“, mischte sich Lisa ein. „Niemand hat Zeit für sowas!“
„Frau Holz, seien Sie still!“
„Ja ist doch wahr! Ich habe Besseres zu tun, als-“
„Schluss, aus!“ Arielle sprach sehr leise, aber unerschütterlich. Ihre Autorität brachte Lisa zum Schweigen. Mein Brötchen durfte ich trotzdem nicht weiteressen. Obwohl ich noch Hunger hatte. Was war das für eine Logik? Wie sollte ich da zunehmen?
Nach dem Frühstück hatte ich kurz Zeit, mein Ernährungsprotokoll auszufüllen, bevor ich zur Kunsttherapie musste. Pascal nahm mich mit in sein Zimmer und erklärte mir, wie ich das tun sollte. Es gab mehrere Spalten. Einmal sollte ich objektiv eintragen, was ich gegessen und getrunken hatte. Dann, wie ich mich davor und danach gefühlt hatte.
„Vor dem Essen kannst du schreiben, dass du Hunger hattest. Dich auf das Essen gefreut oder Angst davor hattest“, berichtete er mir und zeigte mir eines seiner Protokolle. „Dann trägst du ein, was du geschafft hast. Also nicht, was die volle Portion gewesen wäre, sondern was reell in deinem Magen gelandet ist.“ Diese Spalten auszufüllen, nervte mich und ich fragte mich, ob das wirklich so sinnvoll war, sich dermaßen intensiv mit dem Essen zu beschäftigen. Klar, wir sollten den Bezug zum Essen wieder lernen. Normales Essen und so. Bla bla. Aber ich hatte den Bezug nie verloren. Er war nur unter einem selbstverachtenden Blickwinkel verschroben. Was gesundes Essen war, wusste ich definitiv. Da war ich sicher und dachte nicht, dass ich noch viel in dieser Hinsicht lernen konnte. „In die Spalte trägst du ein, wie du dich während des Essens gefühlt hast. Gehetzt, entspannt, was dich gestört hat. Du kannst all deine Gedanken eintragen.“
„Auch, dass Lisa-?“ Bevor ich etwas sagen konnte, was ich später bereuen würde, schwieg ich. Pascal war nett, aber ich war mir nicht sicher, ob ich ihm vertrauen konnte. Im Grunde konnte man keiner anderen Person bedingungslos vertrauen. Was, wenn er jemand anderem sagen würde, dass ich Lisa nicht mochte? Dann würde ich ausgegrenzt und wieder ein Mobbingopfer sein. Niemand würde mich mögen. Wie früher. Wie immer.
„Dass Lisa dich ständig angiftet, ist unmöglich!“, sagte der zarte Pascal und stemmte seine abgemagerten Hände auf seine spitzen Hüftknochen. „Du kannst ruhig schreiben, dass du dich unwohl und angegriffen gefühlt hast. Namentlich musst du sie nicht nennen. Die Pfleger wissen ohnehin alle Bescheid. Du würdest staunen, wie reibungslos die Übergabe verläuft. Wenn du einem Pfleger ein Leid klagst, weiß es wenige Minuten später das ganze Team.“
Dieser Gedanke ließ mich erschaudern. Über meinen verständnislosen Gesichtsausdruck lachte Pascal und griff erneut meine Schultern. Er war wohl ein sehr berührungsfreudiger Mensch. „Schau nicht so, Liebes. Die Pflege ist wirklich großartig. Du wirst dich hier schnell wohlfühlen. Du musst nur mehr essen.“
Noch immer klangen diese Worte in meinem Ohr falsch. Schließlich hatte man mir die ersten 20 Jahre meines Lebens eingetrichtert, weniger zu essen. Wie sollte ich je ein Mittelmaß finden?
***
Das Klingeln der Schulglocke macht mich nervös. Pausen kann ich nicht leiden. In den Pausen stellen die Jungs immer irgendwas an, finden neue Wege, mir wehzutun. Vor mir sitzen Tammy und Nicole. Ich sitze ganz allein an einem Tisch. Das ist schon okay. Wir sind eine ungerade Anzahl an Mädchen und kein Junge will sich neben eine adipöse 14-Jährige setzen. Bei Nicole und Tammy sieht das anders aus. Sie schminken sich schon länger und tragen einen BH. Die Jungs wuscheln ihnen durch die Haare und ziehen am Unterbrustband ihrer BHs. So zeigen sie ihr Interesse. Habe ich mal in einer Zeitschrift gelesen. Tammy und Nicole haben aber schon Freunde aus höheren Jahrgangsstufen. Meine Freundinnen sind so cool und erwachsen! Bewundernswert.
In der Pause reden und lachen sie laut. Ab und zu dreht sich Nicole zu mir um, aber selten. Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie ich unter der Ausgrenzung leide. Mein Blick ist starr auf das Mathebuch gerichtet. Schließlich beginnt die nächste Stunde gleich. Ich muss mich vorbereiten.
„Ey, was hast du denn in der Fresse, Fetti?“ Viks Stimme ruft durch das Klassenzimmer. Er meint mich. Ein paar Schüler starren mich an. Den anderen ist der Umgang von ihm mit mir schon zu bekannt, um Aufmerksamkeit zu erregen. Intuitiv ziehe ich den Kopf ein. Warum kann er mich nicht in Ruhe lassen?
„Was soll das?“ Lachend stellt er sich neben mich und pikst mir in den Bauch. „Hab dich was gefragt, Wabbel-Schweinchen!“
Mein Kopf ist heiß, er ist bestimmt ganz rot. Wie peinlich. Heute ist der erste Tag, an dem ich mich auch geschminkt habe. Ich versuche, Viks Hand wegzudrücken, aber er pikst nur noch energischer in mein Bauchfett.
„Is das Schminke?“
Ein paar andere Jungs umringen meinen Tisch. Tammy und Nicole beachteten mich nicht. Ihre Köpfe sind nach vorn gedreht.
„Versuchst etwa, weniger hässlich zu sein, du fette Sau? Hm?“ Die Jungs und ein paar Mädels lachen. „Gibs auf, da is Hopfen und Malz verloren. Wer so fett is, wird nie einen abkriegen. Du widerwärtiges Stück Scheiße.“ Mit zitternden Händen versuche ich, meinen Bauch abzuschirmen, aber die anderen Jungen piksen ihn nun auch.
„Lasst mich.“
„Haha, Fetti will das nicht. Sollte sich aber geehrt fühlen, dass sich überhaupt ein Junge mit ihr beschäftigt“, lacht Vik. „Wisch dir die Scheiße aus dem Gesicht, is ja lächerlich. Was willst denn damit bezwecken, hm?“ Jetzt pikst er in meine Brust und ich weiß nicht, wo ich meine Hände hinlegen soll, um meinen Körper zu schützen. So viele Finger. „Hab dich was gefragt, sexy Scar! Haha, sexy Scar! Das is von jetzt an dein Name!“
Alle Jungs lachen. Nicole dreht sich kurz um, sagt aber nichts, bevor sie sich wieder nach vorn richtet und mit Tammy flüstert. Warum hilft mir niemand?
„Sexy Scar, sexy Scar, sexy Scar!”, singen die Jungs unisono.
“Stell dir vor, du schaust ‘nen Porno und sexy Scar ist dabei“, ruft einer.
„Da fällt der Schwanz glatt ab“, antwortet Vik und alle lachen und machen weitere Witze. Ihre Hände sind überall. Ich brauche meine ganze Kraft, um nicht zu weinen, da ertönt endlich die Schulglocke und die nächste Unterrichtsstunde beginnt. So richtig konzentrieren kann ich mich aber nicht.
Bin ich überhaupt eine Frau? Ein richtiges Mädchen? Wo ist meine Weiblichkeit, wenn ich ein fettes Stück Scheiße bin? Bin ich überhaupt ein Mensch? Wert, dass man mich mit einem richtigen Namen anredet?
Als ich daheim ankomme, versuche ich, meine Tränen zu unterdrücken und rufe laut nach meiner Mutter. Eine herzhafte Umarmung, das brauche ich jetzt. Aber niemand gibt mir Antwort. Da fällt mir ein, dass sie ab heute wieder Mittagsschicht hat und ich sie an diesem Tag gar nicht sehen werde. Seit drei Wochen sind Papa und Robin ausgezogen. Die Stille in der großen Wohnung ist nach wie vor fremd und erdrückend. Schlagartig fühle ich mich in meinem Körper so unwohl, dass ich beginne, an meinen Unterarmen zu kratzen. Meine Fingernägel sind lang, der Schmerz tut überraschend gut. Er ist befreiend.
Langsam tapse ich in die Küche. Mama hat mir mein Mittagessen auf den Tisch gestellt. Einen Teller mit Kohlrabisticks, einer halben Salatgurke und einer Scheibe Knäckebrot. Dazu ein Zettel: „Vielleicht solltest du dich von jetzt an ein bisschen gesünder ernähren.“
Durch einen Tränenschleier starre ich auf meine blutigen Fingernägel und überlege, ob ich Robin anrufen soll. Aber ich will ihn nicht stören. Nicht belästigen mit den unwichtigen Problemen von „Sexy Scar.“ Aus dem Süßigkeitenschrank hole ich mir eine Tafel Schokolade und will gerade abbeißen, da höre ich wieder Papas Worte beim letzten Streit in meinem Kopf. Bisher habe ich mir eingeredet, dass ich mich verhört habe. Dass sie sich nicht wegen mir getrennt haben. Aber dieser Zettel. Mama glaubt also auch, was Papa gesagt hat? Sie gibt mir auch die Schuld? Mit einem Mal ist mein Selbsthass so groß, dass ich nicht weiß, wohin mit mir. Ich ertrage es nicht mehr, in meinem Körper zu sein, hole eine Schere und ziehe blutige Muster in meinen Bauch. Niemand soll meine Wunden sehen. Meine Narben wollen keine Aufmerksamkeit. Sie sind dazu da, dass ich überlebe.
Wie im Rausch ritze ich tiefer, länger, öfter. Irgendwann ist es vorbei. Überall Blut. Ich kauere in einer Ecke der Küche, auf dem kalten Fliesenboden. Die Uhr tickt verhängnisvoll. Ansonsten ist es still. Totenstill. Ich bin tot.
Wäre ich doch nur tot! Dann wären Mama und Papa noch zusammen. Sie hätten sich nicht immer gestritten, sich nicht scheiden lassen. Auch Robin würde es besser gehen. Er hätte nicht seine Freunde zurücklassen und ans Ende der Welt ziehen müssen. Was kann ich tun? Wie kann ich meine endlose Schuld wiedergutmachen? Wie Mama und Papa versöhnen?
Mein Fett ist schuld. Wenn ich dünn wäre, würden sich Mama und Papa wieder lieben. Sie würden sich nicht länger die Schuld für mein Übergewicht zuschieben. Wenn ich dünn bin, muss Mama nicht mehr weinen. Robin mich nicht mehr gegen Vik beschützen. Ja. Ich werde dünn sein und dann ist meine Familie wieder komplett. Ich werde abnehmen. Um jeden Preis. Nur so kann ich meine Verfehlung wiedergutmachen.
***
Es war so weit. Meine erste Gruppentherapie. Man sieht im Fernsehen ja allerhand. Heulende Menschen im Sitzkreis. Der Neue kommt rein, stellt sich vor.
„Hallo, ich bin Jörg und ich bin Alkoholiker.“
„Hallo, Jörg“, schallt es aus einem Munde. Dementsprechend habe ich auch schon meinen Satz vorbereitet. „Ich bin Scarlett und ich habe ein Problem mit dem Essen.“ Das müsste genügen. Niemals würde ich meine Krankheit „Magersucht“ oder „Anorexie“ nennen. Nein, magersüchtige Frauen waren dünn, mager. Nur noch Haut und Knochen. An mir wabbelte noch genug unnützes Zeug herum. Anorektische Frauen aßen kaum was. Ich war es gewohnt, viel zu essen. Viel Salat und Gemüse. Meine verschrobene Lebensstruktur passte in keines dieser Krankheitsbilder, deswegen fiel es mir auch lange schwer, zu akzeptieren, dass ich Hilfe brauchte. Die Erleuchtung hatte ich, als ich mit Robin in diesem Musical war, das ich schon lange hatte sehen wollen. Er hatte es mir zum Geburtstag geschenkt. Es war ein Tagesausflug gewesen. Er hatte mich früh abgeholt und ich hatte mich entscheiden müssen: Sport oder Frühstück? Weil ich nicht wollte, dass mein Magen während der Vorstellung knurren würde, packte ich mir eine ganze Salatgurke ein und war mächtig stolz auf mich. Auf meine Organisation zum Selbsterhalt. Natürlich war Robin, mein wundervoller Bruder, schon seit Monaten besorgt um mich und hatte zum Frühstück während der Autofahrt Laugenbrezeln und Croissants gekauft. Nichts davon hatte ich seit Jahren gegessen oder wäre auch nur in die Nähe meines Mundes gekommen.
„Ich hab schon gegessen.“ - Einer meiner Lieblingssätze, um zu vermeiden, mit Freunden etwas Ungesundes in meinen Körper zu schieben.
Während der Mittagsvorstellung hatte ich solch einen großen Hunger, dass ich extreme Magenschmerzen hatte. Ich konnte mich kaum auf das Musical konzentrieren und dachte immer nur an die Salatgurke in meinem Rucksack und wie, wann und wo ich sie endlich essen könnte. Diese Gedankenmuster konnte ich mittlerweile aber erkennen und hatte direkt ein schlechtes Gewissen: Warum konnte ich mich nicht einfach freuen? Nicht einfach im hier und jetzt leben? Mein Bruder hatte schließlich hart gearbeitet, um mir eine Freude zu machen und die Show zu finanzieren. Er hatte sich extra Zeit genommen, um mich herumzukutschieren. Was war ich doch für ein widerwärtiger Mensch, der nicht einmal dankbar sein konnte? Im Grunde war ich dankbar, aber der Hunger war stärker als jedes anderes Gefühl. Bei der Heimfahrt wollte er bei einem Take-Away etwas zu essen holen und es eskalierte zu einem Streit. Als ich abends in meiner Einzimmerwohnung war, war ich so hungrig und einsam, dass ich stundenlang geweint habe. Irgendwann raffte ich mich auf und wollte etwas kochen, bin aber bei dem Versuch, vom Boden aufzustehen, hingefallen und habe mir den Kopf gestoßen. Der Schwindel hielt auch noch an, als ich auf dem Boden lag und meinen Kopf anfasste. Blut klebte an meinen Händen und ich musste über meine eigene Dummheit lachen. Auf meinem Grabstein sollte bitte stehen: „Zu dumm, um aufzustehen.“ Dieser Moment kombiniert mit Robins Worten ein paar Stunden vorher - „Ich seh da nicht länger zu, Scar. Iss endlich was oder ich lass dich zwangseinweisen“ - trugen dazu bei, dass ich tatsächlich den Entschluss fasste, etwas zu ändern. Das, was ich da gerade hatte, war kein Leben. Es war ein täglicher Kampf, den ich drauf und dran war zu verlieren.
Nun war ich also die Neue in diesem Sitzkreis aus psychisch gestörten Menschen, die alle auch einen an der Klatsche hatten wie ich. Nur ein bisschen anders vielleicht. Außer Penelope und Mr. Anzug kannte ich niemandem aus der Gruppe.
„Im Hinblick auf die Uhr eröffne ich die heutige Gruppensitzung“, begann ein grauhaariger, dicker Mann. Er trug ein weißes Hemd mit roter Fliege und eine Anzughose mit Hosenträgern. „Heute haben wir ein neues Gesicht in unserer Mitte, deswegen stelle ich mich noch einmal vor. Ich bin Dr. Danken und leite die Gruppentherapie von Gruppe B dienstags und donnerstags.“ Der Klang seiner Stimme war mir unangenehm, ohne dass ich hätte sagen können, woran es lag. „Möchten Sie sich auch kurz vorstellen, Frau Schweighart?“ Ich richtete mich im Stuhl auf, spürte fremde Blicke und den Schweiß auf mir. Aber wenigstens hatte ich meinen Satz schon vorbereitet.
„Ich bin Scarlett Schweighart. 23 Jahre alt und habe ein Problem mit dem Essen.“
„Willkommen Frau Schweighart“, sagte Dr. Danken als einziger. Penelope zwinkerte mir zu und nur ein älterer Mann mit Glatze nickte halbherzig. „Möchte jemand Frau Schweighart erklären, wie die Gruppentherapie funktioniert?“ Anscheinend wollte niemand. Alle starrten stumm auf den Boden oder fixierten einen Punkt an der Wand. Die Stimmung im Stuhlkreis war distanziert und kühl. Mit jeder Sekunde des Schweigens fühlte ich mich unwohler.
„Also, hier kannst du Dinge ansprechen, die dich bewegen“, brach schließlich Penelope das Schweigen. Sie trug High Waist Jeans, ein Crop-Top und sah heute wieder ganz besonders wie ein Model aus. „Alles, was in diesem Raum gesagt wird, bleibt in diesem Raum. Du brauchst also keine Angst zu haben, dass jemand deine innersten Gedanken im Aufenthaltsraum rumposaunt. Wir hören einander zu und lassen uns ausreden. Du kannst Fragen stellen, dir Rat einholen oder einfach erzählen.“ Sie verdrehte nachdenklich die Augen. „Hab ich was vergessen?“ Dr. Danken schüttelte den Kopf.
„Nein, vielen Dank, Frau Samt, dann würde-“
„Doch!“, sagte ein Mittzwanziger. Er lag mehr auf dem Stuhl als dass er saß und trug Jogginghose, ein weißes Top, eine Goldkette, eine Cappy und tatsächlich eine Sonnenbrille. Klar, es war August und warm, aber wir befanden uns in einem geschlossenen Raum. Hier drinnen lief man nicht Gefahr, von der Sonne geblendet zu werden. „Wir schweigen oft sehr lange. Das ist ätzend. Größter Scheiß überhaupt. Sitzt man rum und wartet auf besseres Wetter.“
„Du könntest ja auch mal ein Thema einbringen“, sagte der Glatzkopf, Cappy-Boy aber lachte nur und verschränkte die Arme.
„Sicher nicht.“
„Möchten Sie uns sagen, warum Sie sich nicht in die Gruppe einbringen wollen?“, fragte Dr. Danken mit ausdruckslosem Blick.
„Weil’s `n Scheiß is, deswegen.“
„Können Sie Ihre Meinung weiter erörtern, Herr Kauz?“
„Das is doch alles sinnlos!“, schrie Cappy-Boy plötzlich und sprang auf.
„Kai, jetzt atme mal tief durch und setz dich gefälligst wieder hin“, ermahnte ihn eine Rentnerin in Blumenbluse mit schlecht gefärbten weinroten Haaren.
„Echt kein Bock mehr!“ Er trat den Stuhl um und lief zur Tür.
„Herr Kauz, wenn Sie jetzt gehen, muss ich dies Ihrem Therapeuten melden“, sagte Dr. Danken ruhig.
„Mach doch, du Wichser.“ Hinter sich schlug er die Tür zu und ich schrumpfte in mich zusammen. Wie sollte ich in solch einer Gruppe über meine innersten Gedanken sprechen können?
„Normalerweise herrscht hier, wie in jeder Therapie, Anwesenheitspflicht“, erklärte Dr. Danken an mich gerichtet.
„Er ist noch nicht bereit“, sagte die Rentnerin. „Man kann keinen zu seinem Glück zwingen. Jeder muss den Weg der Therapie allein gehen. Allein beginnen und allein durchziehen.“ Sie strich ihren schwarzen knielangen Rock glatt und sah auf den Boden. „Familie und Freunde können uns unterstützen, für uns da sein, Halt geben. Aber in die Schlacht ziehen wir doch allein.“
„Fühlen Sie sich manchmal allein gelassen, Frau Bäcker?“, wollte Dr. Danken wissen, woraufhin die Dame schluckte und ich das Bedürfnis bekam, sie zu umarmen.
„Fühlt sich nicht jeder Mensch manchmal allein?“
„Gibt es eine Situation in den letzten Wochen oder Monaten, in der Sie sich besonders allein gefühlt haben, Frau Bäcker?“
Von dem Seelen-Striptease bekam ich eine Gänsehaut und ich hoffte nur, dass Dr. Danken mich niemals so direkt ansprechen würde.
„Jeden Tag, jeden Morgen beim Aufstehen.“ Ihre Stimme versagte und sie rieb sich die Augen. „Jeden Morgen, wenn ich mich frage, wie ich die Stunden meines sinnlosen Tages füllen soll.“
„Ich finde, du füllst deine Tage bereits sinnvoll“, sagte Penelope. Sie saß am anderen Ende des Raumes und lehnte sich zu ihr hinüber. „Das, was du die letzten Male erzählt hast, dein Ehrenamt in der Nachhilfe für bedürftige Kinder, das ist doch großartig! Trotz deiner starken Schmerzen. Jeden Tag raffst du dich auf und gibst den Kindern so viel Wissen und Zuneigung. Du gibst ihnen Sicherheit, die sie von niemandem sonst bekommen.“
„Und jetzt lass ich sie im Stich!“ Frau Bäcker brach in Tränen aus. „Genau wie Edmund mich im Stich gelassen hat. Oder mein Vater. Ich bin genau wie mein Vater.“ Die Rentnerin war kurz vorm Hyperventilieren und rein intuitiv schnappte ich mir die Packung Taschentücher, die in der Mitte des Stuhlkreises war und hielt sie ihr vor die Nase. Sie murmelte ein Dankeschön und schnäuzte sich.
„Das klingt so, als wäre es etwas Schlechtes, wie der eigene Vater zu sein?“, hakte Dr. Danken nach, woraufhin der nächste Tränenschub begann. Den Rest der Sitzung redeten wir über die Beziehung zu Eltern und Einsamkeit. Das heißt, die anderen redeten, ich traute mich nicht, etwas zu sagen. Aber auch andere waren weniger kommunikativ. Penelope, der Glatzkopf und Frau Bäcker trugen die Sitzung, immer angestachelt von Dr. Dankens Fragen. Die meisten aber sagten ebenfalls nichts, sahen stumm und gelangweilt vor sich hin oder schienen auf ihre Weise sehr betreten zu sein. Vielleicht zu betreten, um sich einzubringen. So wie ich. Oh Gott! Was hätte ich nur zu meinem Vater sagen können? Nichts, was die gute Frau Bäcker aufgemuntert hätte.
Während der Sitzung schaffte es Penelope einige Male, der Rentnerin ein Lächeln auf das Gesicht zu zaubern. Sie war ein außergewöhnlich bemerkenswerter Mensch und sagte Dinge wie:
„Hast du dir eben zugehört? Das klingt schon ziemlich cool, was du alles geleistet hast, oder?“
„Und warum bist du nicht stolz auf dich?“
„Vielleicht erwartest du zu viel von dir.“
Sie selbst klang genauso, wie ich mir eine gute Psychotherapeutin immer vorgestellt und leider nie gefunden hatte. Bisher. Vielleicht würde das mit Frau Kleist doch noch was werden. Sofern ich das Ausfüllen des Mastvertrages überleben würde.
„Ich denke, das ist ein gutes Schlusswort“, befand Dr. Danken und nickte Penelope zu. „Ich möchte, dass Sie sich bis Dienstag darüber Gedanken machen, was Sie selbst von sich, Ihrem Leben und Ihren Leistungen erwarten. Und wo Sie das vielleicht auch einmal zu viel Kraft gekostet hat. Dann haben wir auch gleich ein neues Sitzungsthema am Dienstag.“
Die Gruppe löste sich auf und ich wollte auf Penelope zugehen, sie für ihre Einfühlsamkeit loben, doch sie verschwand als eine der ersten aus der Tür und war weder im Gang noch auf der Terrasse oder im Aufenthaltsraum zu finden.
Bis zum Mittagessen hatte ich noch fast zwei Stunden Zeit. Mein Magen begann wieder zu knurren, deswegen schlich ich im Aufenthaltsraum an dem Whiteboard vorbei, an dem der Essensplan der Woche aufgehängt war. Man konnte täglich zwischen drei warmen Mahlzeiten beim Mittagessen wählen. Bei mir war die Wahl gering: Es gab nur ein vegetarisches Gericht. Und das würde heute Kartoffelpuffer mit Pilzragout und Brokkoli sein. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Kartoffeln waren sehr gesund und Brokkoli und Pilze waren ganz weit oben auf der Liste der kalorienärmsten Lebensmittel.
„Na, schaust, was es zu futtern gibt?“
„NEIN, ich-“ Reflexartig kniff ich mich, um dem Drang, meine Arme aufzukratzen, zu widerstehen. Ich fühlte mich ertappt. Als Vielfraß entlarvt. Die junge Frau, die mich angesprochen hatte, stellte sich neben mich und sah selbst auf den Plan.
„Wenn ich nur wüsste, was ich letzte Woche bei der Bestellung angekreuzt habe.“ Sie lachte und streckte mir ihre Hand entgegen. „Nelly, du bist seit gestern hier, gell?“
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