Kitabı oku: «Böse Obhut», sayfa 4
Barbara erwartete keine Antwort, ihre Aufmerksamkeit galt ausschließlich dem Abenteuer an jenem Abend.
Laura schüttelte trotzdem den Kopf.
„Mein gesamtes Fühlen war nur auf ihn gerichtet. Er war groß. Sehr groß. Und muskulös. Dann spürte ich seine Lippen auf meinem Hals." Barbaras Stimme wurde heiser, sie räusperte sich. „Ich konnte mich nicht rühren. Er bewegte sich auch nicht." Sie krampfte die Hände um das Steuer und warf einen Blick auf Laura, die ihr mit großen Augen zuhörte. „Plötzlich legte er einen Arm um mich und zog mich an sich. Ich konnte ihn spüren. Du weißt schon ..."
Die beiden Frauen schwiegen, Barbara gefangen in der Erinnerung, Laura in verblüffter Fassungslosigkeit.
Mittlerweile hatten sie die Autobahn hinter sich gelassen und die Landschaft hatte sich in ein ländliches Wintermärchen verwandelt. Die Felder lagen, so weit das Auge reichte, unter einer strahlend weißen Schneedecke.
Laura nahm einen Schluck aus dem Thermobecher und räusperte sich. „Weißt du, wer der Mann ist? Ist es Professor Martin?"
Barbara schüttelte den Kopf. „Nein. Der ist kleiner, schätzungsweise eins fünfundachtzig, und schlanker. Dieser Mann war bestimmt zwei Meter groß. Wobei das geraten ist, denn ich habe ihn nur gespürt, nicht gesehen."
„Und jetzt?"
Barbara zuckte die Achseln und sah mit zusammengepressten Lippen auf die Straße.
„Ich finde die Geschichte sehr ...", Laura suchte nach dem passenden Wort, „... romantisch. Leidenschaftlich. Aber auch ungewöhnlich. Hast du dich mal gefragt, warum er sich so geheimnisvoll gibt?"
Keine Antwort.
Laura schaute sie prüfend an. „Es hat dich erwischt. Du bist verliebt."
Barbara lächelte leicht. „Ich habe so etwas noch nie erlebt. Wenn ich das Gefühl mit etwas vergleichen soll, fällt mir ein Film ein, den ich mal gesehen habe. Ein paar Jugendliche gehen nachts auf einen verlassenen Rummelplatz. Sie brechen in eine Halle voller Spielautomaten ein. Es ist dunkel und schmutzig, überall Spinnweben, Strom gibt es nicht, die Stecker der Kabel liegen auf dem Boden neben den Maschinen im Staub. Plötzlich gehen alle Lichter an. Es wird taghell, die Automaten fangen an zu blinken, zu dudeln und zu rattern. Die ganze Halle erwacht zum Leben. So war das auch mit mir."
„Du bist doch keine verlassene Spielhalle voller Staub und Spinnweben."
„Nein, aber ich hatte das Gefühl vergessen. Dieses Prickeln, das Frisch-Verliebt-Sein. Es war irgendwo tief in mir vergraben. Aber seit ich wieder weiß, wie es sich anfühlt, kann ich an nichts anderes mehr denken."
Laura sah aus dem Fenster und trommelte mit den Fingerspitzen auf dem Kaffeebecher. „Warum hat er sich nicht gezeigt? Findet er das romantisch? Oder ist er ein Perverser und belästigt ständig irgendwelche Frauen? Vielleicht ist er auch hässlich? Es besteht die reelle Chance, dass du ihn siehst und total unattraktiv findest. Sonst hätte er es nicht nötig, sich von hinten anzuschleichen."
Barbara schüttelte entschieden den Kopf. „Er ist nicht hässlich."
Laura sah von ihrem Becher auf, den sie abwesend in ihrer Hand drehte, und unterdrückte ein Lachen. „Ich wusste es, du kennst ihn."
„Ich bin nicht sicher, ich glaube, ich kenne ihn. Seit ungefähr sechs Wochen gibt es einen Mann, der zu allen meinen Konzerten kommt. Er schickt mir Rosen in die Garderobe, belgische Pralinen oder eine Flasche Champagner. Anfangs habe ich mir nichts dabei gedacht, war geschmeichelt, doch dann ertappte ich mich, dass ich nach den Auftritten nach meinen Blumen suchte. Und fast immer standen sie da. Er ist bei meinen Konzerten, sitzt im Publikum und hört mir zu."
„Du hast ihn gesehen?"
„Nein. Ich weiß nicht, wer er ist. Natürlich habe ich versucht, ihn im Publikum zu entdecken. Bei jedem Mann, der mich ansieht, frage ich mich, ob er das ist. Ich versuche mich zu erinnern, wen ich schon öfter gesehen habe. Manchmal habe ich nur eine kleine Zuhörerschar, aber auch in den Fällen konnte ich ihn nicht ausmachen. Vor drei Wochen begann er, mir E-Mails zu schreiben. Meine Mail-Adresse ist auf meiner Homepage, falls mich Konzertveranstalter kontaktieren möchten. Die kann jeder sehen. Erst war es nur eine Nachricht am Tag, dann wurden es mehr. Wir wünschten uns Guten Morgen und Gute Nacht, schrieben kurze Nachrichten zwischendurch und seit Kurzem haben wir angefangen, uns über Whatsapp zu texten. Er schreibt Dinge, die mich ...", Barbara suchte nach dem richtigen Wort, „verzaubern. Ich weiß, das klingt blöd."
„Unsinn. Es ist schön, dass das Leben nicht nur aus Routine und Gewohnheit besteht, sondern auch Überraschungen bereithält.“ Laura versuchte, ihre Stimme fest und überzeugend klingen zu lassen. „Wenn du seine Mail-Adresse und seine Telefonnummer hast, weißt du doch, wer er ist."
„Nein, der Account-Name ist Vukodlak. Ich habe das natürlich gegoogelt, es ist die kroatische Bezeichnung für Werwolf, dadurch bin ich auch nicht schlauer. Und in unseren Nachrichten haben wir andere Namen füreinander."
„Vukodlak? Warum hast du ihn nicht nach seinem richtigen Namen gefragt?"
„Es hat nie gepasst. Es gab so viel anderes zu sagen. Vielleicht wollte ich auch nicht wissen, wer er ist. Es ist so herrlich geheimnisvoll."
Laura schüttelte den Kopf. „Barbara, kennst du das Gefühl, wenn man sich verliebt und es im Bauch kribbelt? Das ist das Zeichen, dass der gesunde Menschenverstand den Körper verlässt. Den Spruch habe ich mal gelesen und jetzt merke ich, dass er stimmt. Wenn sich einer schon selbst Werwolf nennt, dann hat das nichts Gutes zu bedeuten. Zum Glück bist du mit einer Detektivin befreundet. Ich werde herauskriegen, wer er ist. Und wenn es ein Perverser ist ..."
Barbara lachte auf. „Laura, ich bin erwachsen. Du musst nicht auf mich aufpassen."
„Ich möchte sichergehen, dass er nicht gefährlich ist."
„Gut, wenn du es nicht lassen kannst. Aber sag Gilda nichts davon. Und wenn du etwas herausfindest, lass mich bitte vorher entscheiden, ob ich es wissen möchte."
Die Landstraße nahm eine Kurve, sie passierten das Ortsschild von Waldheim. Zuerst säumten schmucklose Häuser und wuchtige Scheunen die Straße. Doch je näher sie dem Zentrum kamen, umso häufiger mischten sich urige Fachwerkhäuschen unter das Bild. Auf dem Dorfplatz funkelten festlich geschmückte Buden und Marktstände in der Vormittagssonne. Rund um den Platz standen sorgfältig renovierte Häuser und einen Block weiter ragte ein mächtiger Kirchturm in den Himmel.
„Ist das schnuckelig", rief Barbara begeistert.
„Ja, ganz nett. Da ist unser Hotel." Laura zeigte auf ein großes, graues Haus mit Fachwerkanbau.
Barbara fuhr langsam die schmale Straße entlang und parkte den Jaguar mit viel Kurbelei in einer engen Parklücke. Die beiden Frauen stiegen aus, holten ihre Reisetaschen aus dem Kofferraum und betraten das Hotel.
So schön es von außen aussah, im Inneren empfing sie funktionale Nüchternheit und abgenutzter 80er-Jahre-Stil. In der Luft lag der Geruch nach erkalteter Tütensuppe und scharfen Putzmitteln. Barbara trat an den Empfang und betätigte mehrmals die Glocke, die auf dem Tresen stand. Aus dem oberen Stockwerk hallten klappernde Schritte und eine Frau mit praktischem Herrenhaarschnitt und schwarzem Kostüm kam herunter. Sie wischte die rotgearbeiteten Hände an einem Tuch ab und schenkte den Freundinnen ein sparsames Lächeln.
„Guten Tag. Wir hatten reserviert auf den Namen Peters. Zwei Einzelzimmer." Laura kramte in ihrer Handtasche nach der Buchungsbestätigung.
„Herzlich willkommen. Ich bin Elisabeth Kaiser. Wir haben Sie erwartet. Frau Peters und Frau Hellmann. Sie bleiben nur eine Nacht?"
„Höchstwahrscheinlich. Genau wissen wir das noch nicht. Können wir gegebenenfalls verlängern?"
Frau Kaiser presste die schmalen Lippen aufeinander, dann nickte sie. „Aber Sie müssen rechtzeitig Bescheid geben. Am besten noch heute. Im Moment gibt es viele Touristen, die zum Skifahren kommen. Und unser Handwerker-Markt ist eine bekannte Touristenattraktion."
„Tatsächlich? Das hätte ich nicht gedacht."
Frau Kaiser, die den beiden die Zimmerschlüssel reichen wollte, hielt inne und sah Barbara misstrauisch an, um zu prüfen, ob ihr Erstaunen echt war. Dann sagte sie mit Nachdruck: „Wir sind eine gut besuchte Ferienregion. Die Touristen kommen aus aller Welt zu uns, um die Landschaft zu genießen oder Wintersport zu treiben."
„Touristen aus aller Welt?" Barbara konnte es nicht lassen.
Frau Kaiser nickte würdevoll. „Viele kommen aus Deutschland, aus den nahe liegenden Großstädten und aus Holland. Von dort haben wir sehr viele Gäste." Laura und Barbara nickten und vermieden es, sich gegenseitig anzusehen, um nicht in lautes Gelächter auszubrechen. Mit ernsten Mienen nahmen sie ihre Schlüssel und stiegen mit den Reisetaschen die Treppe hinauf. Erst als sie sicher waren, dass Frau Kaiser sie nicht mehr hören konnte, prusteten sie los.
„Touristen aus aller Welt aus Deutschland und Holland." Barbara japste nach Luft. „Herrlich. Ich hätte nie gedacht, dass wir in einer Touri-Gegend gelandet sind. Und auch noch in der Hochsaison. Da hatten wir Glück, dass Gilda ein Zimmer für uns ergattern konnte."
Laura schmunzelte. „Was hältst du davon, wenn wir uns kurz frisch machen und dann gleich dem Internat einen Besuch abstatten? Wenn wir schnell durchkommen mit unserer Suche, können wir heute Nachmittag eine Runde Skifahren oder die örtlichen Touristen-Attraktionen besichtigen."
7
Eine Viertelstunde später klopfte Barbara an Lauras Tür.
Laura trat auf den Flur hinaus, eingepackt in eine Daunenjacke, einen riesigen Wollschal und warme Lammfellhandschuhe. Auch Barbara hatte weiter gegen die Kälte aufgerüstet und passend zu ihrer Zipfelmütze ein rotes Kaschmir-Tuch um die Schultern gelegt. In der Hand trug sie einen Papierblock, der zu groß war, um in die rote Handtasche zu passen. Laura lächelte erfreut. Sie war erleichtert, dass Barbara die Fahrt nicht nur als Ablenkung von ihrem exotischen Liebesabenteuer sah, sondern Laura ernsthaft bei der Arbeit unterstützen wollte. Die beiden stapften in dicken Fellboots die Stufen hinunter, durchquerten die Eingangshalle, in der es jetzt nach Bratfett roch, und traten auf die Straße.
„Das Internat liegt nicht weit weg. Wenn wir diesen Weg nehmen, laufen wir direkt auf das Gebäude zu."
„Wollen wir nicht erst Mittagspause machen?" Barbara sah sehnsüchtig zu einer mit Lichterketten dekorierten Würstchenbude, von der ein appetitlicher Duft ausging.
Doch Laura zog sie weiter: „Auf keinen Fall! Ich möchte hier nicht noch eine zweite Nacht verbringen müssen, nur weil wir mit der Pause angefangen haben. Wir gönnen uns das Würstchen, wenn wir die Arbeit erledigt haben. Falls du es bis dahin nicht aushältst, kauf dir einen Schokoriegel."
Barbara schüttelte tapfer den Kopf. „Nein, lieber nicht. Ich sollte auf die Kalorienbremse treten."
„Aber Würstchen sind erlaubt?" Laura lachte amüsiert.
Ein hoher Zaun, der einem Gefängnis alle Ehre gemacht hätte, fasste das Schulgelände ein. Sie mussten mehrmals klingeln, dann schwang das eiserne Portal wie von Zauberhand auf. Barbara und Laura betraten das verschneite Grundstück und schraken zusammen, als direkt hinter ihnen das Tor scheppernd ins Schloss krachte.
„Die sind aber vorsichtig, um nur ja keinen ungebetenen Besuch zu bekommen", murmelte Laura.
„Oder sie wollen sichergehen, dass ihre Schäfchen nicht ausbüxen." Barbara wies bedeutungsvoll mit dem Kopf auf einen dicken Jungen, der auf einer Schaukel hockte und sie durch die fettigen Fransen seines Ponys beobachtete. Neben ihm im Schnee lagen zwei Tüten Chips, in der Hand hielt er eine Tafel Schokolade, von der er wie von einem Butterbrot abbiss.
„Hallo!" Barbara winkte ihm zu, Laura versuchte es mit einem Lächeln.
„Mädchen sind zum Ficken da." Er grinste sie mit schokoladigen Zähnen an.
„Charmant, charmant", flüsterte Barbara. Als sie auf gleicher Höhe mit ihm waren, spuckte der Junge aus und verpasste die beiden nur um Haaresbreite. Dicker, brauner Speichel landete direkt vor Barbaras elegantem Stiefel im Schnee. Laura spürte, wie in der Freundin der Ärger hochkochte. Sie fasste sie am Arm und zog sie weiter.
„Leg dich nicht mit dem an. Der tickt nicht richtig, da kannst du nur den Kürzeren ziehen."
„Mädchen sind zum Ficken da!" Der Junge lachte dreckig, dann spuckte er wieder.
Jetzt hatte Barbara genug. „Was erlaubst du dir? Kannst du dich nicht benehmen?" Sie riss sich aus Lauras Griff los.
Der Junge stand von der Schaukel auf und starrte sie unbewegt an.
Laura schätzte ihn auf vierzehn Jahre. Er war mindestens zwanzig Kilo schwerer und einen halben Kopf größer als sie selbst. Und sie war nicht gerade klein mit einem Meter fünfundsiebzig. Verglichen mit Barbara war der Rüpel ein Hüne. Sie hätte nicht die mindeste Chance, wenn er sich provoziert fühlte und sie angriff. Doch Barbara war das egal. Resolut stapfte sie auf den debil grinsenden Jungen zu, baute sich vor ihm auf und stemmte die Arme in die Seiten.
„Du benimmst dich jetzt, Bürschchen. Hast du mich verstanden? Sonst kannst du was erleben. Und die hier kommt jetzt weg!" Sie riss dem Jungen den Rest der Schokoladentafel aus der Hand und warf sie in hohem Bogen in den Schnee. „Wenn du Hunger hast, iss einen Apfel, nicht dieses süße Zeug. Du bist viel zu dick! Und wasch dir die Haare!"
Laura beobachtete die Szene angespannt. Sie fürchtete, der Junge könnte Barbara attackieren, doch zu ihrer Überraschung senkte er plötzlich den Kopf, schlang die Arme um den Körper und wiegte sich vor und zurück.
„Nils, komm sofort herein. Du sollst Hausaufgaben machen. Und bring die Süßigkeiten in die Küche."
Die Zurechtweisung kam aus einem Fenster im ersten Stock des Schulgebäudes. Eine grauhaarige Frau im weißen Kittel lehnte im Fensterrahmen und sah zu ihnen hinunter. Der Junge senkte seinen Kopf noch tiefer, sammelte die Chipstüten und die Schokolade ein und trottete mit hängenden Schultern davon.
„Was ist mit Ihnen?" Der Ton hatte nichts an Schärfe eingebüßt. Laura sah mit einem Seitenblick auf Barbara, dass auch sie sich wie eine zurechtgewiesene Schülerin fühlte.
„Wir haben einen Termin mit der Schulleitung. Können Sie uns sagen, wo wir hinmüssen?"
„Ich bin die Direktorin. Kommen Sie durch den Haupteingang und nehmen Sie den Gang, der nach rechts führt. Dort erwarte ich Sie in meinem Büro!" Das Fenster wurde geräuschvoll geschlossen, die Freundinnen sahen sich belustigt an.
„Zu Befehl!", murmelte Laura.
Barbara nickte: „Hier ist einer sympathischer als der andere. Ich liebe dieses Dorf!"
„Wahrscheinlich muss man so ein Dragoner sein, sonst tanzen einem die Schüler auf der Nase herum. Ich habe ja schon befürchtet, dass der Kerl dich verprügelt, als du ihm die Schokolade weggenommen hast. Was du ihm alles an den Kopf geworfen hast. Das hätte auch schief gehen können."
Barbara winkte ab. „Quatsch, das ist ein kleiner Junge. Er sieht zwar aus wie ein Riesenbaby, ist aber total harmlos. Ich kenne mich mit diesem Alter aus, schließlich habe ich Heinolfs Sohn oft genug bei uns zu Besuch gehabt. Äußerlich sehen sie aus wie Männer, doch innen drin sind sie Babys."
„Der hatte einen Dachschaden, hast du das nicht gemerkt?"
„Nein, der war ganz normal. Er hat ausprobiert, wie weit er gehen kann. Das ist in der Pubertät nichts Ungewöhnliches. Man darf sich das nur nicht bieten lassen."
Sie hatten das Eingangsportal der Schule erreicht und betraten die Halle, eine breite Treppe mit grau gestrichenem Metallgeländer führte in die oberen Stockwerke. Ein diffuser Geräuschpegel aus Gemurmel, Geschepper und vereinzelten Schritten hallte zu ihnen herab. Aus dem Augenwinkel bemerkte Laura eine schmächtige Putzfrau mit einem bunten Tuch um den Kopf, die den Boden mit einem Wischmopp wienerte. Sie warf ihnen einen kurzen Blick zu und vertiefte sich wieder in ihre Arbeit. Laura und Barbara bogen rechts in den Gang ein und steuerten auf die einzige geöffnete Tür zu.
„Da sind sie ja."
Die Frau, die sie am Fenster gesehen hatten, stand in tadellos gerader Haltung vor ihnen. Ihre grauen Haare waren fest nach hinten gezurrt, den weißen Kittel hatte sie abgelegt, jetzt trug sie ein geblümtes Kleid. Die Oberlippe zierte ein kapitaler Damenbart, von dem Laura nur schwer den Blick abwenden konnte.
„Meine Mitarbeiterin hat mit Ihrem Büro gesprochen." Laura ärgerte sich, dass sie Gilda nicht nach dem Namen der Gesprächspartnerin gefragt hatte, unter dem strengen Blick der hageren Frau wurde sie unruhig. „Wir sind Laura Peters und Barbara Hellmann von der Detektei Peters. Es geht um die Organisation eines Schultreffens. Der Politiker Bernd Schlüter möchte seine Schulkameraden wiedersehen und benötigt dafür die Adressen. Es wurde vereinbart, dass wir heute vorbeikommen und uns Ihre Unterlagen ansehen können."
„Ich weiß Bescheid. Ihre Kollegin hat mit mir gesprochen. Ich bin Fräulein Jakob."
Laura merkte, dass Barbaras Mundwinkel zuckten. Offensichtlich mussten sie sich beide bemühen, bei dem Wort 'Fräulein' ernst zu bleiben.
Sie räusperte sich. „Fräulein Jakob, können Sie uns zeigen, wo wir die Informationen finden? Wir möchten gerne so schnell wie möglich beginnen, damit wir nicht zu viel von Ihrer Zeit verschwenden."
Fräulein Jakob nickte wohlwollend. „Folgen Sie mir. Die Ordner sind im Souterrain." Kerzengerade und in bequemen, hellgrauen Gesundheitsschuhen ging sie mit elastischen Schritten voran, Laura und Barbara liefen wie zwei eifrige Schülerinnen hinterher. Als sie die Halle durchquerten, hörten sie im oberen Stockwerk eine Tür schlagen, das zornige Gebrüll eines Mannes hallte durch die Flure. Fräulein Jakob schritt unbeirrt die Stufen hinunter. Anscheinend gehörten diese Art Geräusche zum normalen Schulalltag.
Im Untergeschoss gab es weitere Unterrichtsräume. Allerdings war es so leise, dass Laura vermutete, dass sie im Augenblick nicht benutzt wurden. Vor einer hölzernen Tür, auf der ein Schild 'Material' klebte, blieb Fräulein Jakob stehen, griff nach dem Schlüsselbund und schloss klimpernd auf. Der Muff von Staub, alten Gegenständen und zu wenig Lüftung schlug ihnen entgegen.
Fräulein Jakob ging zielstrebig auf ein großes Regal und zeigte auf mehrere Ordner. „Hier stehen die Unterlagen aus der ersten Hälfte der 70er-Jahre. Was Sie da nicht finden, haben wir nicht mehr. Eigentlich wollten wir das längst alles wegwerfen."
Laura bedankte sich höflich und seufzte erleichtert, als ihre Schritte sich entfernten.
„Was für ein Drachen. Wenn ich Schüler wäre, hätte ich Angst vor ihr."
„Ja, mit der ist nicht gut Kirschen essen. Sie lässt keinen Fehler durchgehen. Die Kinder können einem leidtun." Barbara zog die Mütze vom Kopf und schüttelte ihre blonden Haare mit den Händen auf.
Laura entledigte sich ihrer Jacke und schaute sich in dem staubigen Raum nach einer Möglichkeit um, sie loszuwerden. Schließlich hängte sie sie an den Haken einer alten Schulkarte, die in der Ecke neben dem vergitterten Fenster stand. Sie schob die Ärmel ihres hellen Wollpullis hoch und zog den ersten Ordner aus dem Regal.
„Oh Mann, hier hat seit den 70er-Jahren keiner mehr sauber gemacht." Barbara zog eine Packung Papiertaschentücher aus der Tasche und wischte mit spitzen Fingern über die Tischplatte.
„Das stimmt nicht", sagte Laura langsam. „Alles ist staubig, aber dieser Ordner nicht." Sie ging zum Regal und begutachtete die Unterlagen aus den nachfolgenden Jahren. „Die anderen Register aus den späteren Jahren sind schmutzig. Jemand hat sich erst vor Kurzem die Unterlagen aus den 70er-Jahren angesehen."
Barbara zuckte mit den Schultern. „Na und? Das war bestimmt Fräulein Jakob. Sie wusste, dass wir kommen, da hat sie vorher geputzt."
„Kann sein. Aber sie hätte ruhig den ganzen Raum putzen können. Guck mal, wie meine Hose aussieht. Egal, das gehört zum Job. Komm, lass uns loslegen, damit wir bald wieder an die frische Luft kommen." Sie schlug den Ordner auf, der mit 1976 beschriftet war, und blätterte die Seiten durch.
Barbara griff sich auch einen, die beiden vertieften sich in die Unterlagen.
„Sie haben alle Themen bunt durcheinander chronologisch abgelegt. So ein Chaos. Lieferantenrechnungen neben Schreiben vom Jugendamt und Ankündigungen zu Schulkonzerten. Ich bin bisher auf keinen einzigen Namen gestoßen. Wie sieht es bei dir aus?" Barbara blickte genervt zu Laura hinüber.
„Genauso. Worum geht es in dem Schreiben vom Jugendamt?"
Barbara nahm das Blatt aus dem Hefter und hielt es in das Licht der Deckenlampe. „Sie fragen an, ob die Schule Kapazitäten frei hat, um Kinder aufzunehmen, da das Kinderheim voll belegt ist."
„Dann war das hier nicht nur eine Schule, sondern auch eine Außenstelle des Waisenhauses? Oh je, Schwererziehbare und Waisenkinder in den 70er-Jahren. Das wird keine Insel der Glückseligen gewesen sein."
Barbara heftete den Brief ein und blätterte weiter. „Ich habe was", rief sie erfreut. „Eine Liste, allerdings nur die letzte Seite. Namen von T bis Z. Die anderen Seiten fehlen." Eifrig notierte sie die Informationen auf ihrem Block.
„Stehen Adressen dabei?"
„Nein. Nur Abkürzungen und Zahlen. Keine Ahnung, was das bedeutet."
„Zeig mal", Laura streckte die Hand aus und Barbara reichte ihr das Blatt über den Tisch. „Sagt mir auch nichts. Solche Kürzel habe ich noch nie gesehen. Bei den Zahlen handelt es sich jedenfalls nicht um Geldbeträge." Laura gab Barbara das Papier zurück und nahm sich den nächsten Ordner vor.
„Endlich! Ein Elternbrief. Mit Absender."
Lauras Handy meldete mit einem Ping, dass eine Nachricht eingegangen war. „Gilda hat die Aufstellung mit den Namen geschickt. Die können wir später mit unseren Ergebnissen abgleichen. Bei dem Tempo, das wir vorlegen, fürchte ich, dass wir heute nicht mehr fertig werden und morgen wiederkommen müssen."
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