Kitabı oku: «Das Myzel», sayfa 2

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3. Herr Professor K.

Man hatte ihm gekündigt, oder exakter formuliert, man hatte ihn gefeuert und das war paradox. Sein Management war tadellos gewesen. Seine Leistungsbilanz für die Firma konnte sich sehen lassen: Über zehn Jahre hinweg organisches Wachstum und stetig steigende Gewinnmargen, kein Fremdkapital im Unternehmen, beeindruckender Cash flow, stabiler Mitarbeiterstamm, alle Erfolgsfaktoren hatten sich im positiven Bereich befunden. Deswegen war sein Vorstandsvertrag erst vor ein paar Monaten um weitere fünf Jahre verlängert worden.

So einen schmeißt man nicht einfach raus. Erstens sei er kaum ersetzbar und zweitens würde die Trennung teuer werden, so dachte er. Aber in beidem hatte er sich gründlich verspekuliert. Es war denen egal, ob er nun wirklich so einzigartig war oder nicht. Sein Abgang war für das Unternehmen nicht ganz billig, fiel aber in den Büchern auch nicht so richtig auf. Schließlich konnte man die Abfindungssumme Steuer mindernd absetzen. Teuer für die Firma würden über kurz oder lang die korrupten Saubermänner im Aufsichtsrat werden. Die hatten ihn geschasst, weil er deren immer dreister gewordene Selbstbedienungsmentalität unterbinden wollte und weil er denen einfach zu mächtig geworden war.

Zugegeben, er war auch nicht gerade zimperlich im Umgang mit den Mitgliedern des Aufsichtsorgans der Stiftung gewesen. Er gab nicht klein bei, als man sich gegenseitig die Daumenschrauben anzog. Dazu war seine Position in der Stiftungssatzung zu gut abgesichert. Aber genau das war der Stein des Anstoßes, hier hakte die Gegenseite ein und verfolgte mit krimineller Energie und Lügen ihr Ziel der Machtausweitung.

Es ging schlicht und ergreifend darum, wer in Zukunft das Sagen in der Stiftung haben würde und sich an den angehäuften Finanzmitteln laben könnte. Diese Stiftung war nämlich eine Stiftung des bürgerlichen Rechts, also durchaus nicht gemeinnützig, sondern mit Gewinnerzielungsabsicht. Der Webfehler, den K. in seiner vollen Tragweite ursprünglich nicht richtig erkannt hatte war, dass das Unternehmen sich selbst gehörte, also kein Eigentümer im landläufigen Sinne existierte. Das jedoch machte etliche Leute sinnlich.

Hier geriet K. letztendlich unweigerlich ins Hintertreffen. Papier, auf dem Vereinbarungen stehen, ist das Eine ist. Das Andere sind gewachsene persönliche Beziehungen und diskrete Absprachen. Da war der Feind besser. K. lief immer mit offenem Visier herum. Sein Minenspiel zeigte seismographisch seine Stimmung an. Die Gegenseite hatte konstant eine Maske der freundlichsten Unverbindlichkeit auf. Die einzige Möglichkeit, den Rausschmiss zu vermeiden, wäre ein Kotau gewesen. Aber nicht mit ihm: Einmal Neger, immer Neger.

Bei dieser von K. so nicht geplanten beruflichen Zäsur hatte aber wahrscheinlich noch ein anderer Grund eine Rolle gespielt. Es war nichts Konkretes, sondern mehr eine Stimmung, die sich bei ihm schleichend breit gemacht hatte und die sein berufliches Selbstverständnis gehörig erodierte. Er musste erkennen, dass die Dienstleistungen, die durch die Health Care Foundation verkauft wurden, kein tieferer Sinn steckte. Bei Kunden, auf Veranstaltungen und in seinen Artikeln pries er etwas an, was nutzlos war. Nachdem in der Republik über die Jahre mittlerweile rund 100 Millionen sogenannte Vorsorgeuntersuchungen nach berufsgenossenschaftlichen Grundsätzen durchgeführt worden waren, hatte bislang kein einziger Arbeitsmediziner oder Epidemiologe nachweisen können, dass dieser Untersuchungsoverkill zu einer Reduzierung der arbeitsbedingten Gesundheitsstörungen geführt hatte. Die Untersuchungen, die in Wirklichkeit allenfalls Früherkennungsmaßnahmen waren, mussten größtenteils aufgrund gesetzlicher Auflagen durchgeführt werden. Freiwillig hätte diese Untersuchungen kaum ein Unternehmen machen lassen. Denn sie kosteten nur Geld und zwar nicht nur für die medizinische Dienstleistung, sondern auch für den Arbeitsausfall des zu untersuchenden Mitarbeiters.

Auch die medizinischen Check-ups bei high Potentials waren Bullshit. Okay, gelegentlich wurde mal ein vorher unbekannter Nebennierentumor entdeckt. Dafür aber zeigten die sonographischen und kernspintomographischen Bilder häufig Artefakte, die zu weiteren unsinnigen Abklärungen Anlass gaben oder vielleicht sogar in eine überflüssige Operation mündeten. Der Großteil der untersuchten Probanden war aber weitgehend gesund.

Überproportional vertreten bei den Check-up-Kandidaten waren die Gesundheitsfanatiker, also die Personen, die eine Durchuntersuchung am wenigsten nötig hatten. Bei den regelmäßigen Nachuntersuchungen der anderen Auserwählten war es dann immer wieder dasselbe. Die niedrigen HDL-Werte bestanden nach wie vor, die Glucosetoleranz hatte sich weiter vermindert, die Blutdruckwerte waren angestiegen und die Leberenzymaktivtäten hatten sich eher verschlechtert.

Hatten wir nicht vereinbart, dass sie weniger fressen und saufen und dafür mehr laufen?

Ja schon, Herr Doktor, aber sie kennen das doch, die sozialen Zwänge, die Reisen, die Geschäftsessen.

Jetzt nur nicht zu streng sein, sagte sich dann der auch auf seine Jahresgratifikation schauende Arzt, sonst kommt diese wichtige Person das nächste Mal nicht wieder.

Es ging also K.s Identifikation mit dem was er beruflich machte, den Bach runter. Er verdiente zwar nicht schlecht, sah das aber weniger als Anerkennung, sondern mehr als Schmerzensgeld. Und man merkte K. an, dass er nicht hinter dem stand, was er sagte und tat und er merkte, dass man es merkte. So machte sich ein ungutes Karma breit, eine Strömung, die nur schwerlich zu beeinflussen war und die schließlich dazu führte, dass er stank. Er stank nach Bockigkeit, Unzufriedenheit, Missmut und Revolution. Am liebsten hätte er das ganze System der Pseudoprävention in die Luft gesprengt. Damit hätte er aber gleichzeitig alles das, was er vorher gemacht hatte, in Frage stellen müssen. Er wäre unglaubwürdig geworden.

Für die ärztlichen Mitarbeiter, die Dienst nach Vorschrift machten und den ganzen Tag überwiegend diese saublöden Vorsorgeuntersuchungen durchführten, die laufend maulten und Extras haben wollten, empfand er nichts als Verachtung. Dabei führte er eine Firma, die solche Drückeberger und Duckmäuser magisch anzog.

Das alles brachte ihn zunehmend aus dem Lot und führte zu unüberlegten und durch Frust getragene Handlungen. Die Gegenseite spürte seine nachlassende Motivation und seine zunehmende Aggressivität. Sein Standing schmolz dahin.

In der letzten Zeit hatte er sich zunehmend ausgebrannt gefühlt, war dünnhäutiger geworden. Vielleicht hatte er zu viel erreichen wollen. Zur Bekämpfung seiner Identifikationskrise hatte er seine Anstrengungen im Beruf weiter verstärkt. Er hatte Wissenschaft betrieben und gleichzeitig Management gemacht. Dadurch hatte er in keinem Lager einen richtigen Stallgeruch entwickeln können, ein Fehler, der ihn zusätzlich in die Defensive brachte. Denn als er eine neue Beschäftigung suchte, da fehlten ihm die intakten Netzwerke.

Durchschnittlich jeden zweiten Tag war er auf Geschäftsreise. Seine immense Reisetätigkeit mutete wie eine Flucht an. Und was natürlich die ganze Misere noch perpetuierte, das war sein Alter. Er war vor kurzem 55 Jahre alt geworden. Zu alt und dann auch noch überqualifiziert, der passt nicht in unsere Firmenlandschaft, hieß es in den Unternehmen, bei denen er wegen eines neuen Jobs vorgefühlt hatte.

Wenn sich die berufliche Karriere dem Ende zuneigt, dann wünscht man sich keinen Hindernislauf, sondern eine freie Bahn mit einer klaren Ziellinie. Das alles hatte er geplant und gut vorbereitet, doch nun war nicht nur der berufliche Crash passiert, sondern in seiner engsten Umgebung hatte sich auch noch ein Mord ereignet, und er wurde das ungute Gefühl nicht los, dass die Kugel eigentlich ihm gegolten hatte. Er hatte nicht den geringsten Schimmer, wer der Täter gewesen sein könnte, welche Motive ihn und die Hintermänner bewegten. Er wusste nur eins, wenn er das eigentliche Opfer hätte sein sollen, wofür viel sprach, dann befand er sich jetzt in Lebensgefahr. Er hatte das unbestimmte Gefühl, observiert zu werden. Jedes schwarze Auto mit abgedunkelten Scheiben im Fond, jedes Klingeln des Handys ohne Gesprächsvermittlung und jede Gestalt im Trenchcoat, welche Auslagen im Schaufenster betrachtete, waren für ihn diffuse Indizien. Seine ehemals geordnete Existenz war aus heiterem Himmel an mehreren Fronten auf einmal ins Ungewisse, ins Chaos geraten.

Er schnitt sich die Fingernägel mit einem Nagelknipser. All die kleinen Halbmonde im Waschbecken waren ein Teil von ihm. Es tat nicht weh, sich von ihnen zu trennen, ähnlich wie beim Leprakranken, dessen Nerven abgestorben sind und bei dem die verstopften Gefäße zu einem Abfallen der Akren führen. Er hatte das Gefühl, dass er über die Jahre größere Stücke seiner selbst verloren hatte. Die Hülle stand zwar noch, doch sein Inneres war morsch geworden. All das was ihm früher Halt und Orientierung gegeben hatten, war nicht mehr da. Er meinte, dass ihm das Schicksal das alles genommen hätte, doch die Wahrheit war, dass er es nicht geschafft hatte, die Dinge zu halten. Immer wieder hatte er sich in einem Anflug von Großmut und gleichzeitigem Schwachsein von Sachen getrennt, die ihm früher lieb und teuer gewesen waren. Seine alten Armbanduhren hatte er an Freunde verschenkt, nachdem er festgestellt hatte, dass er nur eine Uhr tragen musste, um die Zeit ablesen zu können. Seine Sammlung von Eames-Chairs, einst nicht gerade preiswert zusammengekauft, hatte er viel zu billig verscherbelte, als er dringend Geld brauchte. Nach seinem beruflichen Crash gab es auch keine Verwendung mehr für seine zahlreichen edlen Hemden, Anzüge und Jacketts. Zehn Jahre hatte er sich als weltgewandter Manager verkleidet und bei jeder passenden Gelegenheit Krawatten gekauft. Dann hatte er den ganzen Textilkrempel in mehrere Umzugskartons gestopft und zu einem Second-Hand-Laden geschleppt. Er erhielt einen Bruchteil des ursprünglichen Preises.

Schließlich trennte sich seine Frau von ihm. Sein beruflicher Crash hatte zu einer sozialen Ächtung geführt, die auch nicht spurlos an ihr vorübergegangen war. Beim Metzger und beim Bäcker war Frau K. nicht mehr die Frau Doktor. Außerdem war sie mit seiner depressiven Grundstimmung nicht mehr klar gekommen. Er hatte keine größeren Anstrengungen unternommen, sie zu halten. Die Beziehung war nach 25 Jahren einfach ausgeleiert und Ersatzteile waren keine auf Lager.

Die Trennung machte den Verkauf der gemeinsamen Wohnung erforderlich. Wie hatte er diese Wohnung geliebt. Über vier Meter hohe Räume, alte Holzdecken und Stuck überall, dann das honigfarbene Eichholzparkett und die Kastenfenster mit den alten Fensterflügeln und Scheiben, die nach alter Machart gegossen worden waren und durch die hindurch sich die Außenwelt leicht verzerrt darstellte. Alles noch im Originalzustand, 130 Jahre alt. Ein außergewöhnliches Schmuckstück, was an einen schnöseligen Neureich ging, der sogleich Mauern versetzen und Durchbrüche schaffen wollte.

Er starrte auf die Nagelschnipsel im Becken. Er empfand nichts als innere Leere. So wie er nicht in der Lage gewesen war die materiellen Dinge zusammenzuhalten, ging es ihm auch mit den Menschen. Seine beiden Kinder hatte er schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Wenn sie ihn gelegentlich anriefen, zum Geburtstag oder zu Weihnachten, wusste er nicht, was er erzählen sollte. Das was er erlebte, wollte er nicht berichten und alles andere hielt er für zu belanglos, um mitgeteilt zu werden. Und da er keine Ahnung hatte, was seine Kinder so machten, fielen ihm auch keine Fragen zu deren Leben ein. Dementsprechend kurz und hohl gestalteten sich die Telefongespräche.

Ähnlich ging es ihm mit seinen wenigen Freunden, alles erfolgreiche Typen in leidlich intakten Partnerbeziehungen. Was sollte er bloß mit denen bereden? Gegen deren pralles bürgerliches Leben, war sein privates Dasein derartig uninteressant, dass er Angst vor jedem Anruf aus dieser Richtung hatte. Sollte er erzählen, dass er gestern Abend schon wieder eine Wagner-Pizza in den Ofen geschoben hatte, dass er seit acht Jahren dasselbe Auto fuhr oder dass er schon lange keinen richtigen Urlaub mehr gemacht hatte?

Er nahm die Bürste und schob damit unter laufendem Wasser die abgeschnittenen Nägel in den Abfluss. Er hatte das Gefühl, als wenn er ausliefe, als wenn auch noch der letzte Rest seiner selbst in die Kanalisation hinunter gezogen würde.

Gedankenverloren blieb sein Blick an einem silbern glänzenden Metallkasten hängen. Er hatte die Größe einer halben Zigarettenschachtel. Er nahm den kleinen Kasten in die Hand. Der Kasten wog schwer, nicht nur wegen seines Gewichts, sondern auch, weil es sich um den alten Herzschrittmacher seines Großvaters handelte. Es war ein Schrittmacher der ersten Generation. Deswegen war er etwas sperrig. Dieser Talisman begleitete K. überall hin. Sein Großvater war bis ins hohe Alter ein gesunder, ein zäher Mann gewesen. Dessen nachlassende Kraft und Zuversicht waren durch dieses Metallkästchen noch einmal beflügelt worden. Wenn K. den Schrittmacher nur fest genug umfasste, dann spürte er wie die positiven Energien des Großvaters auf ihn übergingen. Mit diesem Schrittmacher in der Hand würde er immer überleben.

4. Tarifa, Frühjahr 2005

Er hatte nicht nur das Bedürfnis, sondern er sah auch die zwingende Notwendigkeit, den ganzen Schlamassel schnell hinter sich zu lassen. Trotz Ebbe in der Kasse war sein Fluchtreflex übermächtig geworden. Möglichst weit weg, aber vertraut sollte der Fluchtpunkt sein. Da fiel ihm sein alter Freund Endo ein, der sich schon seit Jahrzehnten am südlichsten Punkt Europas niedergelassen hatte und dort ein kleines Hotel für Surfenthusiasten betrieb. Innerhalb eines Tages machte er sich auf den Weg. Er wählte die Landroute um in der anonymen Weite der iberischen Halbinsel seine Spuren verwischen zu können. Er rief nicht vorher an, weil er Angst hatte, dass sein Telefon und sein Handy abgehört werden würden. Von unterwegs könnte er eine öffentliche Telefonzelle benutzen, um seine Ankunft anzukündigen.

Die Gegend war ihm vertraut. Früher war er jeden Frühling hier her gekommen. Reizvoll war die Naturbelassenheit der Region, die jedoch nicht vollständig tourismusresistent geblieben war, kein Wunder, befand sich dort doch einer der schönsten Strände Spaniens. Der Küstenbereich war jedoch militärisches Sperrgebiet. Das hatte die üblichen Sünden der maximalen Erschließung als Ferienregion verhindert. Hochhausbeton und Pauschaltouristen gab es nicht.

K. bog nach Passieren des Hafenstädtchens an der ersten großen Kreuzung nach links in die Küstenstraße ab. Er zog die frische Meeresluft in tiefen Zügen ein. Zehn Jahre zuvor hatte man an dieser Stelle die Luft anhalten müssen, wenn der Levante blies. Damals hatte die nahegelegene Seifenfabrik ekelhaft nach vergammeltem Fisch und Ammoniak riechende Schwaden über die karge Landschaft gen Atlantik entsendet. Gott sei Dank existierte die Fabrik nicht mehr.

Weil hier immer der Wind blies, waren Miriaden von Windrädern auf den küstennahen Anhöhen und auf den Bergen Richtung Osten errichtet worden. Es sah aus wie eine Invasion von Schiffsmasten, als wenn die von Lord Nelson besiegte Armada des französischen Vizeadmirals Villeneuve vom Grund des Atlantiks wieder aufgetaucht wäre. Das Kap Trafalgar befand sich um die Ecke. Frappierend war, wie lautlos diese riesigen Apparate ihr Werk verrichteten. Stand man direkt unter einem sich drehenden Rotor, dann konnte man allerdings das leise rhythmische Fauchen der Flügel vernehmen.

Nach mehreren Kilometern schnurgerader Straße bog K. nach rechts ab. Gegenüber lag der Campingplatz mit Wohnmobilen aus aller Herren Länder. Die Straße verlor sich in einem Feldweg, der wohl mal eine leidlich ausgebaute Fahrbahn gewesen war. Davon kündeten einzelne Asphaltinseln. Der Weg schwang sich immer steiler mit engen Serpentinen den Hang hinauf. Rechts und links sah man eine üppige Vegetation, in der zahllose bizarre Felsen wie Skulpturen aufragten. Hier hatte ein Riese mit großen Brocken gewürfelt.

Nachdem man etwa zweihundert Höhenmeter bewältigt hatte, bog man auf ein Plateau ab. Da lag Endos Campo, mitten im Naturschutzgebiet. Es gab nur einen Nachbarn weit und breit, einen Kuhbauern, der ein paar hundert Meter weiter mit seinen wenigen Tieren in einem einfachen Gehöft hauste.

K. stieg aus dem Wagen aus und dehnte sich. Das letzte Mal war er vor fünf Jahren hier gewesen. Da hatte sich das Hausprojekt noch in der Planung befunden. Er setzte sich auf einen Gartenstuhl vor dem Haus. Mitten auf dem Vorplatz war vor einem Mauerfragment ein großer Sandhaufen aufgeschüttet worden, wahrscheinlich Bausand, dachte er sich. Und überall strichen Katzen herum.

Jetzt war der Hausherr angekommen. Endo hatte scharf gebremst. Er sprang aus seinem alten Land Rover.

„Hey Alter, gut dass du da bist.“

Es klang so, als wenn er nur auf K. gewartet hätte. Er drückte K. an seine Brust, dass diesem schier die Luft wegblieb.

Endo äußerte sich nicht zu K.s körperlicher Verfassung. K. empfand das als äußerst rücksichtsvoll. Man hätte durchaus Ansatzpunkte zum Frotzeln gehabt. Ein biologischer Zeitraffer hatte K.s Gesichtsregion aufquellen und zusammen mit der Haut am Hals verwittern lassen. Die Haare waren innerhalb der letzten fünf Jahre fast vollständig ergraut und auch lichter geworden. Über dem Gürtel wölbte sich ein breiter Kiel, den K. mit der Restkraft seiner Bauchmuskeln einzufahren versuchte.

„Jetzt zeige ich dir erst mal das Haus. Es hat sich einiges getan. Du bleibst ja ein Weilchen, da solltest du wissen, wo es lang geht.“

Das Haus selbst war nicht groß. Das Erdgeschoss wurde beherrscht durch einen großen Raum. Dahinter lag eine kleine Küche. Über eine schmale Holztreppe gelangte man in das niedrige Obergeschoss, welches über eine Galerie mit dem Hauptraum verbunden war und auf dem sich mehrere Schlafgelegenheiten befanden. Das alles war schlicht und bescheiden. Dem lag kein anspruchsvolles gestalterisches Konzept zugrunde. Alles war durch reine Zweckmäßigkeit geprägt.

Seitlich von der Terrasse führte eine Treppe hinab auf eine weitere ebene Fläche. Hier versammelte Endo seine Karatefreunde für meditative Übungen und die Durchführung der gemeinsamen Kata, genau vorgegebenen Bewegungseinheiten zum Training für den Ernstfall. Der künstlich angelegte große Tümpel unweit des Hauses war an seinen Rändern mit Schilf zugewachsen. Überall lagen Schläuche herum, welche zum komplizierten Wasserversorgungssystem gehörten.

Endo war der alte geblieben: Gedrungener Körper, harte Muskulatur, kein Gramm Fett, leichte O-Beine, eine wilde sonnengebleichte grau-blonde Mähne struppigen Haares, prominente Nase und ein schraubstockartiger Händedruck. Gegen ihn verblasste jeder Actionheld zum Abziehbild. Endo war das Original. Seine Fingergelenke waren rechts wie links keulenartig aufgetrieben. Tausende von Impulskontakten beim Zertrümmern von Holzlatten und Ziegeln hatten die Finger knorrig gemacht.

Der Mann war voller positiver Energie. Selbst in der Zeit, in der seine beiden Hüftgelenke ihre ursprüngliche knöcherne und knorpelige Struktur zunehmend verloren hatten und sich Gelenkkopf und -pfanne im Röntgenbild als eine amorphen Masse darstellten und er nur noch unter ständiger Schmerzmittelzufuhr und dennoch nicht schmerzfrei laufen konnte, selbst dann war die Aura der Unbesiegbarkeit da gewesen. Gleichwohl hatten sich die Gramfalten tief zwischen Nase und Mund eingegraben.

Er hatte die Hüftoperationen so lange wie möglich hinausgezögert. Als es dann wirklich nicht mehr ging, wählte er eine Operationsmethode aus, welche den Oberschenkelhals erhielt. Nur die Kugel musste geopfert werden. Was ich hab, hab ich, das war sein Hauptmotto und so verfuhr er nicht nur mit seinen Knochen, sondern auch mit seinen Besitztümern und Freundschaften.

Nach einem kurzen Rundgang über das Areal ließ Endo trockenen Chiclana aus dem großen Glasballon laufen und sie machten sich über die mitgebrachten Tappas her. Und während man über die gemeinsamen Freunde sprach, verschwand die Sonne Andalusiens hinter dem Horizont. Zwischendurch stand Endo auf und verschwand im Dunkeln. Sein Wiederauftauchen wurde von diversen Schmatzgeräuschen begleitet. Er hatte die Fressnäpfe der Katzen gefüllt. In den Nischen der alten Mauer verspeisten die Tiere ihre Abendmahlzeit.

„Ich habe ein Herz für Katzen. Das hat sich herum gesprochen. Von überall her laufen mir die Tiere zu. Die fressen mich arm. Und sie haben hier überall hingepinkelt. Jetzt habe ich sie so weit, dass sie ihr Geschäft auf dem Sandhaufen verrichten.“

Die Katzen schmatzten unentwegt und die Zikaden zirpten um die Wette.

„Übrigens, ich habe einen Meditationsfelsen“, informierte Endo, „komm mal mit.“

Vom Plateau des Hanggrundstückes führte ein Holzsteg auf einen vor gelagerten Felsbrocken. Dort oben konnten zwei Personen bequem sitzen.

„Morgen früh wirst du sehen, dass gleich hier unten ein Mangrovenhain liegt. Vereinzelt sind Pinien und Zypressen eingestreut. Darunter liegen Wiesen, auf denen wilde Calla-Blumen wachsen. Hinter der Landzunge liegt Gibraltar und gegenüber sieht man bereits auf der afrikanischen Seite in Umrissen die Felsformationen von Ceuta. Was da rechts flimmert, das sind die spärlichen Lichter von Tanger.“

K. war überwältigt. Der Sternenhimmel war hier irgendwie üppiger mit Gestirnen ausgestattet, als zu Hause. Der fast volle Mond warf einen fahlen Lichtstreifen auf die leicht ondulierte Fläche des Atlaniks. Weit und breit war kein Schiff zu sehen.

Beide schauten über Landschaft und Meer.

„Wie oft kann man einem die Eier abschneiden?“, fragte K.

„Wenn du beide auf einmal abnimmst, dann eigentlich nur ein Mal.“

„Richtig. Und mir wurden beide zugleich abmontiert. Ich bin psychisch entmannt worden. Bei derartigen Metamorphosen verliert man ganz schnell Reputation, Anerkennung, Respekt und soziale Stellung, alles Dinge, die sich langsam aufbauen und die einem dann ganz selbstverständlich erscheinen. Das alles ist nach der Operation schlagartig vorbei. Man ruft dich nicht mehr an, auf der Straße schaut man an dir vorbei, deine Meinung interessiert keine Sau mehr. Einmal im Abseits besteht die Gefahr, dass du deine Bemühungen verstärkst, um wieder so etwas Ähnliches wie deinen alten Status zu erreichen. Und dann kann es passieren, dass du ganz schnell dumme Sachen machst, die dich noch schneller ins soziale Off befördern.“

Endo schaute K. von der Seite an und lachte. „Du hast das einzig Richtige gemacht. Du bist hierher gekommen.“

„Ich sehe mich mit meinen letzten Habseligkeiten im geklauten Einkaufswagen auf dem Weg zu meinem neuen Zuhause. Und das liegt unter der Brücke, wo ein großes Feuer in einer Tonne lodert. Um das Feuer stehen verkommene Typen mit zotteligen Bärten und die haben Literflaschen Billigwein in der Hand und grölen. Hier muss ich mich ganz weit hinten anstellen, damit ich dann auch mal kurz an die warme Tonne darf.“

„Ach nun lass mal, wir finden deine Eier schon wieder“, war der einzige Kommentar zu K.s Lamento. Endo dachte nicht komplex, sondern geradeaus.

K. wusste, dass er erst mal mit sich selber ins Reine kommen musste, bevor er weitere Pläne schmieden könnte. Er spürte im Laufe der Tage in der Einsamkeit der Küstenberge, wie langsam wieder Zuversicht bei ihm einkehrte. Der Aufenthalt im Campo und die Begegnungen mit Endo wirkten wie eine geheime Kräutermixtur in der Wundsalbe, welche er auf seine aufgescheuerte Seele streichen konnte. Langsam bildeten sich Narben und er fasste wieder Zutrauen zu sich selber.

Die Stadtresidenz Endos, das Kloster, lag Mauer an Mauer direkt neben der Kirche. Auch damals schon hatte man kurze Wege geschätzt. Beide Gebäude hatten einen gemeinsamen Vorplatz, den Engelsplatz, nur wenige Gehminuten vom Stadtzentrum entfernt. Genau genommen gab es gar kein Stadtzentrum, das Cafe Central war der städtische Mittelpunkt, zumindest für die Surfer.

Vom Engelsplatz aus war vom Kloster nur ein schmaler Wandstreifen zu sehen. Deswegen unterschätzte man die wahren Ausmaße des Gebäudes. Der Eingang war überwuchert von purpurfarbenen Buganvillen. Öffnete sich ein Flügel der Eingangstüre, trat man in ein großes Patio, welches sich über vier Etagen erstreckte. Von den Galerien gingen die Türen zu den unterschiedlich großen Appartements ab. Diese Architektur war zum Zeitpunkt, als Endo das Kloster erworben hatte, faktisch nicht existent. Er hatte eine Ruine gekauft. Bei den peu a peu fortschreitenden Sanierungsarbeiten hatten sie Kinderskelette im Bereich der Fundamente gefunden. Es war also tatsächlich ein Frauenkloster gewesen.

Damals vor zwanzig Jahren war das Experiment losgegangen. K. war sich sicher, dass der gute Freund scheitern würde und allenfalls eine aufgeräumte Schutthalde zustande käme. Er wohnte damals im einzigen Hotel direkt am Strand, dem Dos Mares, errichtet auf Weltkrieg-II-Bunkern. Endo hingegen hauste mit einigen Freunden in der Ruine. Er hatte eine provisorische Dusche im Patio installiert. Ohne Türe, ohne Vorhang konnte hier geduscht werden. Endo nannte es die Bärenshow, wenn die Damen im lauwarmen Strahl des Duschprovisoriums ihrer Körperpflege huldigten. Niemand konnte sich auch nur im Entferntesten vorstellen, wie aus diesem Arrangement jemals eine geordnete häusliche Infrastruktur entstehen sollte.

Jahre später existierten vier Etagen. Das Patio war mit einer Glaskuppel überdacht und unten, am Ort der einstmaligen Bärenshow, stand eine Kutsche aus mittelfränkischer Produktion - mittlerweile fast hundert Jahre alt - auf einer mit Ziegelfliesen belegten Grundfläche. Darüber baumelte ein wunderschöner Leuchter, ganz aus graublauem Glas gefertigt, mit einem Durchmesser, so groß wie ein Wagenrad, viel zu schade für die rustikale Umgebung. Der Lüster – K. konnte seine Historie nicht genau nachempfinden, irgendetwas zwischen Biedermeier und frühem Art Deco war es wohl - hätte sich prächtig als Lichtquelle in einem Berliner Loft gemacht. Oben auf der Dachterrasse flatterten Carmens Dessous zwischen der Bettwäsche im unablässigen Wind.

Wer hätte das gedacht: Das Gebäude war reanimiert worden. Keine Frage, es gab größere Projekte, es gab woanders mehr Glamour, mehr Chichi, mehr Architektur. Aber es gab nur wenige Gebäude, denen man anmerkte, dass sie durch den Willen und die Kraft eines Einzelnen entstanden waren.

Mehrmals in der Woche begab sich K. nachmittags in die Stadt. Er kaufte das Nötigste ein, viel brauchte er nicht zum Leben. Immer schaute er im Kloster am Engelsplatz vorbei. Häufig blieb er bis abends. Ganz selten, wenn der Fino zu reichlich geflossen war, fiel er zu später Stunde in das Bett eines leeren Appartements, um dann am nächsten Morgen mit Endo und Carmen zu frühstücken.

Der bevorzugte Platz am Abend war eine Sitzgruppe auf der Dachterrasse. Nach dem heißen Tag spendete der ablandige Poniente angenehme Kühlung.

K. bemerkte eine auf dem Tisch liegende Visitenkarte. Er nahm sie beiläufig in die Hand. Jerry Gibson, Chief Executive Officer DELPHI, stand auf der Karte.

„Wie kommst du denn an den?“, fragte er Endo erstaunt.

„Der war heute Vormittag hier. Er will nächstes und übernächstes Jahr das Kloster für mehrere Monate mieten und zwar das ganze Kloster.“

„Du weist schon, wer das ist?“

„Klar, der drittreichste Mann auf der Welt.“

„Der hat eine Yacht, die ist fünfmal so groß wie dein Kloster. Was will er hier?“

„Nicht er, sondern seine Jungs sollen hier wohnen. Es ist noch nicht offiziell, aber der nächste Americas Cup wird in Tarifa stattfinden.“

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