Kitabı oku: «Das Lächeln der Freiheit»
Paul Linden
Das Lächeln der Freiheit
Über Selbststärkung und Körperbewusstsein Ein Leitfaden zur Traumabewältigung
Aus dem Englischen von Mathias Nelle
Copyright © 2006 by Paul Linden
Copyright © 2007 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag, Freiamt
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Winning is healing — Basics
Originally published in the United States by CCMS Publications Columbus, Ohio
Alle Rechte vorbehalten
E-Book 2017
Korrektorat: Dr. Richard Reschika
Gestaltung: Anke Brodersen
ISBN E-Book: 978-3-86781-190-3
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
Diese Buch widme ich den Missbrauchsüberlebenden, die ich unterrichtet und von denen ich so viel gelernt habe. Ich widme es all denen, die Schmerz erleiden, und jenen, die an der Heilung allen Seins arbeiten.
Inhalt
Vorbemerkung des Übersetzers | |
1 | Einleitung |
2 | Kraft: Der weiche Kern |
3 | Die Konzepte im Hintergrund |
4 | Machtlosigkeit |
5 | Lernen |
6 | Körperbewusstsein |
7 | Selbststärkung: Das Zentrum stabilisieren |
8 | Selbststärkung: Liebe, Ausgedehntheit |
9 | Selbststärkung: Arme, Beine, Gesicht |
10 | In der Welt bestehen: Grenzen |
11 | In der Welt bestehen: Selbstverteidigung |
12 | Dem eigenen Körper folgen |
13 | Die Heilung der Welt |
Danksagung | |
Vorbehalt | |
Markenschutz | |
Trainings und Seminare |
Vorbemerkung des Übersetzers
Mädchen und Jungen, Männer und Frauen können Opfer von Gewalt und Missbrauch werden. Das Gleiche gilt analog für die Täterseite. Im Englischen werden Substantive nicht geschlechtsspezifisch variiert. Perpetrator (Täter/in), victim (Opfer), survivor (Überlebende/r) sind neutrale Bezeichnungen und werden für Männer wie Frauen gleichermaßen verwandt. Paul Linden hat in einigen Fällen männliche und weibliche Personalpronomen nebeneinander gestellt, um diesem Sachverhalt Rechnung zu tragen und deutlich zu machen, dass es kein Opfer- oder Tätergeschlecht gibt. Ich habe lediglich aus Gründen der Lesbarkeit für die Übersetzung durchgehend die traditionelle, auf der maskulinen Substantivform basierende Schreibweise gewählt. Sie können beim Lesen und Durcharbeiten dieses Buches jede Rolle beliebig besetzen, ganz, wie es der Realität entspricht.
1Einleitung
Nancy wurde von ihrem Vater als Kind geschlagen und sexuell missbraucht. Ihr Psychotherapeut verwies sie an mich, weil sie etwas über Körperbewusstsein und Selbststärkung lernen sollte. Tatsächlich wurde sie nicht einfach an mich verwiesen, sie wurde gebracht. Ihr Therapeut begleitete sie zu unserer ersten Stunde, weil Nancy sich fürchtete, allein zu kommen.
In den gemeinsamen Stunden wirkte Nancy oft hart und angespannt. Ihr Kinn hob sich, sie nahm ihren Kopf nach hinten und zog ihn ein. Sie ballte die Fäuste, die Schultern wurden hart. Paradoxerweise ging diese Anspannung immer mit einem völligen Zusammenbruch Nancys einher. Ihr Körper verlor jegliche Kraft, sackte zusammen und sie trat innerlich weg.
Nachdem wir einige Male miteinander gearbeitet hatten, äußerte ich, auf mich wirke diese Verbindung von Verhärtung und Zusammmenbruch wie die Vorbereitung auf eine Niederlage. Sie verhärte sich, um sich unempfindlich gegen die Misshandlung zu machen und sich zu wehren, gleichzeitig wisse sie, dass dies aussichtslos sei. Ihr eigentliches Ziel sei, keine Regung zu zeigen, wenn sie wieder vergewaltigt werde. Nancy antwortete, genau so sei ihr Leben verlaufen.
Im Verlauf von sechs Monaten gemeinsamen Arbeitens half ich Nancy dabei, in ihrem gesamten Körper ein Gefühl von Bewusstheit, Stärke und Liebe zu schaffen, einen physischen Zustand innerer Weite und Freude.
Wir nutzten diesen Zustand als Ausgangspunkt, um ihre körperliche Empfindungslosigkeit und die seelischen Dissoziationen zu erforschen und allmählich aufzuheben. So war sie in der Lage, sich mit dem zu konfrontieren, was ihr angetan worden war. Und wir nutzten diese körperliche Wachheit als Lerngrundlage für Selbstverteidigungstechniken. Nancy lernte, präsent und fokussiert zu bleiben und zu SIEGEN, wenn ich die Rolle ihres Misshandlers spielte. Sie erlebte, dass Kraft liebevoll und lebensbejahend sein kann, und war aus dieser warmherzigen Stärke heraus fähig, ihren Körper und ihr Leben wieder in Besitz zu nehmen.
Gegen Ende unserer Zusammenarbeit betrat Nancy eines Tages strahlend die Praxis und ich fragte sie, was los sei. Als sie bei ihren Eltern zu Besuch war, hatte ihr Vater einen seiner Wutanfälle bekommen. Früher hatte er sie in solchen Situationen oft bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt, um sie zum Schweigen zu bringen. Als er dies nun wieder versuchte, hörte Nancy nicht auf zu atmen und dissoziierte auch nicht. Automatisch atmete sie vielmehr tief durch und fiel in die von uns geübte Haltung von Balance, Stärke und Liebe. Sie wehrte den Griff ihres Vaters ab, wirbelte ihn herum, schleuderte ihn gegen die Wand und sagte laut und deutlich: „Das kannst du nie wieder mit mir machen!“ Dann ging sie. Das ist wahre Heilung: Nancy war mittels eigener Fähigkeiten, die sie als Erwachsene entwickelt hatte, in genau der Situation erfolgreich, in der sie als Kind überwältigt worden war.
Nancy reagierte auf den Angriff ihres Vaters nicht mit Anspannung, Angst und Schock, wodurch sie in der beschriebenen Situation wieder die Unterlegene gewesen wäre. Sie reagierte auch nicht mit Wut und Brutalität, was ihr zusätzlichen inneren Schmerz verursacht hätte, selbst wenn sie den Kampf mit ihrem Vater gewonnen hätte. Sie reagierte kraftvoll aus einer inneren Haltung der Liebe heraus. Das machte es ihr möglich, zu siegen, auf eine Art zu siegen, die für sie selbst heilend war.
Macht wird oft mit Gewalt assoziiert, und in einem Konflikt zu siegen gilt vielen als Synonym für Aggression. Dieses Buch führt über die verbreitete Auffassung von Macht als Gewalt hinaus. Erfahrbar wird, wie wichtig es ist, gleichermaßen spirituell und praktisch Macht und Liebe zusammenzuführen. Ein Sieg, der in warmherziger Stärke gründet, ist lebensbejahend und der einzige Ausweg aus dem Kreislauf von Schmerz, Angst, Wut und Gewalt.
Als Sie missbraucht wurden, erlebten Sie ihre Machtlosigkeit sehr tief, sehr eindringlich.* Beim Durcharbeiten dieses Buches werden Sie zunächst lernen, genau wahrzunehmen, was Sie selbst fortwährend mit und in Ihrem Körper tun, so dass Ihr Gefühl, machtlos zu sein, erhalten bleibt. Der nächste Schritt führt Sie an die Entfaltung eines somatischen, Leib und Seele umfassenden Zustands von Macht und Liebe heran. Sie lernen, wie ihre Fähigkeit zu Achtsamkeit, Stärke und Liebe zur Grundlage von Sicherheit, Freiheit und Freude in Ihrem Leben wird.
Winning is healing – im Siegen liegt Ihre Heilung!
Ihre Niederlagen haben Sie in die Falle geführt. Die Erfahrung des Siegens wird es Ihnen erlauben, Ihren Körper wieder selbst zu beanspruchen und Ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Zu siegen heißt zu leben, mit Stärke, Liebe und Freude in Körper und Geist. Dieses Buch zeigt Ihnen, wie Sie siegen werden.
In nuce
Die in diesem Buch vorgestellte Arbeit kann auf zwei Grundideen reduziert werden:
Menschen lernen als Folge eines Missbrauchs, dass sie macht- und wehrlos sind und sich nicht schützen können. Sie reagieren auf den Missbrauch durch die Verengung ihrer Achtsamkeit, ihres Atems und ihrer Körperhaltung und sie konservieren diese Selbsteinschränkung über den unmittelbaren Missbrauch hinaus.
Diese Selbstbeengung schafft eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Die Enge produziert Schwäche, die Schwäche führt zu erneuter Viktimisierung, die Wiederholung der Opfererfahrung verstärkt das Gefühl, machtlos zu sein, und macht daraus einen Dauerzustand.
Durch behutsames, bewusstes und systematisches Wiederholen können Missbrauchsüberlebende lernen, einen Zustand größerer Achtsamkeit, offenen Atmens, gut ausgerichteter Körperhaltung und freier Beweglichkeit herzustellen und zu nutzen. Diese somatische Befindlichkeit ist die Grundlage jeder Form effektiven und erfolgreichen Handelns und somit jeder effektiven Selbstverteidigung.
Die Neuzündung des jedem Menschen innewohnenden Vermögens, sich zu verteidigen, erlaubt es Missbrauchsüberlebenden, das Gefühl erlernter Machtlosigkeit durch einen Sinn für die eigene Wirkmächtigkeit und Freude zu ersetzen.
Das Verfahren der Selbststärkung ist einfach und logisch. Während eines Bewegungsexperiments setze ich einen Überlebenden einer gewissen Herausforderung aus und fordere ihn auf, auf seinen Körper zu achten und seine Reaktionen auf diese Herausforderung zu entdecken. Hier zeigen sich normalerweise einige Aspekte des Selbstbeengungsprozesses. Nun bringe ich meinem Klienten bei, wie er selbst einen neuen Körperzustand von Gleichgewicht, Freiheit, Liebe und Stärke herstellen kann. Danach setze ich ihn ein zweites Mal der gleichen Herausforderung aus und unterstütze ihn dabei, allmählich den veränderten Körperzustand als Handlungsgrundlage für seinen Umgang mit der Situation zu wählen. Im Allgemeinen erleben meine Klienten, dass sie sehr viel variantenreicher und wirkungsvoller auf Herausforderungen reagieren können, wenn sie dabei zentriert bleiben. Wir beginnen mit verhältnismäßig sanften, symbolischen Herausforderungen, gehen dann zur sprachlichen Darstellung des Missbrauchs über und enden mit einem Rollenspiel des tatsächlichen Missbrauchs. Am Ende dieser Sequenz sich steigernder Herausforderungen haben Missbrauchsüberlebende die praktische Fähigkeit entwickelt, zentriert zu bleiben, sich zu schützen und sich selbst zu respektieren.
Diese Methode der Traumaverarbeitung ist auf den Körper ausgerichtet. Missbrauch wird dem Körper zugefügt. Geschlagen oder vergewaltigt zu werden geschieht offensichtlich körperlich. Aber auch angeschrien oder belogen zu werden berührt den Körper. Der Missbrauch trifft den Körper, die Folgen des Missbrauchs erhalten sich im Körper und jede Überwindung eines Missbrauchs schließt körperliches Umlernen ein.
Der Körper ist wichtig, um sich selbst wahrzunehmen und zu fühlen. Alle Gefühlsbewegungen wie Angst, Wut, Dissoziation, Scham usw. sind Körperprozesse. Sie kommen am einfachsten mit Ihren Gefühlen in Kontakt, wenn Sie auf die Körperereignisse achten, die in Ihnen, oft außerhalb jeder bewussten Wahrnehmung, geschehen.
Der Körper ist ebenfalls wichtig, wenn Sie lernen wollen, Ihre Gefühle zu beherrschen. Indem Sie gewohnheitsmäßige, einschränkende Verhaltensweisen durch körperliche Freiheit und Balance ersetzen, können Sie die gewohnten Gefühle, die Sie mit dem Missbrauch verbinden, hinter sich lassen.
Offensichtlich brauchen Sie Ihren Körper, wenn Sie lernen wollen, kraft- und wirkungsvoll zu handeln. Sprechen oder Gehen sind körperliche Tätigkeiten, und je mehr Freiheit und Effizienz Sie in Ihrem Körper erleben, desto wirkungsvoller wird Ihr Handeln sein. Selbstschutz ist etwas sehr Körperliches. Sich vor Ohrfeigen oder Vergewaltigungen schützen zu lernen, muss körperliche Selbstverteidigung beinhalten. Wenn Sie für sich selbst eintreten und von anderen Respekt fordern, müssen Sie atmen und sich artikulieren – beides ist körperlich.
Ihre Worte werden Kraft haben, wenn Ihre Stimme offen ist und trägt.
Für wen ist dieses Buch geschrieben?
Dieses Buch ist für Missbrauchsüberlebende geschrieben und für Menschen, die mit Missbrauchsüberlebenden arbeiten. Es ist eine Einführung für all diejenigen, die wissen möchten, wie der Körper in den Genesungsprozess einbezogen werden kann. Es ist an diejenigen gerichtet, die die Selbststärkungsarbeit kennen lernen und die entscheidende Funktion der Selbstmächtigkeit im Prozess der Heilung von Missbrauchsüberlebenden verstehen wollen.
Dieses Buch ist eine Einführung, in der ich die für meinen Arbeitsansatz wesentlichen Themen relativ kurz abhandle.
Die längere Fassung dieses Buches, Winning is Healing, behandelt auf 420 Seiten detailliert und umfassend die Bedeutung von Körperbewusstsein und Selbststärkung in der Heilung von Missbrauchsüberlebenden. Winning is Healing ist ein Trainingshandbuch, das ich geschrieben habe, um Menschen überall auf der Welt die Möglichkeit zu geben, meine Methoden zu studieren und wirkungsvoll in der Arbeit mit Missbrauchsüberlebenden anzuwenden.
Ich habe diese einführende Fassung geschrieben, um einen lesbaren Überblick über das Thema zu geben. Täuschen Sie sich nicht: Dieses Buch ist experimentell und praktisch. Sie werden lernen, sehr sinnvolle Dinge zu tun. Aber dieses Buch ist auch dazu gedacht, schnell und einfach gelesen und genutzt zu werden. Es vermittelt Ihnen den Kern meiner Arbeit.
Wenn Sie Missbrauchsüberlebender sind, zielt das Buch direkt auf Ihre praktische Fähigkeiten und Ihr praktisches Verständnis. Sie werden Übungen machen, die Ihre (Selbst-) Wahrnehmungsfähigkeit steigern, erfahren, wie Sie Ihren Körper wieder selbst in Besitz nehmen und wie Sie Zugang zu Ihrer Kraft bekommen können. Sie werden üben, sich der Liebe zu öffnen, in Sicherheit Ihre eigene Wahrheit auszusprechen und den Missbrauch hinter sich zu lassen. Es ist möglich, diese Übungen allein oder in einer Gruppe von Betroffenen anzuwenden, mit oder ohne professionellem Therapeuten oder Bewegungslehrer.
Dieses Buch richtet sich vor allem an Erwachsene, die als Kind sexuell missbraucht wurden. Gleichwohl: Was Sie brauchen, um die Folgen von körperlicher Misshandlung oder Vernachlässigung in der Kindheit zu verarbeiten und zu überwinden, ähnelt sehr dem Prozess, den ich exemplarisch für die Verarbeitung sexuellen Missbrauchs vorstelle. Dies gilt auch für die Verarbeitung von Gewalterfahrungen Erwachsener, etwa von körperlichen Angriffen, häuslicher Gewalt oder Vergewaltigung. Autounfälle, Brände, Operationen, lebensbedrohliche Krankheiten: Viele Traumata haben keinerlei Verbindung zu Missbrauchssituationen, und doch lassen sich diverse Elemente des somatischen Heilungsprozesses anwenden. Das vorgestellte Material kann Ihnen sogar bei der Verarbeitung von Traumatisierungen helfen, die Sie geerbt haben. So habe ich mit den Kindern von Missbrauchs- und Holocaustüberlebenden gearbeitet, die durch ihre Eltern sehr tief verwurzelte Traumareaktionsmuster erlernt hatten, die sie überwinden mussten. Also, auch wenn Sie als Kind nicht sexuell oder überhaupt nicht selbst missbraucht wurden: Lesen Sie dieses Buch und suchen Sie sich das heraus, was sich auf Ihre besondere Situation anwenden lässt.
Geschrieben für Missbrauchsüberlebende ist dieses Buch auch für diejenigen nutzbringend, die mit Überlebenden arbeiten. Wenn Sie beruflich in diesem Feld tätig sind, finden Sie hier Techniken, um die Körperselbstwahrnehmung Ihrer Klienten zu fördern. Die gleichen Techniken, die die von Ihnen betreuten Missbrauchsüberlebenden stärken, werden Sie selbst dabei unterstützen, den Schmerz, den Ihre Klienten mitbringen, wahrzunehmen, ohne ihm anheimzufallen.
Wenn Sie psychotherapeutisch arbeiten, ist Ihnen die Missbrauchsthematik selbstverständlich vertraut. Der körperorientierte Ansatz dieses Buches wird Ihren therapeutischen Blick um eine machtvolle (selbst-) erzieherische Perspektive in der Arbeit mit Missbrauchsüberlebenden erweitern.
Körperarbeit, Massage, Tanztherapie, Kampfkunst, Yoga, viele Formen von Körpererziehung und Bewegungsschulung, die darauf zielen, Körper und Geist zu integrieren, können Missbrauchsüberlebenden in unterschiedlicher Hinsicht helfen, sich selbst und ihr Leben eigenständig zu bestimmen. Wenn Sie in einem dieser Bereiche professionell tätig sind, werden die Informationen und Techniken dieses Buches Ihr Verständnis für das, was Sie bereits tun, vertiefen und Ihren Werkzeugkasten um einige neue Hilfsmittel erweitern.
Wenn Sie das in diesem Buch präsentierte Material beruflich nutzen möchten, ist es sinnvoll, die einzelnen Übungen am eigenen Leibe zu erfahren und im Rahmen einer kollegialen Arbeitsgruppe auszuprobieren.
Übungen und Praxis
Das vorliegende Buch besteht größtenteils aus Achtsamkeitsexperimenten, die Ihr Körper- und Bewegungsbewusstsein betreffen. Sie werden experimentell lernen, d.h., die Übungen werden Sie vor gewisse Aufgaben stellen, und Sie werden die Gelegenheit bekommen, verschiedene Lösungsmöglichkeiten zu erkunden und anhand ihrer Vorteile zu bewerten.
Die meisten dieser Übungen sind kurz: Vier oder fünf Minuten genügen in der Regel. Indem Sie nur ein paar Minuten lang Ihre Aufmerksamkeit ununterbrochen Ihren Bewegungen zuwenden, werden sich sowohl Ihr Aufmerksamkeitsraum als auch Ihre Bewegungsfähigkeit überraschend erweitern und verfeinern.
Sie werden diese Übungen nur einmal machen. Es sind Experimente, mit denen Sie einen Gedanken oder eine Bewegung testen. So schärfen Sie Ihre Achtsamkeit für die Art und Weise, mit der Sie in Ihrem Körper sind und der Welt begegnen. Nach einem solchen Experiment werden Sie etwas Neues gefühlt und wahrgenommen haben, das nun Teil Ihres Achtsamkeitshorizonts geworden ist. Es ist nicht nötig, diese Experimente zu wiederholen. Andere Übungen habe ich mit Praxis überschrieben. Sie dienen nicht nur der Informationsvermittlung, sondern können wie Exerzitien regelmäßig angewandt werden, um neu entdeckte Fähigkeiten und wachsende Bewusstheit für den eigenen – inneren wie äußeren – Wahrnehmungsraum zu vertiefen und zu stabilisieren. Die einzelnen Übungen und Anleitungen zu regelmäßiger Praxis erscheinen im Folgenden als separate, aus dem fortlaufenden Text hervorgehobene Blöcke.
Für sich selbst sorgen
Ich empfehle Ihnen eine gewisse Vorsicht im Umgang mit diesem Buch. Unterziehen Sie sich den einzelnen Übungen nur so weit und so lange, wie es sich für Sie richtig anfühlt.
Missbrauchsüberlebende erschrecken oft, wenn sie ihre Achtsamkeit wieder dem eigenen Körper zuwenden. Einige Übungen können Erinnerungen an Ihre eigenen Missbrauchserfahrungen wecken. Sie werden, indem Sie mit diesem Buche arbeiten, eine Schärfung Ihrer Achtsamkeit und eine Zunahme Ihrer inneren und äußeren Stärke erfahren. Sie werden sich besser und sicherer fühlen. Gerade in der Anfangsphase ist es aber sehr wichtig, dass Sie sich selbst ernst nehmen, wenn Ihnen Übungen unangenehm sind. Respektieren Sie Ihre Gefühle und suchen Sie nach einer Möglichkeit, Übungen, bei denen Sie sich unwohl fühlen, so abzuändern, dass Sie Ihnen leichter fallen.
Wenn Sie sich als Überlebender an das Selbstexperiment machen, dieses Buch durchzuarbeiten, ist es wichtig, jedes Gefühl von Kraftlosigkeit, Ohnmacht und Kontrollverlust zu vermeiden. Deshalb gilt – wichtig: für jede Übung, die Sie machen! – eine Sicherheitsvereinbarung.
Diese Sicherheitsvereinbarung beinhaltet, dass Sie die Verantwortung für sich selbst übernehmen. Wenn Sie eine Übung abbrechen wollen, tun Sie dies unter allen Umständen. Wollen Sie eine Übung verlangsamen, tun Sie auch das. Sie brauchen nichts zu erklären. Teilen Sie dem Übungspartner Ihre Entscheidung mit und legen Sie gemeinsam vor Beginn des Experiments fest, dass dies immer respektiert und eine Übung Ihrem Wunsch entsprechend verlangsamt oder abgebrochen wird.
* Vielleicht wurden Sie nicht missbraucht, Sie lesen dieses Buch, weil Sie mit Missbrauchsüberlebenden arbeiten. Vieles in diesem Buch richtet sich direkt an Missbrauchsüberlebende, in anderen Passagen sind diejenigen angesprochen, die beruflich mit Missbrauchsüberlebenden arbeiten. Gleich welcher Gruppe Sie angehören, lesen Sie das ganze Buch und verwenden Sie das, was für Sie nützlich ist.
2Kraft
Der weiche Kern
Es erscheint logisch, bei der Untersuchung eines Traumas mit dem Verlauf und den Auswirkungen der Traumatisierung zu beginnen. Die Überwindung der Traumatisierung wäre dann der nächste Schritt. Ein solches Vorgehen ist möglicherweise logisch, sicher ist es nicht.
Um die eigene Machtlosigkeit sicher und produktiv untersuchen zu können, müssen Sie zuerst wenigstens ansatzweise Ihre eigene, wahre Stärke erlebt haben. Und um Einengung und Einschränkung als Ergebnis Ihres eigenen Verhaltens und Handelns zu verstehen, brauchen Sie die Erfahrung eigener Ausdehnung und Offenheit, um über ein Vergleichsgefühl zu verfügen.
Bevor ich damit beginne, mit meinen Klienten ihre gewohnheitsmäßigen Reaktionsmuster zu bearbeiten, verwenden wir erst einmal viel Zeit auf die Entwicklung und Pflege neuer Fähigkeiten, von Kraft und Liebe. Kraft und Liebe sind expansiv und symmetrisch, sie sind das Gegenteil und das Antidot von Kleinheit und Verbiegung. Wir werden deshalb die somatische Arbeit in diesem Buch mit einigen Übungen beginnen, die Ihnen eine Erfahrung Ihrer eigenen Kraft verschaffen.
Die Natur von Macht und Ohnmacht
Der Weg, auf dem die Gewohnheit der Selbsteinengung durchbrochen werden kann, besteht darin, Stärke* zu erlernen. Stärke und ein offenes Herz ändern alles. Einer Bedrohung dadurch zu begegnen, dass Sie in einer bestimmten Situation die Wahrheit über diese Situation aussprechen, Ihre Gefühle und Bedürfnisse artikulieren und NEIN sagen – das ist Stärke. Den Arm eines Angreifers zu brechen, wenn er Sie weiter bedrängt – das ist Sicherheit.
Machtlosigkeit bedeutet Einschränken der Atmung, Anspannen der Muskeln, Schrumpfen der Haltung. Machtlosigkeit beinhaltet Muster der Körperempfindung, Haltung und Bewegung, die verkleinernd und unregelmäßig sind. Diese Muster sind beengt oder kollabiert, schief oder verdreht. Der Zustand der Stärke hingegen ist ein Zustand der Ausdehnung und der Symmetrie.
Der souveräne, zentrierte Zustand ist offen, strahlend, kraftvoll, weich, stabil, fließend, massiv, leicht, balanciert und gleichmäßig. Dieser Zustand ist gleichermaßen physisch, emotional und spirituell. Körperliche Lernprozesse führen zur Erfassung der emotionalen und spirituellen Aspekte der Souveränität.
Macht ist die Fähigkeit, die eigene Umgebung so zu kontrollieren, dass die eigene Sicherheit gewährleistet ist und eigene Wünsche und Bedürfnisse gesichert sind. Macht beinhaltet die Elemente Zwang und Kontrolle. Souveränität hat mit körperlichen Qualitäten wie Solidität, Gewicht, Erdung, Entschlossenheit und Spannkraft zu tun. Diejenige Organisiertheit des Körpers, die physische Stärke hervorbringt, ist ebenso die Quelle emotionaler und personaler Stärke und damit des Vermögens, im Leben kraftvoll zu handeln.
Viele Menschen glauben, Macht sei etwas wesentlich Schlechtes. Wir alle haben schon einmal den Satz gehört: „Macht korrumpiert und absolute Macht korrumpiert absolut“. In Wahrheit sind der Missbrauch und die Rücksichtslosigkeit, die oft als Merkmale von Machtausübung gelten, lediglich ein Ausdruck von Angst und Schwäche. Echte Macht, echte Stärke ist nicht schlecht, sie ist liebevoll und nährend.
Es ist wichtig, dass die Stärke, die Sie aufbauen, eine Verbindung mit Ihrer Fähigkeit, zu lieben, eingeht. Macht ohne Liebe kann sich nur brutal äußern, Stärke, die in Liebe wurzelt, heilt. Wenn Sie brutal werden, verletzen Sie sich selbst. Missbrauchsüberlebende werden oft jede Form der Machtausübung ablehnen, weil sie Macht und Stärke nur in Verbindung mit Brutalität kennen gelernt haben und sich den Tätern nicht gleichmachen wollen. Es gibt aber eine warmherzige, liebevolle Stärke, die Grundlage jeder Humanität ist. Sie können – wenn Sie sich beispielsweise verteidigen müssen – jemandem respektvoll und mit offenem Herzen, sagen wir, den Arm brechen. Es wird in diesem Buch oft darum gehen, wie Sie Stärke und Liebe integrieren können.
Solange Sie schwach und machtlos bleiben, kann der Schmerz nicht verheilen. Was für Gefühle, welches Verhalten auch immer Ergebnis des Ihnen zugefügten Missbrauchs sind: Die Verhaltensweisen, die Sie entwickelt haben, waren für Sie der vermeintlich beste oder einzige Weg, um die Schmerzen zu ertragen und zu überleben. In der Empowerment-Arbeit lernen Sie, in sich einen zentrierten Zustand der Selbstmächtigkeit zu schaffen, aus dem heraus Sie anders handeln können, als es Ihre alten Gewohnheiten, Ihre Angst und Ihre Schwäche erlaubten.
Viele Überlebensstrategien sind in Wirklichkeit Ausdruck von Machtlosigkeit. Dissoziieren oder tagträumen, die eigenen Körperempfindungen nicht wahrnehmen, zu viel essen, rauchen, Alkohol trinken, zu viel üben oder trainieren, alle diese Verhaltensweisen können als Betäubungsmittel fungieren und dabei helfen, zu überleben. Diese Strategien sind ihrerseits schmerzhaft und zerstörerisch, obwohl die Missbrauchsfolgen damit effektiv unter Kontrolle gehalten werden können. Überlebende zahlen einen hohen Preis für ihre Wahl. Strategien, die funktionieren, aber wehtun, können Sie nicht aufgeben, solange Sie sich weiter machtlos machen. Sie werden dysfunktionale Bewältigungsmuster nur überwinden, wenn Sie durch neue Handlungsmöglichkeiten, die als Werkzeuge des Überlebens deutlich wirksamer und bequemer sind, ersetzt werden.
Es ist notwendig, die Bewältigung realer Missbrauchssituationen zu üben. Wenn Sie angebrüllt werden, müssen Sie lernen, weiterzuatmen. Sie müssen eine zentrierte Haltung bewahren und die Person, die Sie anbrüllt, auffordern, damit aufzuhören. Wenn Sie geschlagen werden, müssen Sie entspannt und wachsam bleiben, den Schlag abwehren und die Erfahrung machen, dass Sie einen Angreifer physisch kontrollieren können. Wenn Sie verlassen werden, müssen Sie Ihre persönliche Wahrheit formulieren und aussprechen. Sie müssen die für das Überwinden der Verlassenheit notwendigen praktischen Schritte unternehmen, neue Bindungen herstellen und etwas finden, das Sie nährt.
Lernen Sie, vollkommen bewusst, entspannt, wachsam und voller Liebe zu bleiben, und üben Sie, aus dieser inneren Verfassung heraus die Herausforderungen der Welt zu meistern. Diese Verbindung innerer Ganzheit und äußerer Meisterschaft wird auch alte, tiefe Wunden schließen und dauerhaft heilen.
Der Bauch
Beginnen Sie Ihren Weg, indem Sie Ihr Bewusstsein für das Zentrum Ihres Körpers entwickeln.
Entspannen Sie Ihren Bauch Experiment / Praxis
Stehen Sie für einen Moment auf und gehen Sie herum. Wie fühlt sich Ihr Bauch an? Ziehen Sie den Bauch ein? Viele Menschen spannen den Bauch an und ziehen ihn ein. Falls auch Sie das tun: Wie beeinflusst es Ihre Atmung? Wie geht es Ihnen mit Ihrem Bauch? Manche Menschen schämen sich für ihn und versuchen, ihn zu verstecken oder kleiner zu machen.
Um Ihre Achtsamkeit dafür zu schärfen, welche Haltung Sie im Zentrum Ihres Körpers einnehmen, spannen Sie gleichzeitig den Bauch, den Schließmuskel und die Genitalien an und gehen Sie wieder ein paar Schritte. Spannen Sie diese Muskeln wirklich fest an. Wie beeinflusst das Ihre Bewegungen? Nehmen Sie wahr, wie steif sich Beine, Hüften und unterer Rücken, wie anstrengend sich alle Bewegungen anfühlen. Nehmen Sie wahr, wie sehr Ihre Atmung eingeschränkt wird.
Nebenbei: Achten Sie, während Sie diese Übung machen, darauf, dass Ihre Kleidung bequem und locker sitzt. Andernfalls wird ein dauernder Druck auf Ihren Körper ausgeübt, auf den Ihre Muskeln unwillkürlich mit Anspannung und Widerstand reagieren. Egal, ob Sie diese Spannung wahrnehmen oder nicht: Es wird schwierig für Sie werden, Ihren Bauch zu entspannen. Nehmen Sie es als eine Grundregel, dass lockere, bequeme Kleidung sowohl zum Entspannen als auch bei den anderen in diesem Buch behandelten Themen hilfreich ist.
Bleiben Sie jetzt stehen. Spannen Sie Ihren Bauch an, entspannen Sie ihn wieder und wiederholen Sie dies einige Male. Beim Entspannen des Bauches lassen Sie ihn nach vorne fallen.
Versuchen Sie als Nächstes, Ihren Bauch loszulassen, ohne ihn vorher anzuspannen. Gan gleich, wie Sie Ihren Bauch normalerweise halten, lassen Sie ihn einfach weit werden und nach vorne plumpsen. Erlauben Sie Ihren Genitalien und Ihrem Schließmuskel bewusst, sich zu entspannen, während Ihr Bauch weich wird. Löst sich die Spannung, obwohl Sie den Bauch vorher nicht gezielt angespannt haben? Wie fühlt es sich an, wenn Sie den Bauch vollkommen loslassen?
Die meisten Menschen empfinden eine deutliche Entspannung, selbst wenn sie ihre Muskeln vorher nicht bewusst anspannen. Sie schließen daraus, dass sie sich unbewusst anspannen und das wahrscheinlich immer.
Versuchen Sie noch einmal, mit einem weichen Bauch herumzugehen. Was empfinden Sie? Die meisten Menschen spüren eine größere Leichtigkeit, flüssigere Bewegungen und deutlicheren Bodenkontakt beim Gehen. Und so sollte Gehen sein – nicht angespannt und beengt. (Gelegentlich fühlen sich besonders steife Menschen unwohl, wenn sie ihre Bauchmuskeln entspannen. Das liegt daran, dass ihre gesamte Haltung und der Rest des Körpers nicht ebenfalls entspannt sind, nachdem sie den Bauch losgelassen haben. Falls Sie ein derartiges Unwohlsein verspüren, geben Sie sich etwas Zeit. Wenn Sie die Übungen dieses Buches machen, werden Sie sich nach und nach deutlich besser fühlen.)
Hat man Ihnen irgendwann einmal gesagt, Sie sollten Ihren Bauch einziehen? Anatomisch ist das Unsinn. Allerdings scheint es sich bei diesem Unsinn um einen kulturellen Imperativ zu handeln. Wenn man den Bauch einzieht, ruft das körperliche und emotionale Anspannung und Beklemmung hervor, selbst wenn es einem ganz normal vorkommt und man so daran gewöhnt ist, dass man es nicht mehr wahrnimmt. Warum ermutigt man uns, etwas zu tun, das steif und schwach macht? Uns allen ist beigebracht worden, es sähe besser, hübscher, gefälliger aus, wenn wir den Bauch einziehen.
Denken Sie einmal kurz darüber nach. Wann ziehen wir natürlicherweise den Bauch ein? Wenn uns etwas erschreckt. Den Bauch anzuspannen und einzuziehen ist Teil einer Angstreaktion, des Schreckreflexes. Kommt es Ihnen nicht auch seltsam vor, dass wir alle fortwährend aufgefordert werden, in einer Haltung der Angst, des Erschreckens zu leben?
Wenn Sie Ihren Körper in einem Bereich anspannen, wird sich das immer auf die gesamte Physis unangenehm auswirken, aber die Bauchmuskeln und die Muskulatur des Beckenbodens mit Genitalien und Anus sind besonders wichtig. Sie sind der Kern des Körpers, das Zentrum von Bewegung und Balance. Sind diese Körperregionen chronisch angespannt, wird es unmöglich, sich zu entspannen und sich frei, stark und bequem zu bewegen.