Kitabı oku: «Geschichten aus Nian», sayfa 3
Auf ins Ungewisse
Gemächlich zockelte das Gespann über die schmale Straße, die von der Küste aus ins Landesinnere führte. Sus saß mit traurigem Blick auf dem neu gezimmerten Kutschbock und hielt die Zügel des kleinen, aber kräftigen Lasttieres, welches ihnen der Bauer für die Habseligkeiten gegeben hatte, die sie ansonsten hätten zurücklassen müssen. Schade, dass niemand in der alten Hütte wohnen wollte. Sie lag aber einfach zu nah am Küstenwald für jemand, der nichts von den Zusammenhängen verstand, und Pinienreiter konnte es nun einmal nicht geben. Betrübt schaute Sus auf den Weg, den das Gefährt mit knarrenden Rädern und quietschender Deichsel entlangrollte. Es war schon schwierig gewesen, sich von den zahmen Ogons und dem Osled zu verabschieden, die ihnen so lange treu gedient hatten. Na, so hatten sie bei dem Bauern wenigstens ein neues Zuhause, und Ogons als Transporthilfen hatte wahrlich nicht jeder.
Ama gesellte sich zu ihr. Offenbar war sie mit den Befestigungsarbeiten in der wieder aufgebauten Fahrhütte fertig geworden. Zu Beginn der Fahrt war doch einiges durcheinandergeflogen. Die Hütte war kleiner geworden, als sie es ursprünglich gewesen war, denn erstens hatten sie nicht so viel Material gehabt und zweitens hatte noch der Kutschbock Platz finden müssen, der ja beim Betrieb mit einem Motorfahrzeug nicht nötig gewesen war. „Soll ich dich ablösen, Schwester?“, fragte sie.[no image in epub file]
Sus schüttelte den Kopf. Sie waren ja seit ihrer Abreise am frühen Morgen gerade erst acht oder neun Langmaße gereist. Wenn sie also erschöpft aussah, dann aus dem Grund, dass ihr der Abschied so schwerfiel. So sehr hatte sie sich daran gewöhnt, als Einsiedlerin zu leben, dass sie sich gar nicht mehr vorstellen konnte, regelmäßig fremden Leuten zu begegnen. „Sag mal … ist es eigentlich in Ordnung, wenn man Schwierigkeiten mit solchen Gefühlen hat?“, fragte sie unvermittelt.
Ama drehte sich zu ihr und bedachte sie mit einem mitfühlenden Blick. „Du glaubst doch nicht, dass mir das einfach so von der Hand geht, oder?“, fragte sie.
„Aber du wirkst so gefasst und zuversichtlich! Ich trage die ganze Zeit Kummer in mir, obwohl ich doch weiß, dass das gar nicht nötig ist, weil ich doch vertrauen darf!“, stieß Sus etwas gequält hervor.
Ama nahm ihr die Zügel aus der Hand und hielt mit einem lauten „Rrrm“ den Wagen an. Dies war wichtiger als voranzukommen. „Kommst du bitte kurz mit? Es ist schwierig, so etwas auf einem Kutschbock zu besprechen.“
Sus stieg mit Tränen in den Augen vom Fuhrwerk hinab und ließ sich von Ama einige Kurzmaße weit in den Graswald führen. Neben einem großen Elefantenfuß, der zwischen den Gräsern seine Wurzeln geschlagen hatte, nahm Ama sie in die Arme und sagte ihr sanft ins Ohr: „Du brauchst dich mit solchen Gedanken nicht zu belasten, Schwester. Wenn Vertrauen da ist, ist es da; wenn es mal fehlt, wird es zurückkommen. Niemand verlangt von dir oder sonst jemandem, seine Gefühle beherrschen zu können. Lass den Schmerz gewähren, so lange er sein möchte. Und glaube nicht, dass du allein Kummer trägst, nur weil ich gefasster wirke. Komm, lass es heraus … und dann sieh mich an.“
Sus spürte die Wärme ihrer älteren Freundin und begann zu schluchzen. Mehr und mehr Tränen ergossen sich aus ihren Augen über Amas Arm, um dann auf die Erde zu tropfen. Nach etwa einer Mittelzeit warf sie auf einmal den Kopf zurück und dann brüllte es aus ihr heraus: „Ich will hier nicht weg! Es war so schön alles! Ich weiß, dass es vielleicht besser wird und wir auch den Kontakt zu anderen Schwestern finden werden, aber es war einfach total schön!!“
Ama wartete eine Weile, bis das Schreien wieder in Schluchzen übergegangen war. Dann nahm sie Sus’ Hände in ihre, stellte sich kerzengerade mit geschlossenen Augen vor sie hin, führte ihre eigenen mit den Handflächen der jüngeren Bruka zusammen und flüsterte: „Nun schau.“
Allmählich entstand ein Gleißen zwischen ihren Handflächen, welches sich zu einem hellen Leuchten steigerte. Sus beruhigte sich zusehends und richtete sich ebenfalls auf. Einige Mittelzeiten lang verharrte sie verbunden mit ihrer Freundin. Als sie ihre verquollenen Augen wieder aufschlug, sah Ama sie bereits mit ihrem sanften, tröstenden Blick an.
„Du bist ja genauso traurig wie ich …“, flüsterte Sus. Der Kloß im Hals war zu groß, als dass sie richtig hätte sprechen können. Sie führte ihre Hand durch Amas Gesicht und strich ihr ebenfalls eine Träne von der Wange. „Danke für diese Schau der Dinge.“
„Es ist immer schön, das Erleben mit dir zu teilen, verehrte Schwester“, sagte Ama sichtlich ergriffen. „Noch etwas: wenn du es dir wirklich mit dem Herzen wünschst und es nicht nur ein Festhalten an Dingen ist, dann wirst du eines Tages zurückkehren.“
Die beiden Brukas umarmten sich noch eine Weile, bis sie gemeinsam Hand in Hand die kurze Strecke zum Weg zurückschlenderten. Sie bedankten sich bei ihrem Lasttier für seine Geduld mit einer Schale Wasser. Dann nahmen beide auf dem Kutschbock Platz und setzten ihre Reise mit Ama an den Zügeln fort. Nach ein paar weiteren Langmaßen bog das Gespann nach links auf eine schmale Straße ab, um gleich darauf rechts herum auf einen Feldweg einzuschwenken. Langsam stieg die Sonne am Himmel empor.
„Weshalb fahren wir eine so schlechte Strecke?“, fragte Sus ihre Nachbarin. „So dauert es bestimmt doppelt so lange, bis wir wieder ein Dorf erreichen, oder?“
Ama antwortete mit einer Gegenfrage: „Hast du es denn eilig oder möchtest ein Dorf erreichen? Ich ziehe einsame Pfade in Baumwaldnähe vor, da wir auf diese Weise nicht so vielen Menschen und ganz sicher keinen Motorfahrzeugen mit Küstenbesuchern begegnen werden. Vielleicht treffen wir ein paar Reiter oder Trugkerle, dann müsste ich schon zur Genüge wieder ‚alte Frau‘ spielen. Außerdem ist in verlassenen Gegenden die Chance größer, dass wir unsereins begegnen.“
„Meinst du etwa, dass wir bereits hier weitere Schwestern treffen könnten?“, fragte Sus zweifelnd.
Ama schüttelte den Kopf. „Vermutlich nicht. Wir haben eher noch eine weite Reise vor uns, bis wir sie finden. Lass uns weiterhin schnurstracks nach Südwesten ziehen, bis wir in ein paar Tagen den Elvon überqueren und ins Mittelland kommen. Ich würde dafür gern die alte Fähre von Guldorf benutzen und die großen Brücken und Querungen lieber meiden. Falls wir den Elvon ein Stück weiter westlich oder östlich erreichen sollten, fahren wir ihn bis zur Fähre entlang.“
Sus nickte zufrieden. Das klang nach einem Plan, an dem sie sich ein wenig festhalten konnte. Wie schön, dass ihre liebe Freundin so gut vorausdenken konnte!
Die Sonne erreichte ihren höchsten Punkt und fing wieder an zu sinken. Durch Graswälder und Mooswiesen führte der Pfad südwestwärts über das flache Küstenland. Die Vögel des späten Sommers sangen ihre Lieder in den Feldern und wenigen Baumwäldern. Kornblumen und Krallmohn säumten den Weg. Manchmal, wenn deren Kelche sich über den Pfad neigten, stoppte der Wagen, damit die beiden Reisenden ihre Köpfe in die großen Blüten stecken und den intensiven Duft genießen konnten. Gleichmäßig zog das brave Lasttier das Fuhrwerk holpernd voran. Jeder Bachlauf wurde zum Saufen und zum Füllen der Trinkgefäße genutzt, auch Heu und Moos gab es reichlich überall zu fressen. Irgendwann stimmte Ama ein Kutschlied an, in welches Sus mit einfiel.
Als es später Nachmittag geworden war und die Sonne sich allmählich dem Horizont zuneigte, entschieden sich die beiden, einen Lagerplatz für die Nacht zu suchen. „Falls wir nochmal durch einen kleinen Flecken kommen, sollten wir schauen, ob wir für ein paar Beutel unserer Kräuterteemischungen etwas zu essen bekommen können“, sagte Ama. „Und danach werden wir auf einer freien Fläche kampieren. Gut, dass wir mit dem Wetter Glück haben!“
Sus wollte gerade etwas erwidern, als sie plötzlich stutzte. Auch Ama reagierte sofort, zog die Zügel und machte „Rrrm“. Das Gespann hielt an, denn an dieser Stelle ging es nicht weiter. Zumindest im Moment nicht, weil quer auf dem Weg ein Hüne wie eine Vogelscheuche mit ausgebreiteten Armen stand. Er trug die einfache Kleidung eines Bauern, hatte den langen Griffstiel eines Pfluges in der Hand und maß in der Höhe in jedem Fall mehr als zwei Kurzmaße.
„Haaalt!“, rief er mit heiserer küstenländischer Stimme. „Ihr müsst umkehren. Fahrendes Volk ist in unserem Flecken nicht erwünscht!“
Neuer Kamerad
Martin kehrte noch einmal auf die Straße zurück. Mit einem Tritt löschte er den immer noch leuchtenden Scheinwerfer des Autowracks. Man konnte inzwischen auch ohne künstliches Licht etwas erkennen und musste ja möglichen Herumirrenden nicht länger als nötig anzeigen, dass noch jemand in der Gegend war. Gern hätte er die Batterie des Autos mitgenommen. Davon abgesehen aber, dass diese zu schwer gewesen wäre, konnte man sehen, dass der Wagen an der Frontpartie zu stark beschädigt war und man nicht an sie herankam. Vielleicht war ja noch Benzin im Tank? Ausgelaufen war bisher zumindest nichts. Leider lag der Wagen genau auf der Seite mit dem Tankeinlass und Martin verspürte keine Lust, ihn herumzurollen und dann zu versuchen, im Halbdunkel den leeren Kanister ohne Schlauch zu befüllen. Das musste bis zum Licht des Tages warten.
Also nahm Martin Verbandskasten und Kanister und schleppte sie zusammen mit den Dosen zu seinem neuen Begleiter. Dieser hatte es geschafft, trotz seiner Schmerzen einzuschlafen. Solchen Luxus konnte sich Martin nicht erlauben – erst musste er wissen, inwieweit man diesem Burschen vertrauen konnte. Daher beschloss er, die Nacht für sich zu beenden und sein Frühstück allein einzunehmen.
Ein paar Stunden später stand die Sonne bereits hoch am Himmel und die Obstbäume warfen ihre Schatten auf die ausgedörrte Erde. Martin hatte es geschafft, doch noch etwas Obst als Mittagbrot aufzutreiben. So brauchte er seinen Proviant in der Tasche aus Kippstadt nicht anzugreifen und konnte Daniel die zwei verbliebenen Dosen überlassen.
Dieser hatte sich im Schatten seines Baums bereits einige Male gedreht, sein Körper schien aber noch weitere Ruhe zu benötigen.
Bisher hatte sich ihnen niemand genähert und auch die Straße war genauso verlassen wie am vorigen Abend. Martin hatte ein gutes Gehör, ihm wären irgendwelche Besucher nicht entgangen. Er rechnete allerdings auch nicht damit, dass sich noch jemand in diese Gegend verirrte. Die Mitglieder der bestohlenen Bande aus Kippstadt waren die Einzigen, denen er es zutraute, ihrem Wagen die halbe Nacht hindurch hinterherzulaufen – offenbar wussten sie ja, wer die Diebe waren und es war offensichtlich bekannt, wohin diese gern mit gestohlenen Autos fuhren. „Kachler“, pah! Es war wirklich Zeit, dass etwas geschah. Er selbst trug ja auch noch die Verletzungen in sich, die für diese Zustände gesorgt hatten. Nur hatte er nun das Glück, seine Heilung zulassen zu können.
Ein Ächzen riss ihn aus seinen Gedanken. Offensichtlich war Daniel aufgewacht. Martin drehte sich herum und ging die paar Schritte zu ihm hin. „Guten Mittag“, sagte er. „Wie kann man bloß so lange schlafen, ohne Liegebeulen zu bekommen … Bist du gar nicht hungrig?“
Und ob Daniel das war! Nachdem er den Gruß erwidert hatte, verschlang er gierig den Inhalt der beiden Dosen aus dem Handschuhfach des Fahrzeugwracks. „Durstig bin ich auch … Wo bekommst du dein Wasser her?“
Die Frage war berechtigt. Bis hierher hatte der Inhalt seiner Flaschen gereicht, aber bis auf ein paar Schlucke war nichts mehr übrig. Martin dachte nach. Dies war eine ehemalige Obstplantage und die Bäume waren nicht verdorrt. Es musste also Grundwasser geben. Durchs Galdauer Land flossen aber auch einige kleine Flüsse – beim früheren Stand der Technologie Atalans hatte es sicher ein Bewässerungssystem gegeben. Die Pumpen mochten längst kaputt sein, aber wenn man alten Wasserrohren folgte … „Wir müssen Wasser suchen. Kannst du jetzt aufstehen?“, fragte Martin knapp.
Daniel bewegte vorsichtig sein Bein und berührte das Pflaster an der Stirn. Die Heilung schien fortzuschreiten. Gut, dass der Urgalane diese Desinfektionstropfen dabeigehabt hatte. Aufstehen und langsames Gehen mochte gelingen, aber falls die Verletzung am Bein wieder aufreißen würde – nicht auszudenken. „Ich kann’s versuchen, aber wenn die Wunde wieder aufgeht …“
„Verstehe“, erwiderte Martin nickend. „Mein letztes Sterilo sollten wir vielleicht noch behalten. Gut, ich marschiere allein los. Sag mal, der Blechkanister, war da Sprit oder Wasser drin?“
„Keine Ahnung.“
Martin öffnete den Behälter und schnupperte. Das roch nach gar nichts. Offenbar war der Kanister ungebraucht, zumindest aber war niemals Benzin darin gewesen. „Okay, Bursche, was glaubst du ist wichtiger für uns, Benzin oder Wasser?“
„Wasser“, sagte Daniel wie aus der Pistole geschossen. „Wenn du die Straße weiterfährst, wird das Land hinter den alten Plantagen karger. Erst am Rand von Galdau wächst wieder etwas mehr. Mit mir im Schlepptau brauchst du mindestens zwei Tage dorthin, und hier ’ne funktionsfähige Karre zu finden – da kannst du auch gleich nach Gold suchen.“
Martin nickte zufrieden. Die Zeit in der Meute hatte den Verstand dieses Jungen nicht aus seinem Hirn getrieben. Dennoch runzelte er die Stirn und fragte: „Woher willst du eigentlich wissen, dass ich dich ‚ins Schlepptau nehme‘? Allein schaffe ich es bis heute Nacht dorthin!“
Daniel erschrak ein wenig, fasste sich aber schnell wieder. „Warum hättest du mir bis hierher geholfen, wenn du mich jetzt hierlassen wolltest?“
Nun war es an der Zeit für Martin, sich einzugestehen, dass er Daniel bereits gernhatte. Das aber war aufgrund seines bisherigen Lebens ziemlich schwierig für ihn. Kameraden und gute Beziehungen brauchte man, wenn man als Krieger mehr sein wollte als nur eine Maschine im Dienst des Königs. Aber – war er das überhaupt noch, ein Krieger? Und warum sollte ausgerechnet dieser Atalane wichtig für ihn sein? Etwas ratlos antwortete er schließlich: „Ich gehe die alten Wasserleitungen suchen und schaue mal nach, woraus sie sich speisen. Mit einem Kanister dabei habe ich zwar noch mehr zu schleppen, aber ohne müsste ich mich jetzt tatsächlich dafür entscheiden, dich hierzulassen.“ Mit diesen Worten verschwand er zwischen den Bäumen.
Daniel lächelte ein schwaches Lächeln. Dieser grobschlächtige Kerl, er schien ein weiches Herz zu haben. Trotzdem war es komisch, dass er ausgerechnet ihm half – einem jungen, unerfahrenen Typen aus der Vorstadt ohne viel Kraft und Wissen … Was hatte er am Abend zuvor gesagt, sein Auftrag sei „ein ganz anderer“? Da war er aber mal gespannt, was ein einzelner Kämpe so Wichtiges vorhatte, dass er sich die Zeit nahm, das Leben von Unbekannten zu retten.
Nach etwa siebzig Metern war Martin bereits auf ein schwarzes Kunststoffrohr gestoßen, von welchem offensichtlich früher einmal Abzweigungen weggeführt hatten. Die Anschlüsse waren jedoch herausgerissen worden und verschwunden. „Sieht ganz nach einer Hauptleitung für die Bewässerung aus“, dachte er und begann dem Rohr zu folgen. Ein paar hundert Meter weiter mündete es in ein tankartiges Gebilde, aus welchem mehrere ähnliche Rohre wegführten. Ärgerlich blieb Martin stehen. Dies war mit Sicherheit ein Pumpenhaus, das seit Jahren außer Betrieb war. Vermutlich hatte es Grundwasser aus der Erde geholt und dann in die angeschlossenen Leitungen gedrückt. Wenn hier alle Leitungen erdgespeist waren, kam man ohne elektrischen Strom nicht an das Wasser heran.
Als Martin gerade umdrehen und es auf der anderen Seite der Autobahn versuchen wollte, vernahm er mit dem linken Ohr ein leises, aber hochwillkommenes Geräusch. Seine Augenbrauen hoben sich und er steuerte schnellen Schrittes darauf zu. Das war doch eindeutig das Plätschern von Wasser! Einige zig Meter weiter fand er auch dessen Ursprung: hier floss tatsächlich ein Flüsschen entlang, in welches eines der Rohre aus dem Pumpenhaus hineintauchte. So war das also! Wenn das Bett dieses Flusses früher trockengefallen war, waren vermutlich Zusatzaggregate eingeschaltet worden, welche dann Grundwasser gefördert hatten. Kluge Burschen, diese Atalanen … da war es fast ein Jammer, dass heutzutage praktisch nichts mehr von ihrem Genius übrig war.
Martin ertappte sich dabei, „Danke, Große Mutter“ zu denken. Junge, Junge, diese beiden Zwerginnen hatten ihm wirklich geholfen, irgendetwas in sich zu entdecken. Wenn es sie tatsächlich gab, was mochte die Große Mutter wohl genau sein? Natürlich hatten Urgalanen ihre Götter, manche auch nur einen, aber dieses Konzept schien viel abstrakter zu sein. Die meisten Leute hatten Abbilder von Gottheiten in ihren Heimen – ein Bild aber dieser Großen Mutter zu erschaffen, damit hätte wohl jeder Künstler ein Problem gehabt.
Er kniete sich hin, füllte seine Wasserflaschen und den großen Kanister und verschwand auf diese Weise beladen zurück in Richtung der Straße. Mal sehen, wie es Daniel inzwischen ging. In der Tat mochte er diesen Burschen gut leiden. Er wusste nicht einmal wieso, eigentlich war er kaum mehr als ein schwächlicher Bengel, der mit großer Sicherheit die meiste Zeit seines Lebens mit nichtsnutzigem Zeug verbracht hatte. Vielleicht war es aber gar nicht nötig, nach einem Grund für seine Zuneigung zu suchen. Anscheinend hatte ihm sein inneres Licht einen Begleiter über den Weg geschickt, der sich womöglich schon bald als guter Kamerad erweisen würde.
Erster Kontakt
„Guten Tag“, grüßte Ama mit der gebrochenen Stimme einer älteren Frau und nickte vom Kutschbock aus dem riesigen Bauern zu. „Sagten Sie ‚fahrendes Volk‘? Wir gehören nicht zu einer Wandervorführung, sondern sind nur auf der Durchreise.“
Der Hüne stemmte die freie Hand in die Hüfte und sagte mit dem typischen Küstenlandakzent: „Seit sie vor einigen Zyklen die Straße gebaut haben, fährt hier außer Trugkerlen und Lottergesindel niemand mehr durch. Warum sollte das also bei euch beiden Gewächsen anders sein?“
Ama stieg behäbig und mit gekrümmtem Rücken den Kutschbock hinab und schritt dann langsam auf den Bauern zu. Aufblickend sprach sie: „Sehen Sie, junger Mann … wir sind ganz allein hier, uns folgen keine Wagen. Wir können also kein fahrendes Volk sein. Unser Weg führt uns geradewegs nach Guldorf.“ Sie wies nun zittrig auf Sus. „Wir erhielten Nachricht, dass ihre Mutter der Heilung bedarf, und verließen daher unsere Heimat an der Küste, um dabei zu helfen.“
Sus runzelte kurz und kaum merklich die Stirn. Ihre Mutter? Was erzählte Ama denn da, sie hatte doch noch niemals jemanden offen angelogen?
Der hochgewachsene Bauer strich sich über eine Wange und sah erst Sus, dann Ama schief an.
„Heilung, was? Wer sagt mir denn, dass ihr keine Schandmäuler seid, die nur Unfrieden bringen? Ich habe noch nie von zwei Frauen gehört, die allein an der Küste leben, aber offensichtlich nicht von hier stammen. Und ihr seht mir sehr gebrechlich aus, nicht wie Leute, die etwas von Heilung verstehen.“
Ama lächelte in sich hinein. Diese urwüchsige Erscheinung hatte angebissen. Bei Menschen mit so offensichtlichen Vorurteilen half es meistens, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Sie merkten dann gar nicht, wie die Neugier erwachte und ihr Interesse daran erlosch, weiterhin abweisend zu sein. „Seien Sie versichert, wir verstehen etwas davon. Und das können wir Ihnen auf Ihren Wunsch hin auch gern demonstrieren. Sehen Sie, ich trage viele Dekazyklen, daher wirke ich wohl etwas schwächlich auf Sie.“
„Hmm.“ Der Bauer überlegte. Augenscheinlich waren dies tatsächlich keine Schandmäuler, dafür war ihre Rede zu gesittet. So knarzte er auf küstenländisch: „Wenn Sie Heilerinnen sind, können Sie auch mit Tieren umgehen? Ich hab da zwei schwache Lasttiere, die mir nicht gesund aussehen, und einen Viehdoktor kann ich mir nicht leisten.“
Ama setzte ihr sanftestes Lächeln auf und erwiderte: „Heilung ist eine Sache der Liebe der Großen Mutter. Sie liebt Mensch, Tier, Pflanze, Land – alles. Wer das verstanden hat, wird sich – im Rahmen seines Wissens – immer dafür engagieren. Gern sehe ich mir Ihre Lasttiere mal an.“
Der Hüne schien noch nicht ganz überzeugt zu sein. „Na gut“, meinte er schließlich. „Aber das hier“, er wackelte mit dem Pflugstiel, „kommt mit!“
„Wie Sie möchten. Nehmen Sie hinten auf unserem Fuhrwerk Platz?“, lud Ama ihn ein.
„Nö“, stieß der Bauer schnippisch lachend hervor. „Bei Ihrem lahmen Karren bin ich auf meinen Beinen flotter.“
In der Tat schritt der hochaufgeschossene Mann schneller aus, als das Gespann fuhr. Sus hatte dem Lasttier während der Unterhaltung zwar etwas zu fressen und zu saufen gereicht, dennoch konnte es ohne zu traben nicht mithalten. Das wollten aber weder Ama noch Sus der fahrenden Hütte grundlos zumuten. Und so zockelte der hölzerne Wagen rumpelnd hinter dem Bauern her, der nach wenigen Mittelmaßen vom Weg nach rechts abbog und auf ein frei stehendes Gehöft zuhielt.
„Sag mal“, begann Sus, „was sollte das denn vorhin mit meiner Mutter?“
Ama lächelte ihre Freundin vielsagend an. „Braucht deine Mutter, wie sie auch die meine ist, denn keine Heilung? Wendepunkt hin oder her, die neue Zeit hat sich doch noch nicht überall manifestiert, oder?“
Sus verschlug es die Sprache. Ihre Schwester konnte ja ganz schön gerissen sein, wenn es drauf ankam! Nun, solange es nicht der eigenen Bereicherung oder zum Schaden Anderer diente, war List mit ihren gemeinsamen Leitsätzen vereinbar. Ama hatte durch geschickten Einsatz von Worten einen Streit verhindert. Wer weiß, wozu dieser Kontakt noch gut sein mochte … Große Landtiere und Menschen hatten, was ihre Körper betraf, häufig sehr viele Gemeinsamkeiten. Und ihre Schwester war weise genug, Tränke mit Bedacht einzusetzen.
Der Bauer führte sie durch ein hölzernes Tor auf den Innenhof des Gehöfts. Neben dem großen Backsteinbau, der das Wohnhaus darstellte, waren eine Scheune mit angeschlossenem Geräteschuppen und ein Viehstall zu erkennen. „Willkommen auf Gut Neuhausen“, rief er, sich umdrehend. „Mein Name ist übrigens Hans. Wie darf ich Sie denn nennen?“
Ama stoppte den Wagen, stieg vorsichtig hinunter und nannte dem Bauern ihre Namen. „Sus, gibst du unserem Zugtier bitte nochmal Wasser und Futter?“
„Oh, das ist nicht nötig“, kam es aus Hans’ nordischem Mund. „Da vorn ist eine Tränke und ich hol gerade noch einen Heuballen aus der Scheune.“
Nun sprang auch Sus vom Kutschbock, führte das Gespann zur Tränke und arretierte dann die vorderen Räder. Anschließend kletterte sie in die Fahrhütte und holte ihre Tasche mit der Kräutersammlung heraus, die sicher bald gebraucht werden würde. Als sie wieder hinabsteigen wollte, kam ein junger, ebenfalls langer Bursche aus dem Backsteinhaus, ging auf Hans zu und fragte: „Moin Papa, haben wir Besuch?“
„Moin Klaas. Zwei fahrende Frauen, die sich Heilerinnen nennen“, erwiderte Hans kurz angebunden. „Sie wollen sich Erna und Molly mal ansehen.“
Klaas zog die Augenbrauen hoch und entgegnete dann traurig: „Meinst du wirklich, da ist noch was zu machen …“
„Weiß nicht, mien Jung. Aber allens ist besser als aufgeben, oder?“, stellte Hans leicht resigniert fest. Zwei Lasttiere zu verlieren war für einen kleinen Hof im Küstenland fast ein Todesurteil. Die Höfe des Fleckens unterstützten sich zwar gegenseitig, aber anderen erging es zurzeit auch nicht besser. Der eine hatte eine Kuh aufgeben müssen, beim anderen war einer der beiden Söhne nach Harmania übergesiedelt, wieder ein anderer Hof war vom Sturm schwer in Mitleidenschaft gezogen worden … Wenn nicht bald etwas Glück über diesen Landstrich kam, konnten die meisten Familien hier einpacken.
Ama war inzwischen auf die beiden Männer zugeschlurft. „Seien auch Sie gegrüßt“, sprach sie zu Klaas. „Finden wir Ihre Patienten im Stall dort?“
„Kommen Sie“, stieß Hans hervor und ergänzte, zu Klaas gewandt: „Wenn du mit dem Ackerwagen so weit bist, geh bitte aufs Vorderfeld und mach mit dem Pflug weiter, ja? Ich habe Maron dort angespannt gelassen, er ist vernünftig und läuft nicht weg.“ Er führte Ama mit Sus im Schlepptau in die Scheune in den hinteren Bereich. Dort erkannten die Frauen im dämmerigen Tageslicht, welches durch die hohen Öffnungen in den Wänden fiel, zwei Lasttiere, von denen eines schlaff auf dem Boden lag und das andere mit stark gekrümmtem Rücken über einen Heuspender gebeugt war.
Sus wisperte Ama zu: „Hast du gehört, sie geben ihren Tieren Namen!“
Mit leiser Stimme erwiderte die Angesprochene: „Das zeugt bei Landwirten von einem großen Herzen. Jedoch wohnt tiefe Trauer darin und hat ihr Licht verdunkelt, und zwar nicht nur das in den Menschen. Komm und sieh selbst.“
Sus brauchte gar nicht näher an die Tiere heranzugehen, um zu erkennen, dass eines von ihnen dem Tode nah war und das andere mit großen Schmerzen kämpfte. Rasch stellte sie die Tasche auf den Boden und öffnete sie unter Hans’ niedergeschlagenen Blicken, um ein paar Tüten mit Kräutern herauszuholen. Ama schlurrte währenddessen auf das liegende Tier zu, hockte sich hin, legte ihre rechte Hand auf seinen Bauch und fragte: „Ist dies Erna?“
„So ist es“, erwiderte Hans deprimiert.
„Sus, könntest du mir bitte die Mischung mit dem Beißkraut und dem Ziegennagel bringen?“, kam es leise aus Amas Mund.
Sus verstand. Auch sie hatte es gesehen – für Erna gab es nichts mehr zu tun. Molly jedoch … Nachdem sie ihrer Freundin das Gewünschte übergeben hatte, griff sie nach dem Beutel mit den Silbergarbenblüten. Das allein würde zwar nicht ausreichen, jedoch mithelfen. Sie öffnete den Verschluss und streute vorsichtig einige Handvoll der Blüten über das Heu, welches Molly gerade fraß. Dann ging sie neben ihr in die Hocke und legte ihre Hände ebenfalls an den Bauch des Tieres. Ein großer Sturm schien darin zu wüten. Er riss an den Eingeweiden und drückte die Wirbelsäule mit schmerzhafter Gewalt nach oben. Schwarze Wolken rasten im Kreis um ein Zentrum herum.
Sus erfasste im Geiste ihr inneres Licht, fühlte anschließend in ihre Füße und ließ sie sich mit dem Boden vereinigen. Dann verankerte sie ihr Licht darin. Helles Leuchten strahlte aus der Erde heraus durch die Beine in ihren Körper und vereinigte sich mit ihrem eigenen, bis sie ganz mit dem hellen Schein der Erde verschmolzen war. „Große Mutter, du kennst meine Bitte … ich danke dir“, murmelte sie leise vor sich hin. Dann sandte sie das Strahlen durch ihre Hände in Mollys Bauch. Sanft beleuchtete es das Auge des Sturmes. Nach und nach schien das wütende Zerren darin nachzulassen. Sus nickte, streichelte den Bauch des Tieres mit ihren Händen und ließ das helle Gleißen wieder in die Erde zurückfließen. Was geschehen durfte, war geschehen.
Nachdem sie ihre Augen wieder geöffnet und sich erhoben hatte, sah sie Ama über Ernas Kopf gebeugt, welchen sie an der Oberseite mit beiden Händen umfasst hatte. Ein paar Stängel Ziegennagel hingen Erna noch aus dem Maul, sie rührte sich nicht mehr.
Ama erhob sich mit Tränen in den Augen und sprach mit erstickter Stimme: „Es tut mir so leid. Hier kamen wir zu spät. Aber sie hatte keine Schmerzen mehr.“
Hans nickte stumm. Er hatte seit einiger Zeit auf diesen Moment gewartet und war vorbereitet gewesen. Etwa eine Mittelzeit später sagte er mit leiser Stimme: „Es war nicht umsonst. In den letzten Tagen hat sie sich manches Mal ziemlich gequält. Dass sie so sanft gegangen ist, dafür durften Sie nun sorgen.“
Sus schritt langsam mit vor dem Bauch gefalteten Händen zu den beiden hin. „Auch mir tut es leid“, fügte sie hinzu.
Stumm standen die drei eine Weile da, bis sie auf einmal ein Wiehern hinter sich vernahmen. „Na, willst du auch mittrauern?“, fragte Hans und richtete seinen müden Blick auf Molly, die die ganze Zeit über nicht zu fressen aufgehört hatte. Nun jedoch schaute sie mit großen, friedlichen Augen zu ihnen hin und drehte sich, um zu Erna zu gehen und sie mit der Nase anzustupsen. Dann richtete sie sich wieder auf und schritt langsam auf Hans und die beiden Frauen zu. Es dauerte einige Kurzzeiten, bis Hans begriff, dass ihre übertriebene, krampfhafte Rückenbeugung verschwunden war. Vor ihm stand ein Lasttier in natürlicher Haltung, aufrecht und wohlbehalten, und schnaubte zum Gruß.
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