Kitabı oku: «Sie über sich», sayfa 2
2.2. Autorität als Macht
Der zweite semantische Gehalt des Begriffs „auctoritas“ stellt eine Ausweitung des zivilrechtlichen Begriffsspektrums dar. In für die spätere Entwicklung, insbesondere für den gegenwärtigen ökumenischen Dialog ungünstiger Weise nähert sich der Begriff im weiteren Verlauf seiner Verwendung dem Vorstellungshorizont der „potestas“ an: Wer Autorität hat, also „Ansehensmacht“, darf auch faktisch Macht ausüben.1
Ein sprechender Beleg für die Entwicklung des „auctoritas“-Begriffs ist das Selbstzeugnis des Kaisers Augustus in seinen „Res Gestae“. Nachdem er nach seinem Dafürhalten die „Flammen des Bürgerkrieges gelöscht“ und Rom wieder auf den richtigen, also seinen Weg gebracht hat, kommt er zu dem Ergebnis: „Post id tempus auctoritate omnibus praestiti, potestatis autem nihilo amplius habui quam ceteri qui mihi quoque in magistratu collegae fuerunt.“ („Seit dieser Zeit überragte ich alle übrigen an Autorität, an Amtsgewalt aber besaß ich nicht mehr als die anderen, die auch ich im Amt zu Kollegen hatte.“; Res Gestae 34)
Zu erkennen ist daran, dass hier der Begriff „potestas“ in das Bedeutungsspektrum von „auctoritas“ eingeht und somit die reine „Ansehensmacht“ ausgeweitet wird. Der Begriff „auctoritas“ wurde dadurch „mehr und mehr zur Bezeichnung der allumfassenden Regierungsbefugnis des Kaisers und zum Rechtsgrund, auf dem seine Regierungsakte, Verfügungen und Entscheidungen auf allen Gebieten beruhten.“2 Jetzt kann derjenige, der über „auctoritas“ verfügt, diese auch direkt ausüben und anderen zur Verfügung stellen. So können Untergebene, Beamte, Diener, Boten in der Autorität des Kaisers auftreten und diese mittelbar ausüben. „Auctoritas“ ist deshalb kaum noch von „potestas“ zu unterscheiden. Deshalb ist es verständlich, dass die Aufgabe der Apostel als „auctores“ nun ebenfalls eine weitere „Eigenschaft“ bekommt. Weil sie diese wichtige Aufgabe haben, kommt ihnen auch Autorität im Sinne von Macht zu. Sie können die Botschaft übermitteln, weil sie das Vermögen und die Macht dazu haben. Dies hat unmittelbare Konsequenzen für das Verständnis der apostolischen Sukzession.
Sobald der Bischof als Nachfolger der Apostel verstanden wird, deren Autorität er geerbt hat, ist er in der Lage und der Pflicht, sich nicht nur als Verkünder, sondern auch als Bewahrer des Evangeliums zu sehen. Der Bischof kann und muss deshalb nicht nur „die Authentizität der Tradition, den Wahrheitsanspruch der Botschaft garantieren“,3 er kann daraus auch seinen eigenen Anspruch auf Führung der Kirche ableiten. Der Bischof tritt damit an die Stelle kaiserlicher Beamter, die ebenfalls eine abgeleitete Form der Autorität innehaben.
Der immens wichtige Unterschied zu ihnen besteht aber darin, dass kein Kaiser über dem Bischof steht, sondern der allenfalls im Geist präsente Christus. „Somit zeigt die Bedeutungsgeschichte in der lateinischen Patristik durchaus eine deutliche Analogie zur Begriffsentwicklung in der kaiserzeitlichen Amtssprache des (nichtchristlichen) Staates.“4
Dieser Aspekt der „auctoritas“ ist seitdem in der Kirchengeschichte immer präsent und oftmals problematisch. So kann man das Ringen um die Vorherrschaft zwischen Kaiser und Papst (Investiturstreit) im weltlichen Bereich5 genauso dazu zählen wie die Frage nach der Macht innerhalb der Kirche, was sich im Mittelalter z.B. als Kampf zwischen Papst und Konzil ausdrückt,6 aber auch viele weitere Konfliktfelder im Rahmen verschiedener Armutsbewegungen (z.B. der Waldenser) oder frühreformatorischer Bewegungen (z.B. der Hussiten) befeuert. Außerdem lässt sich die gesamte mittelalterliche Diskussion um das Verhältnis von „auctoritas“, „ratio“ und „experientia“, im Grunde also die auch heute noch relevante fundamentaltheologische Frage nach den Erkenntnisquellen der Offenbarung und des Wissens, in diesen Horizont einzeichnen.7 Auch die bis heute schwelende problematische Bestimmung von theologischer Wissenschaft und kirchlichem Lehramt hängt mit dieser, spätestens seit dem Mittelalter virulenten Frage zusammen.8 Ebenso lässt sich „das Geschehen der Reformation […] als ein weitreichender Autoritätenkonflikt verstehen, ausgelöst durch radikale Umwertungen innerhalb des traditionellen Autoritätengefüges.“9 Letztlich lassen sich die heutigen Streitigkeiten um die Autorität der Schrift genau an diesem Punkt anschließen: Wenn die Schrift Autorität hat, wie übt sie dann ihre Gewalt aus?
2.3. Autorität als Vertrag
Ein dritter Bedeutungsgehalt von Autorität hängt mit der „potestas“-Problematik zusammen. Dieser Bedeutungsgehalt macht im Zuge der Neuzeit auch die Autorität an sich verdächtig. Es bricht sich deutlich die neuzeitliche Skepsis Bahn, wenn Autorität als „abergläubisches Vertrauen auf Lehrer und Traditionen [verstanden wird], das sich nicht durch Vernunft oder Erfahrung legitimieren lässt.“1
Im Zuge der Aufklärung ist daher jede Autorität suspekt, die sich nicht durch die eigene Vernunft bewahrheiten lässt. Akzeptiert wird sie deshalb nur noch als „Gesellschaftsvertrag“. Nur im gegenseitigen Einverständnis – so das Ideal – lässt sich Autorität legitim ausüben. Nun ist verständlich, dass man sich Autorität erwerben und diese von anderen anerkannt oder gar verliehen werden muss.2 Weithin anerkannt wird deshalb vor allem die fachliche Autorität, „die durch spezielles Wissen und erlernte Fähigkeiten geprägt ist.“3 Autorität wird also demjenigen zugestanden, der durch Kompetenz ausgewiesen wird. Hier scheint ein Autoritätsverständnis auf, das in der Diskussion um die Schriftautorität eine besondere Rolle spielen wird.4
Jegliche Autorität hat sich also erstens vor dem Forum der Vernunft und der Gesellschaft zu verantworten und muss zweitens gegenseitig anerkannt sein.5 Autorität ist demnach davon abhängig, dass sie bejaht wird und muss deshalb von denjenigen akzeptiert und gewollt sein, über die Autorität ausgeübt wird. So wird die Autorität eines Arztes aufgrund seiner fachlichen Qualifikation von denen anerkennt, die sich von ihm behandeln lassen. In dieser Beziehung wird Autorität zu einem „Relationsbegriff“.6
Wenn dies im gesellschaftlichen Bereich akzeptiert ist, verwundert es nicht, dass der Autoritätsbegriff auch im engsten menschlichen Beziehungsbereich, der Familie, neu bestimmt werden muss. Dieser Prozess ist bis in die Gegenwart hinein nicht abgeschlossen und wird vor allem in der Pädagogik unter Stichworten wie „antiautoritäre“ oder „autoritative Erziehung“ diskutiert.7
Autorität wird aber sowohl in gesellschaftlicher wie persönlicher Hinsicht nun in einem kommunikativen Geschehen verortet.8 Dies ist bereits bei Augustin im 4. Jh. n. Chr. zu beobachten, der die Notwendigkeit von Autorität im Vorgang des Lernens erkennt: „Zur Erkenntnis gelangen wir mit gleicher Notwendigkeit auf einem doppelten Wege, nämlich auf dem der Autorität und dem der Vernunft. Der Zeit nach geht die Autorität vor, der Sache nach aber die Vernunft.“ (De Ord. 2,26)9
Autorität hat demnach in erster Linie eine propädeutische Funktion. Es geht nicht um Gehorsam oder das Unterwerfen unter eine fremde Macht, sondern um das Vertrauen, das notwendig ist, um zu lernen und zu eigenständigen Positionen zu kommen. Autorität ist demnach lediglich – aber notwendig – der Anfang des Lernens.10 Sie ist die erste Stufe eines Prozesses, in dem sich die eigentliche Autorität erst aufbaut.
Autorität ist also drittens ein relationaler Begriff. Er bedeutet, dass Autorität von einer Gruppe von Menschen verliehen und akzeptiert werden muss. Autorität wird demnach gemacht und dann bestätigt. Letztlich gilt dann: „Autorität bewährt oder blamiert sich in der Kommunikation.“11
2.4. Ausblick
Als letzter Punkt ist zu notieren: Der Begriff „Autorität“ kommt im Neuen Testament nicht vor. Allerdings lassen sich Fragen aufzeigen, die damit zusammenhängen und in den Bereich der späteren Kirchengeschichte ausstrahlen. Drei Fragen ragen dabei in ihrer Bedeutung heraus:
Erstens: Wenn Autorität als Gewährleistung verstanden wird, dann ist zu fragen: Wer übernimmt die Gewähr dafür, dass Christus und seine Botschaft nicht verfälscht werden? Wenn Christus als Person die unhinterfragbare Autorität in der Kirche darstellt, wie lässt er sich erreichen? Wie kann Christus in der und für die Kirche zur Sprache kommen? Diese Frage dreht sich also um die Frage nach der Offenbarung und ihrer Vermittlung.
Zweitens: Wenn Autorität im Sinne von Macht verstanden wird, dann ist zu fragen: Obwohl Christus die eigentliche Macht ausübt, muss sich die Kirche dazu verhalten, wie sie diese umsetzt. Sie muss sich fragen, ob und mit welcher Begründung es eine abgeleitete Form der Autorität gibt, die dazu berechtigt, im Namen Gottes Macht auszuüben. Schließlich muss sie diese Macht dann auch jemandem (Papst?) oder einer Institution (Synode?) zuweisen. Wenn mit der Autorität die Macht in der Kirche verbunden ist, wer darf sie ausüben?
Drittens: Wenn Autorität im Sinne eines Vertrages verstanden wird, ist zu fragen: Wer (die Gläubigen? Christus?) überträgt wem (Amtsträger?) oder was (Schrift?) Autorität und auf welcher Grundlage? Wie weit reicht diese Vertragsautorität? Gibt es eine Kompetenz, die sie letztlich verstetigt und dem Vertragsverhältnis enthebt?
Konkret müsste gefragt werden, ob sich eine vorläufige Vertragsautorität zu einer anderen Form von Autorität wandeln lassen kann und unter welchen Bedingungen. Bezogen auf die Diskussion zwischen evangelischer und römisch-katholischer Kirche müsste diese Alternative konkret so formuliert werden: Liegt es in der Kompetenz des Lehramtes, die Autorität zu garantieren oder kann (und muss) die Schrift selbst ihre Kompetenz erweisen?
Diese drei Ebenen müssen unterschieden, können aber in der Praxis nicht klar getrennt werden, weil ihre Bedeutungen zusammenhängen und deshalb zuweilen – bewusst oder unbewusst – vermischt werden. Blickt man auf die Praxis der Kirchen, kann beispielsweise einer Person eine autoritative Stellung zugeordnet werden. Hat dieser Vorgang dann rein funktionale Gründe? Weil sie predigen soll? Dann wäre in erster Linie die erste Bedeutungsebene berührt. Oder gehört die autoritative Stellung als Amt zum Kirche-Sein zwingend dazu? Das tangiert die zweite Bedeutung von Autorität, weil damit das Amt an sich nicht nur eine Dienstfunktion, sondern auch eine Machtposition einnimmt. Die dritte Ebene wird berührt, wenn gefragt wird, wer das Amt verleihen darf. Ist dies eine demokratische Wahl? Dann wäre der „Gesellschaftsvertrag“ gegeben. Ist sie dies nicht, wäre eher an Autorität als Machtausübung zu denken, die sich wiederum legitimieren müsste.
Man kann diese verschiedenen Ebenen von Autorität also gut an der Frage nach dem Amt in der Kirche exemplifizieren. Nicht umsonst steht hier die apostolische Sukzession in ihrer Bedeutungsverschiebung von reiner inhaltlicher Nachfolge zur Nachfolge im machtvollen Amt im Blickpunkt.1 Allerdings verweisen die Beispiele letztlich auf das Problem, auf welcher Grundlage die „Amtsfrage“ beantwortet werden kann. Wenn auf die Schrift verwiesen werden soll, stellt sich auch diesbezüglich die Frage, welche Autorität der Schrift zukommt.
Damit ist die vorliegende Untersuchung – wiederum im Vorgriff – an ihrer zentralen Fragestellung angelangt. Erheben die neutestamentlichen Texte selbst einen Anspruch auf Autorität? Und wenn ja: welchen?
3. Die Grundidee der Untersuchung
In ethischer, historischer, konfessionskundlicher und ökumenischer Hinsicht ist die Frage nach der Schrift wesentlich. Genauer die Frage nach ihrer Stellung im Zusammenspiel theologischen Erkennens und Argumentierens: Welche Autorität hat die Schrift? Und wie ist diese Autorität in die Diskussion einzubringen?
Die vorliegende Arbeit kann diese Fragen sowohl in ökumenischer als auch in fundamentaltheologischer Hinsicht nicht ausführlich behandeln oder gar beantworten. Lediglich ein Mangel der bisherigen Diskussion über die Autorität der Schrift soll aus exegetischer Perspektive behoben werden. Es scheint nämlich bei der Durchsicht der verschiedenen Diskussionsbeiträge zum Thema so, als ob zumeist aus dogmatischer Perspektive über die Schrift und ihre Autorität gehandelt wird, aber nicht aus der Sicht der Schrift selbst.1 Auf einen Nenner gebracht: Es wird über die Schrift geredet, aber nicht ausgehend von ihrem eigenen Anspruch. Die Diskussion wird nicht von ihren eigenen Aussagen über sich selbst her geführt.
Dies soll im vorliegenden Zusammenhang behoben werden. Damit folgt die Untersuchung dem klassischen, vor allem im Protestantismus anzutreffenden Reflex, die Bibel in allen möglichen Zusammenhängen zu befragen. Nur über sich selbst wurde die Bibel bislang nicht eingehend und methodisch verantwortet befragt.2 Dies ist die Grundidee der Untersuchung, wenn sie die Frage stellt: Welche Autorität beansprucht die Schrift selbst für sich?3
Um nicht Gefahr zu laufen, eine anachronistische Fragestellung an die Texte heranzutragen, kann im weiteren Verlauf der Untersuchung allerdings nicht mehr von „der Schrift“ die Rede sein, da dies die theologische Entscheidung bereits voraussetzt, dass „die“ Kirche „diese“ Texte der „Bibel“ als ihre „Schrift“ ansieht. Dies war aber zur Zeit der Abfassung der Texte nicht oder kaum im Bewusstsein ihrer Autoren.4 Der Zusammenhang von Kirche und Schrift ist dementsprechend in der dogmatischen Diskussion zu beachten.
Da im Fortgang der Untersuchung die Kirche als Leserin der Texte nicht weiter beachtet werden kann, sei es aus der methodischen Überzeugung der historisch-kritischen Methode heraus, sei es, weil von „der Kirche“ zum Zeitpunkt der Textentstehung in historischer Hinsicht noch nicht geredet werden sollte, müssen die biblischen Texte aus sich selbst heraus verstanden werden.5 Exegetisch korrekt ist daher zu formulieren: Welchen Autoritätsanspruch erheben die biblischen Texte für sich selbst?6
3.1. Erste Konzentration: Neues Testament
Da die biblischen Texte zu umfangreich sind, um im Rahmen einer Untersuchung vollständig in den Blick genommen werden zu können, sollen drei Konzentrationen helfen, einen sinnvollen ersten Zugang zum Thema zu finden.
Erstens soll sich die Frage nur auf Texte des Neuen Testaments konzentrieren. Dies legt sich nahe, da sich die christliche Theologie in besonderer Weise dieser Textsammlung verdankt. Diese erste Einschränkung bedarf einer kurzen Begründung, da damit die Frage nach dem Stellenwert des Alten Testaments für die christliche Theoriebildung und dessen Verhältnis zum Neuen anklingt.
Nachdrücklich wurde diese Frage in jüngster Zeit von Notger Slenczka aufgeworfen, der fragt „ob das Alte Testament eine normative Bedeutung für die christlichen Kirchen hat oder haben kann“.1 Er nimmt im Gespräch mit der alttestamentlichen Wissenschaft2 die unzweifelhaft historisch richtige These auf, wonach der alttestamentliche Kanon „den Ausdruck des Glaubens des nachexilischen Judentums“3 fixiert und bestimmt somit das Alte Testament als „den Ort […] einer religionsgeschichtlichen Voraussetzung des christlichen Glaubens“.4 Slenczka plädiert aus Gründen der historischen und intellektuellen – aber letztlich auch theologischen – Redlichkeit für eine „Rückübereignung des AT an das Judentum“5 und steht dem „Recht zur Aneignung des Alten Testaments als christliche[m] Buch“6 äußerst skeptisch gegenüber. Ist das Alte Testament also nur „die Identität stiftende Urkunde einer anderen Religionsgemeinschaft“?7 Eine normative Funktion könne das Alte Testament daher im Rahmen der christlichen Theoriebildung bestenfalls dann erheben, wenn seine Aussagen „einen genuinen Ausdruck des christlich frommen Selbstbewusstseins“8 darstellten.
Zwei Perspektiven sind in dieser Fragestellung grundlegend zu unterscheiden. Erstens muss in historischer Sicht anerkannt werden, dass das Alte Testament an sich kein Zeugnis für Jesus von Nazareth als Christus ablegen kann, weil seine Texte vor Christi Geburt geschrieben wurden. Historisch ist deshalb richtig, dass das Alte Testament Ausdruck des Glaubensbewusstseins des Antiken Judentums darstellt.9 Dass die werdende und frühe Christenheit weitere Schriften dem Alten Testament in einem eigenen Kanonteil an die Seite stellt, zeigt historisch aber auch, dass die Notwendigkeit weiterer Texte gegeben war, um das Besondere des Glaubens an Jesus Christus auszusagen. Das Alte Testament genügt also nicht, um das genuin Neue, das sich in Christus ereignet, auszusagen.10 In historischer Hinsicht gibt es keinen Zweifel daran, dass die jüdischen Texte „als Deutehorizont und Sprachwelt zum Ausdruck der eigenen neuen Erfahrungen“11 herangezogen wurden. Dadurch entledigten sich die frühen Christen der Notwendigkeit, tradierte Glaubensüberzeugungen (Monotheismus, Schöpfung) eigens aufzuzeichnen. Die jüdische Vorstellungswelt, die in diesen Texten präsent ist, wird also von Anfang an als unverzichtbar für den christlichen Glauben akzeptiert und damit das Alte Testament – wenn auch im Vergleich zum Judentum in unterschiedlichen Sprachen und Textkorpora12 – zum unverzichtbaren Teil der entstehenden christlichen Bibel erklärt.
Die zweite Perspektive, die mit dieser historisch gewachsenen Entscheidung verknüpft ist, fragt nach dem Verhältnis der beiden Textkorpora im Hinblick auf Normativität und Autorität von biblischen Texten im Verhältnis zueinander.
Eine Leitlinie, die wohl als Grundkonsens evangelischer13 und römisch-katholischer14 Theologie bezeichnet werden darf, besagt, dass das Alte Testament im Lichte des Christusgeschehens gelesen werden muss und nur in diesem Licht auch Christuszeugnis darstellt.15 Das Neue Testament hingegen thematisiert das eigentliche Christusgeschehen, das wiederum Ausgangspunkt und Grundlage des spezifisch christlichen Glaubens darstellt. Das Alte Testament bildet damit den Horizont, in dem versucht wird, das Ereignis zu verstehen. Damit trägt es gleichzeitig maßgeblich zu dessen Verständnis bei und bildet es somit auch aus.16 Insofern ist es sachgemäß, das Christusereignis, dessen Zeugnis in erster Linie das Neue Testament darstellt, als hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis des Alten Testaments als christlichem Zeugnis zu verstehen.17
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist für die vorliegende Untersuchung deutlich, dass der Ansatz der Autoritätsfrage zunächst im Neuen Testament zu suchen ist. Von daher erst kann dann in einem möglichen zweiten Schritt über die Autorität des Alten Testaments für die christliche Theoriebildung nachgedacht werden.
3.2. Zweite Konzentration: Monolineare Kommunikation
Eine zweite Konzentration wird innerhalb des neutestamentlichen Kanons vorgenommen.
Es bietet sich nicht an, die Frage der Schriftautorität in erster Linie im Hinblick auf die Briefliteratur des Neuen Testaments zu stellen. Diese Einsicht verdankt sich zunächst einer formalen Abgrenzung hinsichtlich der Gattung. Briefe stellen eine andere Kommunikationsform als die Evangelien und die Offenbarung des Johannes dar und setzen eine andere Kommunikationssituation voraus.1 Während Briefe eine „dialogstiftende und kommunikationsstabilisierende Funktion“2 aufweisen und den abwesenden Dialogpartner ersetzen,3 also ein Ersatz für die mündliche Rede darstellen,4 sind Evangelien und Offenbarung eher als eine „lineare Kommunikationsform“5 aufzufassen. Das heißt nicht, dass Evangelien und Offenbarung keine kommunikative Funktion haben, sondern lediglich, dass ihre Kommunikationssituation eine andere ist. Sie richten sich nicht nur an die Adressaten, die bei der Abfassung des Briefs vor Augen stehen, sondern haben einen grundlegend weiteren Horizont.6
Evangelien und Offenbarung sind bereits von Anfang darauf angelegt, als eigenständiges Werk, als Buch gelesen und gehört zu werden.7 Um das zu erreichen, brauchen sie eine andere Autorität als ein Brief. Denn Briefe funktionieren anders. Sie sind Teil einer beabsichtigten Kommunikationssituation, die entweder bereits vorher auf anderem Wege initialisiert wurde oder durch den ersten Brief begründet werden soll. „Die kommunikative Korrespondenzfunktion macht den Brief zum Brief.“8 Seine Situation bedingt, dass sein Autor in Erscheinung tritt. Dies ist bei den anonym überlieferten Evangelien nicht der Fall. Damit der Brief gelesen wird, muss beim Leser der Wunsch nach der Lektüre des Briefes geweckt werden. Dies erklärt, warum ein Brief eine gewisse Autorität für sich beanspruchen muss: damit der Leser ihn lesen will. Briefe, die darüber hinaus den Anspruch erheben, als autoritative Texte Anerkennung zu finden, sind deshalb direkt damit beschäftigt, auch die Autorität ihres Autors zu sichern, wobei der Autor dann wiederum die Autorität des Textes verbürgt. Ganz deutlich ist dies zu sehen, wenn z.B. Paulus in seinen Briefen die Legitimität seines Apostolats herausstellen muss (Gal 1,1; 2.Kor 10–12), um so Gehör für seine Texte zu schaffen.9 In diesem Sinn erhebt Paulus „fraglos kanonische, d.h. Norm setzen wollende Autorität“10 und bindet damit die Sache des Evangeliums auch an seine Person.11
Bei den pseudepigraphen Briefen12 des NT ist die Schaffung der Autorität des Autors durch Übernahme einer fremden Autorität ein wesentlicher Grundzug der angestrebten Kommunikation.13 Gleiches gilt grundsätzlich für einen weiten Teil der apokalyptischen Literatur.14 Eine Ausnahme stellt hierbei wahrscheinlich die Offenbarung des Johannes dar, die wahrscheinlich wirklich von einem Menschen namens Johannes verfasst wurde.15
Da sich die vorliegende Untersuchung vor allem aber für die Rolle der Schrift im Kontext der christlichen Theoriebildung und Lebensdeutung interessiert, sind eher Texte zu beachten, die einen narrativen Zusammenhang entfalten, in dem sich die Leser und Hörer selbst verstehen sollen. Die Evangelien und die Apk „als Spezialfall der autobiographischen Erzählung“16 bieten sich daher an.17 Sie bilden in dieser Hinsicht den Gründungsmythos des christlichen Selbst- und Weltverständnisses ab und begründen ihn damit.18 Briefe setzen diesen Zusammenhang aber bereits voraus und argumentieren in dessen Horizont. Insbesondere die Evangelien und in abgestufter Weise auch die Offenbarung stellen ihren Lesern demnach einen Horizont vor Augen, in dem sie sich selbst verstehen sollen. Von daher entwerfen sie einen Verstehenszusammenhang, der die Grundlage christlicher Lebensdeutung herstellt. Dies entspricht dem Zielpunkt dieser Arbeit, weshalb es neben den pragmatischen Erwägungen gerechtfertigt erscheint, die Briefliteratur für diese Untersuchung auszublenden.