Kitabı oku: «Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945», sayfa 3

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TIEFPUNKT IN BERLIN (1923/24)

Nach dem kurzen Aufenthalt in Holland sah ich die Verhältnisse in Deutschland plötzlich in einem ganz anderen, klareren Licht. Die ruhige, behäbige Friedensatmosphäre, die während einer Woche in den Niederlanden wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht auf mich wirkte, hatte meine Sinne für die Katastrophenstimmung, die damals in Deutschland und vor allem in Berlin herrschte, sehr geschärft.

Das Reich befand sich im Sommer 1923 auf dem Höhepunkt des Ruhrkonfliktes. Seit dem 11. Januar hatte Poincaré dieses auch nach dem ersten Weltkrieg im Vordergrund der Politik stehende reichste Gebiet Deutschlands besetzt. Der Anlaß war ein geringfügiger Verzug des Reiches in den Reparationslieferungen an Kohle und Holz. Der eigentliche Grund des französischen Vorgehens war aber bereits damals die Sorge Frankreichs um die „sécurité” und sein Wunsch, die Kohlen- und Koksversorgung der lothringischen Eisen- und Stahlindustrie sicherzustellen sowie sich der Industriekapazität des Ruhrgebietes zu bemächtigen.

Poincaré hatte durch seine Ruhraktion das deutsche Volk in seltener Weise von links bis rechts geeinigt. Industrielle und Arbeiter des Ruhrgebietes setzten dem französischen Vorgehen den passiven Widerstand entgegen und brachten dadurch Frankreich zu dessen Überraschung um die wirtschaftlichen Früchte seines Unternehmens. Industrielle, wie Krupp und Thyssen, wurden von Militärgerichten der Besatzungsarmee zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt, genau so wie Arbeiter wegen Ungehorsams gegen die Verordnungen der Besatzungsbehörden zur Verantwortung gezogen wurden. Das Ruhrgebiet war durch eine Zollgrenze fast so hermetisch vom übrigen Deutschland abgeschlossen wie nach 1945 die Ostzone durch den Eisernen Vorhang. Die Eisenbahnen wurden von französischem und belgischem Personal betrieben.

Gleichzeitig erreichte die Markentwertung, nicht zuletzt infolge der Subventionierung des Ruhrwiderstandes durch die deutsche Regierung, ein immer gigantischeres Ausmaß. Milliardenscheine wurden zu Kleingeld, von einem Tage zum anderen verdoppelten sich die Preise und stiegen innerhalb einer Woche oft auf das Zehnfache. Ich hatte daher nicht ohne Grund zu träumen geglaubt, als ich in den Schaufenstern im Haag plötzlich wieder Preisschilder mit einstelligen Zahlen und Pfennigoder vielmehr Centbeträgen erblickte. Um so jäher war jetzt in Berlin das Erwachen aus diesem Traum. Nach dem ruhigen Selbstbewußtsein, das sich in den Gesichtern der Holländer widergespiegelt hatte, empfand ich jetzt auf einmal die unstete Hast, die meine Berliner Landsleute zur Schau trugen, um so stärker. Wie aus einem überheizten Dampfkessel schlug mir die Krisenatmosphäre in Deutschland entgegen; die Katastrophe lag in der Luft.

Auch politisch schien das Ende des Reiches nahe zu sein. Anfang des Jahres war das Memelgebiet verlorengegangen, später wurden in Sachsen und Thüringen kommunistische Regierungen gebildet, die sich offen den Anordnungen der Reichsregierung widersetzten. Bayern wollte sich ebenfalls von Berlin trennen. Im November machte Hitler seinen mißglückten Putschversuch, und die Bayern dachten sogar daran, nach Berlin zu marschieren, um dort Ordnung zu schaffen. Im Westen drohte der Separatismus. Finis Germaniae hieß es allenthalben.

Das Jahr 1923 bildete einen Tiefpunkt, der viel einschneidender war als alles, was sich bisher nach 1918 ereignet hatte. Er wurde in der späteren Zeit nur von der Katastrophe von 1945 übertroffen. Gleichzeitig aber war 1923 der Wendepunkt. Aus dem Abgrund, in den es hinabgestürzt war, erhob sich das Reich im zweiten Teile dieses Jahres wieder und begann seinen langsamen, mühevollen, aber stetigen Aufstieg, den ich im einzelnen aus nächster Nähe von der Diplomatie her miterlebte.

Zunächst aber mußte ich nach dem „Examen“ im Haag noch meine mündlichen Prüflingen an der Universität Berlin ablegen, die ich wegen der Haager Reise aufgeschoben hatte. Aus der internationalen Welt des Ständigen Gerichtshofes kehrte ich für kurze und auch recht bewegte Tage wieder in die akademische Atmosphäre zurück; anstatt mich mit völkerrechtlichen Formulierungen in französischer Sprache zu beschäftigen, mußte ich über die altenglischen Verse des Beowulf-Liedes, über Chaucers mittelenglische Canterbury Tales, über Altprovenzalisch, Mittelfranzösisch, über historische Grammatik und die spanische Phraseologie von Cervantes Auskunft geben; anstatt der modernen völkerrechtlichen Theorien beschäftigten mich jetzt wieder für einige Tage die alte und die neue Philosophie in dem mündlichen Examen, das ich Ende Juli, durch das holländische Erlebnis noch etwas verwirrt, nicht gerade mit Glanz bestand. Als frisch gebackener Doktor der Philosophie wurde ich dann am I. August in die Sprachenabteilung des Auswärtigen Amtes in Berlin übernommen.

Hier geriet ich sofort mitten in den Strudel der damals besonders spannungsreichen Außenpolitik. Zunächst allerdings nur auf schriftlichemWege, denn der Sprachendienst des Auswärtigen Amtes war die Stelle, durch welche sämtliche fremdsprachlichen Dokumente und Auslandsberichte gingen. Ebenso wurden auch alle deutschen amtlichen Schriftstücke ins Französische und Englische oder auch ins Italienische und Spanische übersetzt, die für das Ausland bestimmt waren. Die Abteilung stand unter der Leitung eines meiner Universitätslehrer vom romanischen Seminar der Universität Berlin, des Geheimrats Gautier. Sie war damals im Vergleich zu ihrem späteren Umfang noch recht klein. Sämtliche Übersetzer, ungefähr ein halbes Dutzend, hatten im obersten Stockwerk des historischen Hauses Wilhelmstraße Nr. 76 in einem bibliothekartigen Raum an einer Hufeisentafel Platz. Bei großen Gelegenheiten, wenn es sich darum handelte, Reden des Reichskanzlers oder des Außenministers für die ausländische Presse zu übersetzen, oder während der Verhandlungen mit dem Sachverständigenausschuß für die Reparationsfrage, für den viele Memoranden über die deutsche Wirtschafts- und Finanzlage zu übersetzen waren, wurde die Zahl durch zeitweilige Mitarbeiter fast verdreifacht.

Unter diesen befand sich schon zur damaligen Zeit eine ganze Reihe von Engländern, Franzosen, Italienern und Spaniern. Geheimrat Gau tier stand mit Recht auf dem Standpunkt, daß Übersetzungen in eine fremde Sprache am besten von Leuten angefertigt werden, die diese Sprache als Muttersprache beherrschen. Von Außenstehenden sind oft wegen der Beschäftigung von Ausländern im deutschen Auswärtigen Amt Bedenken laut geworden. Dabei wurde meist übersehen, daß die fremden Mitarbeiter ja nur mit Dingen zu tun hatten, die ohnedies für das Ausland bestimmt waren oder vom Ausland kamen. Tatsächlich ist mir während meiner ganzen Dienstzeit kein Fall bekanntgeworden, in welchem die Verwendung von ausländischen Hilfskräften zu irgendwelchen unliebsamen Vorkommnissen geführt hätte.

Dem Ausländer stand jeweils ein deutsches Mitglied des Sprachendienstes zur Seite, um dafür zu sorgen, daß der deutsche Originaltext von dem Ausländer nicht falsch verstanden wurde und die Übertragung nicht nur wörtlich und idiomatisch richtig, sondern auch sinngemäß erfolgte. Bei umfangreichen Texten, die schnell fertiggestellt werden mußten, wurden mehrere solcher deutsch-englischen, deutsch-französischen oder deutschspanischen Arbeitsgruppen gebildet. Ein ebenfalls aus einem Deutschen und einem Ausländer bestehendes Redaktionskomitee vereinheitlichte deren Übersetzungen zum Schluß und brachte sie in die endgültige Form. Dieses System hat sich während der ganzen 25 Jahre meiner Tätigkeit immer wieder gut bewährt. Es war ein sicheres und unfehlbares Mittel zur Herstellung einwandfreier fremdsprachlicher Texte.

Auf diese Weise hatte ich Gelegenheit, durch meine Übersetzungstätigkeit an dem deutsch-französischen Rededuell teilzunehmen, in dem auch England gelegentlich durch Äußerungen seiner Staatsmänner seine Stimme hören ließ.

Kurz nach meinem Eintritt in das Auswärtige Amt war die Regierung Guno, Mitte August, gestürzt worden. Einer der Gründe dafür war eine Note, die wir im Sprachendienst nach ihrer Veröffentlichung übersetzt hatten. Sie war einige Zeit vorher von dem englischen Außenminister, Lord Curzon, an Poincaré gerichtet worden. Gurzon hatte zwar den Franzosen die Widerrechtlichkeit der Ruhraktion auf Grund eines Gutachtens der höchsten juristischen Autoritäten in Großbritannien bescheinigt und auch sonst noch einige für französische Ohren sehr unangenehme Wahrheiten über die wirtschaftliche Nutzlosigkeit des französischen Vorgehens ausgesprochen und auf ihre Nachteile für die zukünftige Entwicklung hingewiesen. Gleichzeitig aber hatte er auch erklärt, es wäre falsch anzunehmen, England beabsichtige, Deutschland aus den von ihm selbst mit verschuldeten Schwierigkeiten herauszuhelfen. Gegen seine Alliierten würde Großbritannien nichts unternehmen.

Die Regierung Cuno, welche die ganze Zeit über auf die englische Karte gesetzt hatte, sah dadurch ihre Ruhrpolitik als gescheitert an und war nur allzu gern bereit, nach der Annahme eines sozialdemokratischen Mißtrauensantrags im Reichstag ihren Rücktritt zu erklären.

Nun bildete Dr. Stresemann als Reichskanzler eine Regierung der großen Koalition aus Sozialdemokraten, Zentrum, Demokraten und Deutscher Volkspartei. Er griff sofort in die außenpolitische Entwicklung ein. Es entstand eine Art Zwiegespräch zwischen ihm und Poincaré, in dem jeder in öffentlichen Reden auf die Äußerungen des anderen einging. Durch meine Tätigkeit im Sprachendienst konnte ich die dramatischen Wendungen dieses „Ferngespräches“ genau verfolgen. Noch heute ist mir die Unnachgiebigkeit Poincarés deutlich im Gedächtnis. Seine Äußerungen liefen immer wieder darauf hinaus, daß Frankreich das sogenannte „produktive Pfand“ der Ruhr – das ja infolge des passiven Widerstandes längst aufgehört hatte, produktiv zu sein – nicht eher aus der Hand geben würde, als bis sämtliche Reparationen von Deutschland gezahlt wären. Da die Reparationssumme aber noch gar nicht festgesetzt war, bedeutete dies natürlich, daß Frankreich auf unbestimmte Zeit im Ruhrgebiet bleiben würde. Poincaré hatte noch eine weitere Bedingung gestellt, die Abrüstung Deutschlands. Erst wenn die Kontrollkommission bestätigte, daß diese Abrüstung beendet sei, würde für Frankreich der Augenblick gekommen sein, über die Räumung mit sich reden zu lassen. Wenn sich so Satz um Satz und Wort um Wort die Starrheit Poincarés aus den Übersetzungen enthüllte, wurde mir jedesmal eindringlicher die ganze Hoffnungslosigkeit der deutschen Lage klar. Es schien tatsächlich, als sei das Ende Deutschlands gekommen. Ich hätte mir damals in den dunklen Stunden der Nachtarbeit, die uns oft bis in den frühen Morgen hinein beschäftigte, nicht träumen lassen, daß sich doch noch alles wenden und ich in weniger als einem Jahr mit Engländern, Franzosen und Belgiern in London am Verhandlungstisch sitzen würde.

Stresemann steuerte von vornherein in seinen Reden, die wir für das Ausland in vier Sprachen übersetzten und die uns ebenfalls manche schlaflose Nacht bereiteten, auf dieses Ziel zu. Er bot Frankreich als Ersatz für das unproduktive „produktive Pfand“ andere umfassendere Sicherheiten und deutete dabei an, daß die deutschen Eisenbahnen und die gesamte deutsche Industrie diesen Zwecken nutzbar gemacht werden könnten, und daß es besser sei, die Leistungsfähigkeit Deutschlands zu erhalten und zu stärken, als durch Beschlagnahme des wichtigsten Bestandteils der deutschen Industriekapazität, der Ruhr, den wirtschaftlichen Ruin des Reiches herbeizuführen und damit Deutschlands Gläubiger mit Sicherheit um jede Aussicht auf irgendwelche Reparationen zu bringen.

In seinen verschiedenen öffentlichen Äußerungen variierte Stresemann sehr geschickt dieses Thema und bewegtesich langsam tastend auf sein Zielzu. Zunächst jedoch völlig ohne Erfolg, denn als einzige Antwort auf all diese Anregungen ertönte immer nur wieder Poincarés stereotypes: „Nein, wir wollen das, was wir in der Hand haben, unter keinen Umständen preisgeben.“

Stark unterstützt wurde der deutsche Außenminister von der englischen Presse, die mit wachsender Eindringlichkeit in Artikeln damals den Abbruch des Ruhrabenteuers von Frankreich forderte. Sie führte dabei eine Sprache, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ, und spiegelte einen fast vollständigen Bruch zwischen den beiden Bundesgenossen aus dem Weltkriege wider, der durch die offiziellen Beteuerungen des englischen Auswärtigen Amtes wenig überzeugend für uns Deutsche verdeckt werden sollte.

Schließlich aber war die deutsche Widerstandskraft am Ende. Noch einmal machte Stresemann einen Versuch, England zum Eingreifen zu veranlassen. Auch dieser dramatische Schriftsatz ging durch meine Hände, ebenso wie die sofort darauf erfolgende völlig niederschmetternde Antwort von jenseits des Kanals: Deutschland müsse zuerst den passiven Widerstand aufgeben. Gleichzeitig erhob die britische Regierung den Vorwurf, daß ihre früheren Ratschläge, das Reich solle auf den passiven Widerstand verzichten, solange er noch den Wert eines Verhandlungsobjektes besäße, gegen dessen Aufgabe man Konzessionen eintauschen könnte, in den Wind geschlagen worden seien. Aus den teilweise recht unfreundlichen Formulierungen war ersichtlich, daß wir auf England nicht rechnen konnten.

Die Lage war also hoffnungslos. Da traf in letzter Minute ein Brief von Professor Haguenin ein, der schon vor dem Weltkriege an der Berliner Universität tätig gewesen war und unmittelbar danach als französischer Vertreter in Deutschland fungiert hatte. Er kannte Stresemann und wußte um dessen Ansichten über eine deutsch-französische Verständigung. Er gab daher seiner Freude über die Ernennung Stresemanns zum Reichskanzler Ausdruck und bot gleichzeitig seine guten Dienste in Frankreich an, falls man ihn brauchen könnte.

Wir hörten nach einigen Tagen, Stresemann habe dieses Angebot angenommen und Haguenin sei tatsächlich bis zu Poincaré vorgedrungen; er habe aber nichts erreichen können. Völlig niedergeschlagen, so hieß es dann, sei Haguenin aus Paris zurückgekehrt.

„Wir verstehen nicht zu siegen“, soll er in seiner Enttäuschung über die französische Unnachgiebigkeit gesagt haben. „Die Völker drücken sich manchmal in einer Sprache aus, für die es keine Übersetzung gibt. Vielleicht können überhaupt nur einzelne Menschen die Schranken von Nation zu Nation überspringen.“

Damit war nun auch der letzte Versuch gescheitert. Bei uns im Sprachendienst setzte völlige Ruhe ein. Wir bekamen nichts mehr zu übersetzen. Es war ein unheimlicher Zustand nach der Überfülle der Arbeit in den letzten Wochen. Nachdem wir im Anschluß an jede Übersetzung einer weiteren Rede Stresemanns und immer neuer Vorschläge und Anregungen voller Spannung auf Poincarés Gegenäußerung gewartet hatten und diese dann immer wieder wie ein kalter Wasserstrahl mit einem kompromißlosen Nein in unseren Arbeitsraum drang, waren wir jetzt durch die lautlose Stille noch beunruhigter als vorher durch die ungleiche Diskussion.

Zwar ahnten wir, wie die meisten Deutschen, was kommen mußte. Als wir eines Morgens Ende September unseren Dienst antraten, erfuhren wir, daß der passive Widerstand aufgegeben worden sei. Es war Frankreich gegenüber eine fast so bedingungslose Kapitulation wie die von 1945. Dennoch war dieser Augenblick des tiefsten Zusammenbruches gleichzeitig der Wendepunkt zur Besserung.

Das Haupthindernis, mit Frankreich und vor allem mit England ins Gespräch zu kommen, war damit beseitigt. Der Preis war freilich außerordentlich hoch, besonders für Stresemann persönlich. Haß und Verachtung brandeten von allen Seiten gegen ihn an. Das wurde besonders deutlich, als er Anfang Oktober nach der Umbildung seines Kabinetts vor dem Reichstag erschien, um sich wegen des Fehlschlagens seiner Politik zu rechtfertigen. Wieder übersetzten wir unter Heranziehung aller verfügbaren Mitarbeiter seine Ausführungen für das Ausland. Deutlich entsinne ich mich noch der Stellen, in denen er mit großem Mut unumwunden zugab, daß er in dem Bemühen, aus dem Verzicht auf den passiven Widerstand außenpolitisches Kapital zu schlagen, gescheitert sei. „Wir haben einen Mißerfolg erlitten“, erklärte er ohne Umschweife.

Meiner Erinnerung nach hat es nach ihm keinen deutschen Staatsmann wieder gegeben, der mit so vorbehaltloser Offenheit von seinen eigenen Mißerfolgen gesprochen hat. Wie anders verhielt sich die deutsche Staatsführung bei jener späteren Kapitulation des Jahres 1945! Welche Abgründe trennen die „Staatsmänner“ von 1945 von dem aufrechten Mann von 1923, der zwar – völlig ohne eigene Schuld, denn er war erst kurze Zeit Reichskanzler – auch kapitulieren mußte, aber sich sofort danach mit Mut und Geschick an den Wiederaufbau machte. Vor allem mit Mut. Wie oft habe ich, besonders in den Jahren nach 1933, gerade an diese Reichstagsrede Stresemanns gedacht. Seine Worte sind mir noch heute genau so im Gedächtnis, wie ich sie damals übersetzen mußte: „Der Mut, die Aufgabe des passiven Widerstandes verantwortlich auf sich zu nehmen, ist vielleicht mehr national als die Phrasen, mit denen dagegen angekämpft wurde. Ich war mir bewußt, daß ich in dem Augenblick, wo ich das tat, als Führer meiner Partei, die nach einer ganz anderen Richtung eingestellt war, damit nicht nur vielleicht die eigene politische Stellung in der Partei, ja, das Leben auf das Spiel setzte. Aber was fehlt uns im deutschen Volke? Uns fehlt der Mut zur Verantwortlichkeit.“

Neben dem Mut zur Verantwortlichkeit stand das diplomatische Geschick Stresemanns, das diese Kapitulation schließlich doch noch zum Ausgangspunkt für den Wiederaufstieg seines darniederliegenden Landes machte. Ich habe in der Folge noch oft Gelegenheit gehabt, diese Eigenschaft bei ihm zu bewundern. Ich habe neben ihm gesessen, wenn er mit den ausländischen Staatsmännern sprach, und habe dabei erkannt, daß sein diplomatisches Talent nichts Machiavellistisches an sich hatte. Es beruhte auf einer natürlichen Gabe und der ehrlichen Überzeugung, daß die Wiedergesundung Deutschlands nur auf einer Verständigung mit Frankreich aufgebaut und im europäischen Rahmen durchgeführt werden konnte. Stresemann war mehr als ein guter Deutscher, er war ein guter Europäer und hat mir, der ich sein Wirken aus nächster Nähe beobachten konnte, die Überzeugung mitgegeben, daß man das eine nicht ohne das andere sein kann.

Für uns im Sprachendienst traten nun also zunächst etwas ruhigere Zeiten ein. Es gab bis auf weiteres keine durchgearbeiteten Nächte und keine Heranziehung unserer ausländischen „Zeitfreiwilligen“ mehr wie in den aufregenden Tagen des Sommers und Herbstes. Der Schwerpunkt der Ereignisse ging jetzt auf die Innenpolitik über. Kurze Zeit nach der Einstellung des passiven Widerstandes wurde noch im Oktober die deutsche Rentenbank gegründet, die der Inflation ein Ende bereiten sollte. Die endgültige Stabilisierung trat jedoch erst einen Monat später ein, und zwar hatte der Dollar den astronomischen Wert von 2,52 Billionen Reichsmark, an den Auslandsbörsen und an den schwarzen Börsen des besetzten Gebietes sogar von 4 Billionen erreicht. Dann geschah das „Wunder der Rentenmark“, das diesen Namen mit noch größerem Recht verdiente als das „Wunder der Währungsreform“ im Jahre 1948: In beiden Fällen aber war der plötzlich eingetretene Umschwung erstaunlich und beinahe unfaßlich.

Während so auf außenpolitischem und wirtschaftlichem Gebiet eine gewisse Beruhigung eingetreten war, ging es in der Reichspolitik selbst um so aufregender zu. Mit offenkundiger Unterstützung durch die Franzosen brachen an vielen Orten des Rheinlandes und der Pfalz Separatistenunruhen aus. Die sächsische Regierung mußte mit Hilfe der Reichswehr abgesetzt werden. Ähnliche Maßnahmen waren in Thüringen notwendig, und das Verhältnis zwischen Bayern und dem Reich spitzte sich gefährlich zu. Gegen Ende des Jahres 1923 aber waren alle Schwierigkeiten überwunden, wenigstens vorübergehend. Ein Krisenjahr erster Ordnung war zu Ende. Deutschland hatte am Rande des Abgrundes gestanden. Es war letzten Endes durch die geschickte Führung der damaligen Leiter der deutschen Politik vor der Katastrophe bewahrt geblieben, so kritisch auch die deutsche öffentliche Meinung den einzelnen Persönlichkeiten der Regierung gegenüberstehen mochte.

Ende November stürzte das Kabinett Stresemann, weil der Einmarsch in Sachsen für die Sozialdemokratie zu einer so schweren Belastungsprobe wurde, daß sie sich aus der Regierungs-Koalition zurückzog. Auch außenpolitisch sank das Barometer wieder, denn von Seiten Frankreichs wurde nach Aufgabe des passiven Widerstandes der gleiche kompromißlose Kurs eingehalten wie vorher. Im Ruhrgebiet änderte sich so gut wie nichts. Die Abtrennungsbestrebungen gingen im Gegenteil weiter. Die Ruhrbehörde der damaligen Zeit, die französisch-belgische M. I. C. U. M. (Mission Interalliée de Contrôle des Usines et des Mines), verhandelte unter Umgehung der deutschen Behörden direkt mit den Ruhrindustriellen und bürdete ihnen schwere Lasten auf. Glücklicherweise aber blieb Stresemann dem Auswärtigen Amt als Chef, dem deutschen Volk als Leiter seiner Außenpolitik in schwierigsten Zeiten und Europa als mutiger und geschickter Vorkämpfer für die europäische Verständigung erhalten. Er wurde Außenminister im Kabinett Marx.

Gleichzeitig trat Ende November fast unbemerkt die entscheidende Wendung auf außenpolitischem Gebiet ein, d. h. in der Reparationsfrage, die unter den damaligen Verhältnissen mit dem politischen Ruhrproblem eng verknüpft war. Am 30. November stimmte nämlich die Reparationskommission der Bildung von zwei Ausschüssen zu, die sich mit der Untersuchung der Zahlungsfähigkeit Deutschlands und mit der deutschen Kapitalflucht beschäftigen sollten.

Daß dieser Beschluß zustande kam, war nicht zuletzt dem Eingreifen der Vereinigten Staaten zuzuschreiben. Sie begannen damit nach dem Ersten Weltkriege auf wirtschaftlichem und finanziellem Gebiet eine ähnliche Rolle zu spielen, wie sie nach dem Zweiten Weltkriege von ihnen offiziell und in größerem Ausmaße zum Vorteil des alten Kontinents übernommen worden ist. Im Gegensatz zu den Jahren nach 1945 nahmen sie damals nur privat an den Bemühungen zur Lösung der wirtschaftlichen und finanziellen Probleme teil, die sich aus dem Ersten Weltkrieg ergeben hatten. Immerhin aber spielten prominente Amerikaner wie General Dawes und Owen D. Young mit Zustimmung der amerikanischen Regierung eine führende Rolle bei den Untersuchungen der Wirtschafts- und Finanzsachverständigen, die schließlich in dem Dawes-Plan die Grundlage für die im Jahre 1924 auf der Londoner Konferenz getroffenen finanziellen und politischen Abmachungen bildeten. Außerdem wurde damals, wie nach 1945, die amerikanische Finanzkraft, als deren mehr oder weniger offizielle Vertreter die amerikanischen Sachverständigen gelten konnten, entscheidend bei der Lösung der Fragen beteiligt.

Allmählich begann sich diese neue Entwicklung auch auf meine Arbeit auszuwirken. Im Januar 1924 erschienen die beiden von der Reparationskommission ernannten Sachverständigenausschüsse in Berlin, um hier an Ort und Stelle ihre Untersuchungen über die Zahlungsfähigkeit Deutschlands und über das deutsche Auslandskapital zu führen, das für die Zahlung der Reparationen herangezogen und zur Rückkehr nach Deutschland veranlaßt werden sollte.

Vor und während der Arbeit der Sachverständigen in Berlin lief der Sprachendienst Tag und Nacht wieder auf vollen Touren. Wir übersetzten die zahlreichen Denkschriften des Finanz- und Wirtschaftsministeriums über die deutschen Verhältnisse. Der Staatshaushalt und die Mittel, ihn ins Gleichgewicht zu bringen, die Handels- und Zahlungsbilanz des Reiches, die Wirtschafts- und Industriepolitik, die Steuerbelastung und vieles andere wurden mit deutscher Gründlichkeit in allen Einzelheiten behandelt. Diese Arbeit war für mich nicht nur sprachlich eine ausgezeichnete Schulung, sie vermittelte mir vor allem auch sachlich einen sehr genauen Überblick über die gesamten Finanz- und Wirtschaftsverhältnisse unseres Landes, der mir bei späteren Verhandlungen noch oft sehr zustatten gekommen ist.

Der Hauptteil der eigentlichen Dolmetscherarbeit lag aber hier in den Händen von Michaelis, der als Angehöriger des Finanzministeriums in all diesen Dingen selbstverständlich versierter war als irgend jemand anders. Trotzdem mußte auch ich gelegentlich deutsche Sachverständige als Dolmetscher in Kommissionssitzungen begleiten und lernte auf diese Weise die prominenten Mitglieder des Ausschusses auch persönlich kennen.

Die interessanteste Gestalt war Dawes selbst, der aus ähnlichen Gründen damals so in aller Munde war wie etwa heute der Marshallplan-Administrator Hoffman. Er wurde schon deshalb gleich in der ersten Sitzung sympathisch, weil er die ganze Zeit über Pfeife rauchte. Pfeifenraucher sind nach meinen internationalen Erfahrungen meistens ruhige und umgängliche Leute. Ich habe es auch späterhin noch öfter bestätigt gefunden. Der nächste Pfeifenraucher, zu dem ich Vertrauen gewann und bei dem sich meine Theorie bewahrheitete, war der französische Ministerpräsident Herriot, dem ich noch im selben Jahr auf der Konferenz in London am Verhandlungstisch gegenübersaß.

Von Dawes hatte ich den Eindruck, daß er nicht denselben Überblick über die komplizierte Materie der deutschen Zahlungsfähigkeit hatte wie andere Mitglieder des Sachverständigenausschusses. In den wenigen Sitzungen, in denen ich ihn erlebte, schien mir seine Hauptstärke mehr in jener bei vielen Amerikanern auch heute noch zu beobachtenden unbekümmerten und formlosen Verhandlungsführung zu liegen. Sie gehen eher mit dem gesunden Menschenverstand als mit gründlicher Sachkenntnis an die Probleme heran und meistern gerade deshalb viele Schwierigkeiten leichter als die Europäer, die vor lauter Einzelheiten und Fachkenntnissen oft den Ausweg aus den Schwierigkeiten nicht erkennen.

Der eigentliche Kopf des Sachverständigengremiums schien mir damals Sir Josiah Stamp zu sein, jener bekannte englische Wirtschaftler, bei dem sich große Sachkenntnis, besonders auf dem Gebiete des Steuerwesens, mit einer typisch englischen Abgewogenheit des Urteils und vorsichtiger Formulierungskunst paarte.

Unter den Franzosen fiel mir besonders Parmentier als scharfsinniger Kenner der Finanzfragen auf. Alles in allem hatte ich in den Sitzungen den Eindruck, daß die Sachverständigen der Gegenseite sich durchaus objektiv bemühten, den Tatsachen auf den Grund zu gehen. Ich glaubte zu erkennen, daß sie, weit entfernt von der Verbissenheit Poincarés, den Realitäten mit einer wohltuenden Unvoreingenommenheit ins Auge sahen. Aus verschiedenen Äußerungen konnte ich schließen, daß sie ihre ganze Arbeit auf die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands abstellten. Das konnte natürlich nur die Rückkehr zu dem Zustand vor dem 11.Januar 1923, d. h. die Räumung der Ruhr bedeuten. Die Sachverständigen schienen auch nicht mehr, wie frühere Reparationsgremien, kritiklos eine Reparationssumme festsetzen zu wollen, ohne sich um die Zahlungsfähigkeit Deutschlands zu kümmern. Im Gegenteil, ich hörte von ihnen immer wieder, daß sich alle ihre Erwägungen auf der Leistungsfähigkeit Deutschlands aufbauten. Das führte dazu, daß sie die Erhöhung der Reparationszahlungen durch eine Steigerung der deutschen Leistungsfähigkeit und nicht, wie früher, durch einen verstärkten Druck auf das Reich zu erzielen suchten.

So hatte ich denn bereits nach den wenigen Sitzungen, an denen ich teilnahm, das Gefühl, daß die leidige Reparationsfrage nun zum ersten Male von der rein politisehen, unrealistischen Grundlage in eine unsentimentale, sachliche Atmosphäre gebracht worden war. Das erschien mir als ein außerordentlicher Fortschritt und stand in einem so scharfen Gegensatz zu allem, was ich vorher erfahren hatte, daß ich voller Hoffnung auf den Abschluß dieser Arbeiten wartete und glaubte, es müsse sich nun alles zum Besseren wenden.

Diese Erwartungen erfüllten sich jedoch leider nicht. Im Februar verließen die Sachverständigen Berlin, um ihren Bericht in Paris fertigzustellen. Inzwischen aber wurden wir im Auswärtigen Amt daran erinnert, daß die Politik einen anderen Geist hatte als diese nüchternen Wirtschaftssachverständigen. Poincaré beherrschte nach wie vor das Feld. Das von ihm nicht eingestandene, aber auch in Frankreich immer stärker empfundene Fehlschlagen seiner Ruhrpolitik, das sich u. a. in einem erheblichen Sinken des Franc-Kurses ausdrückte, hatte ihn offensichtlich nachdenklicher gestimmt. Es bedeutete für einen Mann wie ihn zweifellos schon viel, daß er sich überhaupt mit der Ernennung der Sachverständigenausschüsse und einer objektiven Prüfung der deutschen Zahlungsfähigkeit einverstanden erklärt hatte. Aber in den eigentlichen Fragen der deutsch-französischen Politik, insbesondere in der Ruhr-Angelegenheit, war er so unnachgiebig wie immer.

Die konservative englische Regierung Baldwin war im Januar gestürzt worden. An ihre Stelle trat das Labour-Kabinett MacDonald, auf das man in Deutschland große Hoffnungen setzte, das aber zunächst nur wenig von sich hören ließ.

Im April hatten wir dann plötzlich wieder sehr viel zu tun. Der Dawes-Bericht war fertig und wurde von uns ins Deutsche übersetzt. Es waren wieder Großkampftage, bei denen jede nur verfügbare Hilfskraft eingesetzt wurde, denn die beteiligten inneren Ressorts wollten natürlich so schnell wie möglich den genauen Wortlaut kennenlernen. Wir gaben ein dreisprachiges Exemplar heraus, in dem auf der einen Seite der englische und französische Text erschien, während der deutsche Text auf der gegenüberliegenden Seite abgedruckt wurde. Hier, wie bei vielen späteren Gelegenheiten, leistete besonders die Reichsdruckerei auch im Setzen fremdsprachiger Texte Erstaunliches.

Nach meinen verhältnismäßig günstigen Eindrücken von den Berliner Verhandlungen fand ich den Bericht ziemlich enttäuschend. Ich hatte das deutliche Gefühl, daß er in Paris unter starken politischen Einwirkungen zustande gekommen war.

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