Kitabı oku: «Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945», sayfa 2

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AUFTAKT IM HAAG (1923)

„Devisenkontrolle, Pässe vorzeigen“, weckte mich eine Stimme im Morgengrauen. Wir waren an der Grenze. Aber sofort zeigte sich die Wunderwirkung meines ersten amtlichen Passes. Es war noch nicht der blaue Diplomatenpaß, den ich in späteren Jahren bei mir trug, auch noch nicht der grüne Ministerialpaß, der in England wegen seines mißverstandenen Wörtchens „Ministerial“ manchmal zu den komischsten Empfangsfeierlichkeiten führte, es war ein einfacher Sonderausweis auf dickem Amtspapier, den ich durch die Türspalte hinausreichte, und sofort tönte es zurück: „Alles in Ordnung, danke sehr und gute Reise.“

Beruhigt streckte ich mich wieder aus und setzte den unterbrochenen Schlaf bis tief in den Morgen hinein fort. Erst in Apeldoorn blickte ich zum Fenster hinaus. Ein blitzsauberer, gepflegter Bahnhof. Behäbige, alte Holländer und würdige Matronen schritten gemächlich auf einen gegenüber haltenden Zug mit einer Lokomotive zu, die aus einer alten Spielzeugschachtel zu stammen schien. Es war tatsächlich wie ein Traum.

Aber allmählich kam auch das unvermeidliche Erwachen. Je mehr wir uns dem Haag näherten, um so beklommener wurde es mir ums Herz. Ich wurde mir nach der Freude über den ungewohnten Reisekomfort und das Wunder des fremden, friedlichen Landes allmählich immer stärker bewußt, auf was für ein gefahrvolles Abenteuer ich mich eigentlich eingelassen hatte. Ich war ja noch niemals im Ausland gewesen, ich hatte meine Sprachkenntnisse auf rein „synthetische“ Weise an der Berliner Universität erworben. Zwar wurde dort nach den neuesten Methoden unterrichtet, mit Mikrophon und Schallplattenaufnahmen, so daß man Satz für Satz die eigene Aufnahme mit der eines richtigen Engländers oder Franzosen vergleichen konnte. Ich war durch eine sehr strenge Schule gegangen, aber trotzdem … war es nicht fast eine Herausforderung an das Schicksal, daß ich ohne irgendwelche Erfahrungen nun vor dem höchsten Gericht der Welt, dem Ständigen Internationalen Gerichtshof im Haag, in einem großen Prozeß als Dolmetscher auftreten wollte?

So kam ich denn gegen Mittag etwas kleinlaut auf dem Haager Hauptbahnhof, der Station „Staatsspoorweg“, an, die mich ebenfalls an eine Spielzeugschachtel erinnerte. Ein Angestellter der Deutschen Gesandtschaft nahm mich in Empfang und fuhr mit mir in einem altväterlichen Taxi in das Hotel De Twee Steden im Buitenhof. Das war ein ehrwürdiges Gebäude, dem man von außen und von innen die jahrhundertealte Tradition anmerkte. Ich erfuhr später, daß es bereits seit dem Jahre 1665 Fremden Unterkunft gewährt hatte. Mit seinen schweren, eichenen Balken und Türen, seinen gemütlichen Salons und Gastzimmern, der alten, breit ausladenden, knarrenden Treppe und den wohnlichen, kleinen Zimmern erschien es mir damals als ein Urbild althergebrachter holländischer Gastfreundlichkeit. Der alte Portier, der grauhaarige Oberkellner und das matronenhafte Zimmermädchen paßten wunderbar in diesen gediegenen Rahmen. Das Ganze mutete mich wie ein Gemälde eines alten holländischen Meisters an. Hier atmete alles Ruhe, Gedämpftheit und Solidität. Welch ein Kontrast zu der nervösen, gespannten Aufgeregtheit des Nachkriegsdeutschlands, das ich soeben verlassen hatte, und das sich damals gerade auf dem Höhepunkt der Inflation und mitten im Ruhrkampf befand!

Aus der Versponnenheit dieses Hotels wurde ich mit jäher Hand in die aufregende Gegenwart zurückgerissen. Als ich gerade meine Sachen auspackte, klopfte es plötzlich energisch an meiner Zimmertür, und auf mein „Herein“ erschien ein kleiner, blasser Herr mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und dunklen, vor Aufregung fast glühenden Augen. „Sind Sie Herr Schmidt, der neue Dolmetscher?“ fragte er mich nervös. Als ich bejahte, stellte er sich als Oberregierungsrat Georg Michaelis vor. Ich hatte ihn noch nie persönlich gesehen, aber schon sehr viel von ihm gehört. Er war eine international bekannte Persönlichkeit. Oft schon hatte ich sein Bild in den Zeitungen gefunden: er war der Chefdolmetscher der Reichsregierung, der Mann, der sich seine Sporen auf der Friedenskonferenz in Versailles verdient hatte, als der eigentliche Dolmetscher, ein zum Auswärtigen Amt gehörender Justizrat, unter den Deutschland auferlegten Friedensbedingungen zusammenbrach und vor Erregung nicht mehr weitersprechen konnte. Damals war Michaelis für ihn eingesprungen und hatte durch seine glänzenden Leistungen sogar Clemenceau und Lloyd George beeindruckt. Wilson hatte erklärt, der Mann müsse aus Chikago stammen, so gut war sein amerikanisches Englisch.

Wenn es jemals ein Sprachgenie gegeben hat, dann war es Michaelis anerkanntermaßen. Er beherrschte elf Sprachen. Und zwar nicht nur „auf Krücken“ mit Hilfe von Wörterbüchern und Grammatiken, wie das bei vielen der sogenannten Sprachgenies der Fall ist, sondern er sprach fließend wie ein im Lande Geborener. Ich selbst konnte dies in bezug auf sein Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch bestätigen, und die Holländer erklärten mir, daß sein Holländisch von dem eines Amsterdamers nicht zu unterscheiden war.

Aber Michaelis wußte auch, was er leistete. Er hatte die Allüren eines weltberühmten Stars. Das mag zwar berechtigt gewesen sein, aber es brachte ihm doch in dem nüchternen Behördenbetrieb immer wieder große Schwierigkeiten. Denn ein Dolmetscher ist nun einmal nicht die Hauptperson, wie Michaelis manchmal anzunehmen schien. Er steht zwar im Mittelpunkt des Geschehens und spricht für die Großen und Größten, aber er muß sich bewußt sein, daß er trotz allem äußerlichen Glanz nur ein kleines, wenn auch wesentliches Rädchen im großen Uhrwerk des internationalen Getriebes ist.

Das vergaß Michaelis immer wieder, und so gab es ständig neue Schwierigkeiten mit den Delegationen, denen er angehörte. Auch jetzt wieder hatte er sich mit dem deutschen Vertreter in diesem Prozeß, dem ehemaligen Justizminister Schiffer, entzweit. Und diesem Zwist verdankte ich meine Reise nach Holland.

„Können Sie stenographieren?“, „Haben Sie überhaupt schon jemals irgendwo gedolmetscht?“ so prasselten seine Fragen auf mich hernieder. Ich schüttelte nur jedesmal beklommener den Kopf, was ihn zu der wenig trostreichen Schlußfolgerung veranlaßte: „Dann werden Sie hier bestimmt Schiffbruch erleiden, was glauben Sie, welche Anforderungen vor diesem Gericht bei der komplizierten, juristischen Materie an den Dolmetscher gestellt werden!“ Und dann fügte er noch hinzu, gewissermaßen um mich völlig zu vernichten: „Aber ich reise auf jeden Fall ab, ich habe es nicht nötig, mich von einer Delegation so behandeln zu lassen, wie das hier geschehen ist. Die Herren können dann sehen, wie sie mit Ihnen fertig werden.“ Mit diesen in höchster Erregung hervorgestoßenen Worten verließ er das Zimmer ebenso plötzlich wieder, wie er gekommen war. Ich aber saß eine Weile sehr nachdenklich auf dem Bettrand. Trotz des warmen Sommerwetters – es war im Juli – hatte ich plötzlich kalte Füße.

Aber Michaelis hatte mir auch gesagt, daß an diesem Sonnabendnachmittag keine Verhandlung mehr stattfinden würde und die nächste Sitzung erst für Montag früh anberaumt sei. So hatte ich denn noch eine Art Galgenfrist und atmete erleichtert auf – nun würde ich ja noch Zeit haben, mich mit der Materie bekannt zu machen.

Die Kenntnis des Sachverhaltes ist für den Dolmetscher tatsächlich eine unerläßliche Vorbedingung. Im Laufe der Jahre bin ich auf Grund meiner Erfahrungen immer mehr zu der Überzeugung gelangt, daß ein guter diplomatischer Dolmetscher drei Eigenschaften besitzen muß: er muß in allererster Linie, so paradox es auch klingen mag, schweigen können, zweitens muß er selbst in gewissem Ausmaß Sachverständiger in den Fragen sein, um die es sich bei seinen Übersetzungen handelt, und erst an dritter Stelle kommt eigenartigerweise die Beherrschung der Sprache. Ohne Sachkenntnis genügen auch die besten Sprachkenntnisse nicht. Ein zweisprachiger Laie wird die Ausführungen eines Chemieprofessors niemals übersetzen können, aber ein Chemiestudent, der sich etwas eingehender mit fremden Sprachen befaßt hat, kann sich einem ausländischen Chemiker gegenüber ohne weiteres verständlich machen.

Aus diesem Grunde meldete ich mich bei dem deutschenDelegationsführer, Exzellenz Schiffer, und bei dem Vertreter des Auswärtigen Amtes, dem späteren Gesandten Martius, und ließ mich von beiden Herren „einpauken“. Mit einem Stoß Akten unter dem Arm verließ ich sie und konnte so am Sonntag die Probleme, um die der Prozeß ging, in aller Ruhe studieren.

Es handelte sich um den im Völkerrecht später zu einer ziemlichen Berühmtheit gelangten sogenannten Wimbledon-Fall, der in mehrfacher Hinsicht für die damalige Lage Deutschlands, wie sie sich aus dem Versailler Vertrag ergab, und für die Art und Weise charakteristisch war, wie dieser Vertrag in das geltende Völkerrecht eingriff. Deswegen lohnte es sich vielleicht, etwas näher auf den Tatbestand einzugehen, mit dem sich übrigens in der Folge jeder Examenskandidat für das diplomatische Attachéexamen im Auswärtigen Amt genau bekannt machen mußte, da der Wimbledon-Fall zu den Standardexamensfragen gehörte.

Die „Wimbledon“ war ein englischer Dampfer, der von einer französischen Gesellschaft gechartert worden war, um Kriegsgerät und Artilleriematerial von Saloniki nach dem polnischen Marinedepot in der Freien Stadt Danzig zu transportieren. Die deutschen Behörden hatten dem Schiff den Zugang zum Kieler Kanal mit der Begründung verwehrt, daß das Deutsche Reich in dem zu jener Zeit noch nicht beendeten polnisch-russischen Kriege neutral sei und daher die Verpflichtung habe, kein Kriegsmaterial für eine der beiden kriegführenden Parteien durch deutsches Hoheitsgebiet transportieren zu lassen.

Der französische Botschafter in Berlin hatte einige Tage nach dem Zwischenfall, am 23. März 1923, von der deutschen Regierung die Aufhebung des Durchfahrtverbotes auf Grund des Artikels 380 des Versailler Vertrages gefordert. Dieser Artikel schien allerdings seinem Wortlaut nach der französischen Forderung recht zu geben, denn er besagte, daß der Kieler Kanal „den Kriegs- und Handelsschiffen aller mit Deutschland im Frieden lebenden Länder jederzeit samt seinen Zufahrtswegen zur Durchfahrt offenstehen solle.“

Das Deutsche Reich hatte sich demgegenüber auf den Standpunkt gestellt, daß die im Völkerrecht begründete Neutralitätsverpflichtung vor den vertraglichen Bestimmungen eines Einzelvertrages den Vorrang habe, besonders auch, weil der Versailler Vertrag von einem der beiden Kriegführenden, nämlich Sowjetrußland, nicht unterzeichnet worden sei und diesem Lande gegenüber daher nicht als Entschuldigung für die Nichtbeachtung einer völkerrechtlichen Verpflichtung angegeben werden könne.

Dieser verhältnismäßig einfache, aber doch für die damaligen Verhältnisse sehr bezeichnende Tatbestand war nun von beiden Parteien mit einer Fülle von komplizierten, völkerrechtlichen Argumenten ausgestattet worden. Mir brummte förmlich der Kopf, nachdem ich mich mühsam durch die vielen Schriftsätze und Gegenäußerungen hindurchgearbeitet hatte. Aber ich wußte nun wenigstens einigermaßen, worum es ging.

Am Montag früh fuhr ich im feierlichen Tagesgewand der Diplomaten, dem Cut und den gestreiften Beinkleidern, dem Anzug, der nach 1933 SO verpönt war und mir noch manche Schwierigkeit bringen sollte, ziemlich beklommen mit der Delegation zum Gericht.

Der Ständige Internationale Gerichtshof, la Cour Permanente de Justice Internationale, wie er in den amtlichen Schriftsätzen eindrucksvoll genannt wurde, hatte seinen Sitz in dem etwas außerhalb der Stadt gelegenen Friedenspalast, der nach den Plänen eines französischen Architekten in fünfjähriger Arbeit 1913 fertiggestellt worden war. Der Bau erinnerte mich mit seinen roten Backsteinen etwas an die Steinbaukästen, die in meiner Jugend in Deutschland üblich waren. Zu ihm hatten viele Völker der Welt Beiträge geleistet. So sahen wir gleich bei der Einfahrt das aus Deutschland stammende, große kunstgeschmiedete Gartentor. Später erfuhr ich, daß Österreich die Bronzekandelaber geschenkt hatte, die große Uhr am Turm eine Gabe der Schweiz war, die Marmorverkleidung der Vorhalle aus Italien stammte und eine Marmorgruppe „Friede durch Recht“ von den Vereinigten Staaten gestiftet worden war. Den tiefsten Eindruck machte mir damals aber eine riesige Vase aus Jaspis, die Nikolaus II. von Rußland geschenkt hatte.

In diesem großen, feierlichen Gebäude mit seinen weiten Hallen eilten die Gerichtsdiener lautlos in tadellos geschnittenen Uniformen dahin ; in drei Sprachen unterhielten sie sich mühelos mit den Besuchern, während sie miteinander holländisch sprachen. Breite Marmortreppen und Säulengänge verbanden die mir unendlich hoch erscheinenden Wartezimmer und Sitzungssäle. Der Fuß versank in schwellenden Teppichen, und der ganzen Atmosphäre haftete etwas geisterhaft Lautloses an. Daß ich mir um so bemitleidenswerter vorkam, je länger ich mich in diesem Friedenspalast aufhielt, ist angesichts der Neuartigkeit all dieser Eindrücke und des Bewußtseins meiner eigenen Unerfahrenheit kaum verwunderlich.

Durch einen Zufall mußte ich vor Beginn der Sitzung in einem Nebenzimmer eine Zeitlang warten. Während ich darüber nachdachte, was mir nun wohl bevorstehen würde, tat sich plötzlich lautlos die hohe Tür auf, die zu einem Nebenraum führte, und herein trat wie eine Schicksalsgestalt der im Dämmerlicht dieses Raumes noch bleicher und unheimlicher wirkende Michaelis. Der hatte mir noch gefehlt, um mich völlig zu verwirren! Er öffnete gerade den Mund, als draußen eine Glocke ertönte. Es war das Zeichen zum Beginn der Sitzung. Ich erhob mich schnell, froh, daß die Ungewißheit des Wartens nun zu Ende war. Beim Hinausgehen trat Michaelis dicht an mich heran, blickte mich durchdringend an und sagte weiter nichts als: „Mönchlein, Mönchlein, du gehst einen schweren Gang.“

Mit diesem Trost versehen betrat ich den Sitzungssaal. Es war einer jener übergroßen hellen, respekteinflößenden Gerichtssäle, wie ich sie sonst nur im Theater oder auf Gemälden gesehen hatte. Die hohe Richterbank war noch leer, aber die Parteien waren schon anwesend. Auf der linken Seite saßen wir Deutsche als die Beklagten, Schiffer, Martius und ich, wahrlich ein kleines Häufchen gegenüber der stattlichen Zahl der Kläger, unter denen sich der berühmte Rechtsberater der englischen Regierung, Sir Gecil Hurst, befand. Mit seinem scharf geschnittenen Gesicht und den intelligenten Augen fiel er mir sofort auf. Ich sollte ihn später noch bei vielen anderen Konferenzen treffen, auf denen er zusammen mit dem Völkerrechtler im Auswärtigen Amt, Friedrich Gaus, und dessen französischen Kollegen, Fromageot, ein international berühmtes Dreigestirn bildete. Gleich neben ihm saß der jedem Juristen durch seine zahlreichen Schriften bekannte Professor Basdevant von der juristischen Fakultät der Pariser Universität. Man sah ihm den Franzosen sofort an, wie er mit lebhaften Gesten auf den immer etwas gelangweilt dreinblickenden Sir Cecil Hurst einsprach. Der kleine Italiener Pilotti, ein hoher Richter aus Rom, war der nächste in der Reihe unserer Ankläger. Auch ihn habe ich später noch oft als Rechtsberater seiner Regierung angetroffen. Den Schluß bildete ein japanischer Diplomat namens Ito, der damals Geschäftsträger im Haag war. Etwas gedrückt im Hintergrunde saß dann noch der polnische Vertreter Olechowski, ebenfalls ein Diplomat aus dem polnischen Auswärtigen Amt, der vorübergehend der polnischen Gesandtschaft im Haag zugeteilt worden war. Im Gegensatz zu uns hatten die Alliierten einen zahlreichen Mitarbeiterstab um sich versammelt, so daß das Ganze eher an eine Konferenz als an eine Gerichtsverhandlung erinnerte.

Aus dieser Zusammensetzung der Anklägergruppe wurde sofort deutlich, daß die Gegenseite für diesen ersten Waffengang mit dem Deutschen Reich nach dem Kriege vor den Schranken dieses höchsten Gerichtes ihre allerstärksten Geschütze aufgefahren hatte. Ich kannte natürlich niemand, es war ja mein erstes Auftreten auf der internationalen Bühne. Die ausländischen Akteure wurden mir von Martius im Flüsterton benannt, der wohl meine Aufregung bemerkt hatte und mich auf diese Weise etwas ablenken wollte. Die Namen dieser Koryphäen waren mir aus meiner Pressetätigkeit wohl vertraut und beeindruckten mich fast noch mehr als die feierliche Atmosphäre, die bei der halblauten Unterhaltung vor dem Erscheinen des hohen Gerichtshofes im Saale herrschte.

Die Tribünen waren bis auf den letzten Platz besetzt, da dieser erste Streitfall zwischen den Alliierten und Deutschland vor dem Haager Gericht in der durch die Ruhrbesetzung gespannten internationalen Lage beim breiten Publikum als eine wahre Sensation empfunden wurde. Nach wenigen Minuten kündigte ein Gerichtsdiener mit einer imposanten silbernen Kette das Erscheinen des Gerichtes an: „La Cour“. Alles erhob sich, während die Richter langsam und gemessen einzeln durch eine kleine Seitentür den Saal betraten und sich auf ihre Plätze an dem erhöhten Richtertisch gegenüber den Bänken der Parteien begaben.

Die einzelnen Gestalten, die ich in ihren langen Talaren wie auf einer Bühne dem Richtertisch zuschreiten sah, wirkten mit ihren markanten Gesichtern und den weißen Haaren, die viele von ihnen schmückten, wie Gemälde aus einer alten Galerie. Als erster kam der Schweizer Loder herein, der den Vorsitz führte. Seinen Namen flüsterte mir Martius noch schnell zu. Nur den deutschen Richter, den bekannten Völkerrechtler Professor Schücking, kannte ich schon von Bildern her.

Dies also war das später so berühmte Gericht, das der Völkerbund im Jahre 1922 für derartige Streitfälle geschaffen hatte.

Unmittelbar nach Eröffnung der Sitzung erteilte Präsident Loder dem deutschen Vertreter das Wort. Justizminister Schiffer trat an das vor dem Richtertisch aufgestellte Pult und begann mit seinen Ausführungen. Er sprach wohl länger als eine halbe Stunde. Ich machte mir währenddessen in wilder Hast meine Notizen, so wie ich es in den Kursen des Auswärtigen Amtes gelernt und Hunderte von Malen geübt hatte. Ich hielt auch die kleinsten Nebensätze und Wendungen fest und füllte Blatt um Blatt mit großen Buchstaben.

Schiffer bestritt selbstverständlich in keiner Weise die Gültigkeit des Versailler Vertrages und des Artikels 380, der, wie ich bereits den Akten entnommen hatte, der alliierten Seite rechtzugeben schien. Er betonte aber, daß es auf eine sinngemäße Auslegung des Vertrages ankäme und stellte sich im weiteren Verlauf seiner Ausführungen auf den Standpunkt, daß das allgemein geltende Völkerrecht mit seinen Neutralitätsverpflichtungen den Vorrang vor einem Einzelvertrag, d. h. dem Versailler Vertrag, habe. Nach dem Völkerrecht aber dürfe ein Neutraler keine Munitionstransporte für einen Kriegführenden sein Gebiet passieren lassen. Das Reich besitze nach wie vor die Souveränität über den Kieler Kanal und sei völkerrechtlich verpflichtet, die Neutralität zu wahren; Artikel 380 gelte für normale Zeiten, müsse sich aber im Falle eines Krieges dem Völkerrecht unterordnen.

Außerdem führte Schiffer einen auch heute noch interessanten innenpolitischen Gesichtspunkt an. Mehrfach waren von der sowjetfreundlichen Arbeiterbevölkerung in Deutschland Munitionszüge für Polen aufgehalten worden, und es war zu schweren Unruhen gekommen, bei denen Polizei und sogar Reichswehr eingesetzt werden mußten. Demnach habe, so argumentierte Schiffer, die deutsche Regierung in Wahrung lebenswichtiger Interessen im Zusammenhang mit der inneren Sicherheit gehandelt, wenn sie die „Wimbledon“ an der Durchfahrt durch den Kieler Kanal gehindert habe, und könne ein besonderes Notstandsrecht geltend machen, das wiederum den Vorrang vor den Bestimmungen des Versailler Vertrages genieße.

Dazu komme noch, daß einer der beiden kriegführenden Staaten, nämlich die Sowjetunion, am Versailler Vertrag nicht beteiligt sei und Deutschland daher seiner Neutralitätsverpflichtung Rußland gegenüber ohne Rücksicht auf den Versailler Vertrag habe nachkommen müssen. Es sei ganz undenkbar, eine Vertragsbestimmung so auszulegen, daß sie eine Verletzung der Pflichten Dritten gegenüber, d. h. in diesem Falle gegenüber Rußland, nach sich ziehe.

„Traduction“, sagte dann der Präsident, und mir blieb fast das Herz stehen. Ich nahm meine Notizblätter schnell zusammen und stellte mich selbst an das Rednerpult. Es herrschte eine gespannte Stille. Von der Publikumstribüne her hörte ich erwartungsvolles Hin- und Herrücken und Hüsteln. Damals war die Kenntnis des Deutschen beim internationalen Publikum noch sehr viel weniger verbreitet als heute. Den ganzen Krieg über und in den Nachkriegsjahren waren nur wenige Deutsche im Ausland aufgetaucht. An internationalen Konferenzen hatte das Reich noch kaum teilgenommen, und so hatte ich denn deutlich das Gefühl, daß sowohl die Zuschauer als auch die alliierten Vertreter voller Interesse auf die Übersetzung der Ausführungen Schiffers warteten. Auch die Richter blickten gespannt nach mir hin. Ich holte einmal ganz tief Luft und begann dann mit meiner Übersetzung. Unter dem Zwang, nun ganz auf mich selbst gestellt vor aller Augen und Ohren zeigen zu müssen, was ich leisten konnte, waren erstaunlicherweise mit einem Schlage die Beklommenheit und Angst von mir gewichen. Und als ich nach den ersten Minuten merkte, daß die Wiedergabe der deutschen Plaidoyers gar nicht so schwer war, wie ich geglaubt hatte, fühlte ich mich an dem Rednerpult fast wie zu Hause. Im Unterbewußtsein hatte ich den Eindruck, vor meinen Lehrern im Auswärtigen Amt zu stehen, vor Geheimrat Gautier oder Professor Freund, und verlor dem plötzlich gar nicht mehr so streng dreinblickenden Präsidenten des Gerichtes gegenüber, den ich ja der Gepflogenheit gemäß direkt anzusprechen hatte, jede Scheu. Meine Übersetzung wickelte sich fast wie eine Unterhaltung mit ihm ab, und nach einer halben Stunde kehrte ich befriedigt und erleichtert an meinen Platz zurück. Mindestens ebenso erleichtert war natürlich die kleine Delegation. Martius gab mir zur Ermunterung gleich zu verstehen, daß Schiffer und er mit mir sehr zufrieden waren.

Danach kam die Gegenseite zu Wort. Zuerst der Engländer und dann Basdevant. Die Alliierten stützten sich naturgemäß hauptsächlich auf den Wortlaut des Versailler Vertrages. Zum ersten Male erlebte ich hier wie später noch bei vielen anderen Gelegenheiten, wie sehr die französische und gelegentlich auch die englische Jurisprudenz auf den Buchstaben des Gesetzes Wert legt und erst in zweiter Linie den Geist der Bestimmungen heranzieht. Die von deutscher Seite aufgestellte These, daß das Völkerrecht den Vorrang vor den Einzelverträgen habe, wurde in keiner Weise anerkannt.

Außerdem stellte die Gegenpartei der deutschen These über die Pflichten der Neutralen den Vergleich des Kieler Kanals mit dem Suez-und dem Panama-Kanal entgegen. Letztere sind tatsächlich rechtlich den Meerengen gleichgestellt, d. h. sie stehen theoretisch im Krieg und im Frieden sämtlichen Schiffen aller Nationen, ohne Rücksicht darauf, ob sie Krieg führen oder neutral sind, offen. Diese Assimilierungstheorie der Alliierten wiederum wurde von deutscher Seite in keiner Weise anerkannt, da der Kieler Kanal als rein deutsches Hoheitsgebiet betrachtet wurde.

Trotz der scharfen Gegensätze fiel mir die Höflichkeit angenehm auf, mit der man uns Deutsche dort vor Gericht behandelte, nicht nur in den Sitzungen, sondern auch in den Verhandlungspausen, wo Engländer, Franzosen, Italiener und andere Alliierte sich mit uns Deutschen aufs freundschaftlichste unterhielten, als gäbe es keinen „Wimbledon“-Fall, als bestünden keine scharfen internationalen Spannungen, als seien die Franzosen und Belgier nicht ins Ruhrgebiet eingerückt, und als gäbe es keinen passiven Widerstand der deutschen Zivilbevölkerung.

Genau so, wie mir meine erste Übersetzung gelungen war, erging es mir in diesen Tagen bei den anderen Gelegenheiten, bei denen ich aufs „Trapez“ mußte.

Ich hatte übrigens mit der Übersetzung der englischen und französischen Ausführungen nichts zu tun. Denn die amtlichen Sprachen des Haager Gerichtshofes waren die gleichen wie die des Völkerbundes: Englisch und Französisch, im Gegensatz zu den Vereinten Nationen von heute, wo noch Russisch, Spanisch und Chinesisch hinzugekommen sind. Allerdings werden auch hier nur Englisch und Französisch als Arbeitssprachen verwendet. Jeder Redner, der sich in einer nichtamtlichen Sprache ausdrückte, mußte damals selbst für die Übersetzung in eine der beiden Amtssprachen Sorge tragen. Dieser Bestimmung verdankte ich meine Anwesenheit im Haag, denn Schiffer sprach nur deutsch, und erst der französische Text galt vor Gericht. Das deutsche Original besaß keinerlei amtlichen Wert und wurde auch nicht stenographisch aufgenommen. Das geschah nur mit den englischen und französischen Darlegungen. Meine französische Übersetzung übertrug der damals sehr bekannte Professor Camerlynck vom französischen Auswärtigen Amt, der als offizieller Gerichtsdolmetscher fungierte, ins Englische. Ich selbst konnte diese englische Übersetzung nicht vornehmen, denn sie hätte vom Gericht aus gesehen als eine Übertragung aus dem Französischen ins Englische gegolten, und ich hätte mir Funktionen angemaßt, die mir als Mitglied einer Einzeldelegation nicht zustanden.

So hatte ich denn diese erste Feuerprobe glücklich überstanden, Michaelis war tatsächlich am ersten Tage abgereist, nachdem er mir noch neidlos erklärt hatte, er verstehe nicht, wie ich das eigentlich fertiggebracht habe. Zum Abschied gab er mir noch einige Tips, wie ich dieses oder jenes besser machen könnte. Er hat mich überhaupt auch in der Folge stets freundlich und nachsichtig unterstützt, obwohl er damals und später allen Grund gehabt hätte, mich als einen scharfen Konkurrenten zu behandeln.

Ich kehrte dann mit der Delegation, nicht ohne ein gewisses Gefühl der Freude über meinen ersten Erfolg, wieder nach Berlin zurück und sollte schon nach kurzer Zeit in das Auswärtige Amt übernommen werden.

Am 17. August wurde im Haag das Urteil gesprochen. Meine Anwesenheit war dafür nicht mehr nötig, die Verhandlungen waren ja abgeschlossen. Deutschland verlor den Prozeß. Das Gericht stellte, allerdings nur durch Mehrheitsbeschluß, fest, daß die „Wimbledon“ zu Unrecht an der Durchfahrt durch den Kieler Kanal gehindert worden war. Außerdem wurde das Reich zur Zahlung eines Schadenersatzes von 140 000 Francs zum Ausgleich für die Verluste verurteilt, die infolge der Liegezeit und der Umleitung des Schiffes durch das Skagerrak entstanden waren.

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