Kitabı oku: «Vorgeschichte des politischen Antisemitismus», sayfa 3

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Die Angriffe auf »jüdischen« Finanzschwindel, durch welche sich die Reaktion auf den großen Krach von 1873 Luft schaffte, müssen im Lichte dieser tieferen ökonomischen und weltanschaulichen Auseinandersetzung gesehen werden. Es machte wenig Eindruck, als der jüdische Abgeordnete Lasker, der Führer der Liberalen, im Preußischen Abgeordnetenhaus (am 14. Januar und 1. Februar 1873) und im Reichstag (am 4. April 1873) Alarm schlug und enthüllte, daß mehrere konservative Abgeordnete höchst zweifelhafte Aktiengeschäfte unterstützt hatten. Unter den von Lasker genannten Personen befand sich Geheimrat Hermann Wagener, ein Führer der Gruppe, die sich um die Kreuzzeitung (35) scharte; er war ein Freund Adolf Stoeckers und später Förderer der antisemitischen Christlichsozialen Partei. Lasker vermochte es nicht, die Juden vor der Anschuldigung zu bewahren, den geschäftlichen Zusammenbruch verursacht zu haben; vielmehr sah man in seinen Reden einen von der jüdischen Gruppe gestarteten Versuch, die Verantwortung auf die Konservativen abzuwälzen. In der rapiden kapitalistischen Umgestaltung der deutschen Gesellschaft war Teilnahme der Konservativen an Spekulationsschwindeleien sicherlich kein genügender Grund, die neue Ära als ein Produkt des Konservatismus erscheinen zu lassen. Im Gegenteil, die Zeit gehörte dem kapitalistischen Fortschritt. Er hatte neue Gesetze und eine neue Geschäftsmoral gebracht, die sozialen Gegensätze vertieft, die politischen und religiösen Spannungen verschärft. Gerade durch diese Veränderungen aber konnte sich die soziale Stellung der Juden verbessern. In einer solchen Atmosphäre fanden die Behauptungen von Glagau und anderen Antisemiten, der Statistik zufolge seien 90 Prozent der Spekulanten Juden, williges Gehör.

Den Antisemitismus von Publizisten wie Marr und Glagau – die Liste der Agitatoren ließe sich leicht erweitern, ohne daß dabei wesentlich neue Einsichten zu gewinnen wären – nahm die öffentliche Meinung als einen Ausdruck privater Überzeugung zur Kenntnis, ohne ihn noch mit politischen Organisationen in Verbindung zu bringen. Das änderte sich 1875. Der Antisemitismus wurde in dem Augenblick eine Angelegenheit der Politik und der politischen Strategie, als zwei politisch repräsentative Blätter ihn auf ihre Fahnen schrieben: die Kreuzzeitung, das Sprachrohr der preußischen Konservativen und des orthodoxen preußischen Protestantismus, und die Germania, das Zentralorgan der Zentrumspartei.

In einer nicht gezeichneten Artikelserie, die unter dem Namen »Ära-Artikel« notorisch wurde, begann im Juni 1875 die Kreuzzeitung einen heftigen Angriff auf »die Finanz- und Wirtschaftspolitik des neuen deutschen Reiches«, die »auf unbefangene Beurteiler den Eindruck reiner Bankierpolitik« mache36). Als Schuldige wurden die Männer um Bismarck bezeichnet, darunter sein Finanzberater Bleichröder. Nicht nur, daß Bismarcks »regierender Bankier« ein Jude sei, beanstandete das Blatt; die Polemik richtete sich gegen die ganze nationalliberale Ära, die auf nichts anderes hinauslaufe als auf eine »von und für Juden betriebene Politik und Gesetzgebung«. Die Juden beherrschten, hieß es, durch Lasker und Bamberger die Nationalliberalen, durch die Nationalliberalen das Parlament und durch die nationalliberale Presse das deutsche Volk; diese Politik müsse ins Verderben führen. Die einflußreiche Stellung der Juden im öffentlichen Leben Deutschlands, drohte die Kreuzzeitung ganz offen, werde nicht unangetastet bleiben, sobald die christlich und national gestimmten Deutschen erst einmal den Charakter der von den herrschenden Gruppen betriebenen »Judenpolitik« durchschaut hätten (37).

Im Sommer 1875 nahm die Germania den Kampf auf und verstärkte die Anklagen der Kreuzzeitung in einer Serie antisemitischer Artikel von meisterhafter Demagogie38). Das Blatt stichelte gegen Bismarck durch den Abdruck einer Rede, die er im ersten Vereinigten Landtag von 1847 gegen einen Gesetzesentwurf zur Judenemanzipation gehalten hatte; Bismarck erklärte damals, er gönne den Juden alle Rechte, »nur nicht das, in einem christlichen Staat ein Obrigkeitsamt zu bekleiden«39). Die Germania durchsuchte die deutschen Klassiker, Goethe, Herder, Kant und Fichte, nach antijüdischen Äußerungen und begann damit ein Studium, das einige Jahrzehnte später von Theodor Fritsch im »Handbuch der Judenfrage« und schließlich vom nationalsozialistischen »Institut zur Erforschung der Judenfrage« weiterbetrieben wurde. Einige Germania-Artikel machten auf die berufliche Verteilung der Juden aufmerksam; in den »produzierenden Schichten« seien sie nur spärlich vertreten, sehr zahlreich dafür in »lukrativen Geschäften«, wo sie auf Kosten der christlichen Bevölkerung Reichtümer ansammelten; »ganz horrende Mißverhältnisse« bestünden im Anteil von christlichen und jüdischen Schülern an höheren Lehranstalten. Die Regierungskampagne gegen die katholische Kirche, Bismarcks »Kulturkampf«, interpretierte das katholische Blatt einerseits als Feldzug der Juden gegen Rom, unternommen aus Rache für die Unterdrückung des Judenstaates in Palästina vor 1800 Jahren, andererseits als ein Ablenkungsmanöver, das den Juden erlaube, ungestört das deutsche Volk zu beschwindeln und auszubeuten.

Die Germania ließ es jedoch nicht mit einer Kritik bewenden, sondern entwickelte ein eigenes Programm für eine »Emanzipation der Christen von den Juden«. Sie war zu vorsichtig, gesetzliche Maßnahmen gegen die Juden zu empfehlen – erlebten doch die Katholiken gerade am eigenen Leib die Wirkung einer ihnen feindlichen Gesetzgebung. Statt dessen appellierte das Blatt an die wirtschaftliche Solidarität der Christen, popularisierte Schlagworte wie »Kauft nicht von Juden!« oder »Leiht nicht von Juden!« und empfahl die Gründung von Sparkassen und Kreditanstalten als einen Schritt zur wirtschaftlichen Befreiung vom jüdischen Wucher.

Nach dem gemeinsamen Angriff der beiden führenden Blätter des konservativen und katholischen Lagers nahm die »Anti-Kanzler-Liga« den Kampf gegen den »jüdischen Liberalismus« auf. Die von Katholiken und Konservativen gegründete Liga, der einflußreiche Aristokraten beider Konfessionen angehörten, genoß das Wohlwollen des kaiserlichen Hofes. Unter Joachim Gehlsen veröffentlichte sie ein Blatt, das sich sarkastischerweise zuerst Deutsche Eisenbahnzeitung nannte – der Bau von Eisenbahnen war eine der »Gründer«-Industrien, worin Vermögen gewonnen und verloren worden waren–und später Deutsche Reichsglocke. Bismarck beschwert sich in seinen Memoiren darüber, daß der Kaiser zwar die Zusammenarbeit mit ihm in dieser Zeit nie abgelehnt, aber doch täglich die Reichsglocke gelesen habe, ein Blatt, das »ausschließlich davon lebte«, ihn zu verleumden. Vom Königlichen Hausministerium seien nicht weniger als dreizehn Exemplare für den preußischen und andere Höfe bezogen worden. Die Liga zeichnete auch verantwortlich für eine Anzahl von Büchern und Broschüren, gespickt mit heftigen Angriffen auf Bismarck und die Juden, zum Beispiel Rudolph Meyers »Politische Gründer und die Korruption in Deutschland« (1877), Joachim Gehlsens »Aus dem Reiche Bismarcks« (1894) und von demselben, ohne Verfasserangabe, »Das kleine Buch vom großen Bismarck« (1877). Der Eisenbahnzeitung galten die Juden als Bismarcks »Kulturkämpfer«, die nach dem uralten Prinzip »teile und herrsche« einen Kampf gegen die Katholiken provoziert hätten. Bei der Judenfrage, schrieb der ungenannte Verfasser eines Artikels – wahrscheinlich war es Rudolph Meyer (40) – gehe es um Leben und Tod des deutschen Volkes; sie könne erst nach der Beseitigung von Bismarck und seinem jüdischen Regierungssystem gelöst werden41).

Es gab sowohl kulturelle als auch politische Gründe für dieses merkwürdige Bündnis von Konservativen und Katholiken. Bismarck hatte den »Kulturkampf« begonnen, um die politische Macht des Katholizismus zu beschneiden. In der 1870 konstituierten Zentrumspartei fürchtete er eine Mobilmachung gegen den Staat, das heißt gegen sein Reich, das auf der Vorherrschaft der protestantischen preußischen Monarchie beruhte. Der Kanzler und die Nationalliberalen betrachteten den politischen Katholizismus als die Seele der »großdeutschen«, pro-österreichischen, anti-preußischen Opposition gegen Bismarcks »kleindeutsche« Lösung der Einigung Deutschlands unter Führung Preußens mit Anschluß Österreichs. »Nationalgesinnte« Kreise mißtrauten dem politischen Katholizismus auch deshalb, weil der Zentrumsführer Ludwig Windthorst ein treuer Freund des Königs von Hannover war, dessen Land sich Preußen 1866 einverleibt hatte.

Als Bismarck mit der Hilfe des liberalen Bürgertums die Macht der katholischen Kirche im Reich einzuengen begann, konnte der orthodoxe Protestantismus leicht die Gefahren dieser Politik für seine eigene Stellung erkennen. Der Kulturkampf wuchs sich zu einer prinzipiellen Auseinandersetzung zwischen geistlicher und weltlicher Autorität aus.

Gegnerschaft zu Bismarcks Politik allein konnte jedoch kaum die unmittelbare Ursache für den gemeinsamen konservativ-katholischen Angriff auf die Juden gewesen sein. 1875, als die antisemitische Kampagne begann, stand der Kulturkampf schon in seinem vierten Jahr. Ebensowenig läßt sich der politische Angriff als eine spontane Reaktion auf den Wirtschaftszusammenbruch erklären. Der große Krach lag schon etwa zwei Jahre zurück. Nur weil die aufgespeicherten Spannungen durch drängende politische Ereignisse und Erwägungen freigesetzt worden waren, konnten sie sich in der Kampagne entladen.

Die Wahlen vom Januar 1874 hatten den Nationalliberalen – »der Partei Bismarcks und der Juden« – einen außerordentlichen Sieg gebracht. Die Zahl ihrer Reichstagssitze konnten sie von 119 (von insgesamt 382) auf 152 (von 397) erhöhen. Auch die Fortschrittspartei hatte sich gut gehalten und ihre 45 Mandate um 4 vermehrt. Die Konservativen aber waren empfindlich geschlagen worden. Ihr Prozentsatz an Wählerstimmen fiel von 14 auf 7, die Anzahl ihrer Reichstagsmandate von 54 auf 21. Am erstaunlichsten aber hatte das Zentrum abgeschnitten. Trotz der Kulturkampfagitation gelang es ihm, seine Reichstagsmandate von 58 auf 91 zu erhöhen. Der Katholizismus war jetzt die einzige größere politische Kraft, mit der die sehr geschwächten Konservativen sich verbünden konnten. Von ihnen kam die Initiative für den Angriff auf den »jüdischen Liberalismus«; die antisemitischen Artikel in der Kreuzzeitung erschienen vor denen in der Germania. Hier zum ersten Mal in der Geschichte des modernen Reichs zeigte die »kleine, aber mächtige Partei«, wie die Konservativen gern sich selbst nannten, daß sie vor keiner politischen Koalition zurückschreckte, wenn es um die Verteidigung ihrer traditionellen Vorrechte ging.

Entsprechende Gründe dürften auch bei dem Entschluß des Zentrums mitgespielt haben, sich an der antisemitischen Kampagne zu beteiligen. Zwar konnte es als die Partei einer religiösen Minderheit kaum hoffen, gleich den Konservativen die Stimmen des Mittelstandes zu gewinnen. Aber es durfte sich andere politische Vorteile von dem Angriff auf die »Juden und Liberalen« erwarten. Wenn es dem Zentrum gelang, die Nationalliberalen, die im Reichstag Bismarck am eifrigsten förderten, zu schwächen, so war die Fortsetzung des Kulturkampfes für den Kanzler viel schwieriger geworden. Außerdem hing der Einfluß des Zentrums im Reichstag weitgehend davon ab, ob die Notwendigkeit einer Mehrheitsbildung die Linke oder Rechte dazu zwang, sich um eine Koalition mit den Katholiken zu bemühen. Obwohl die Zahl der Zentrumsmandate im Reichstag beträchtlich angestiegen war, hatten die Wahlen von 1874 dennoch die taktische Lage der katholischen Partei geschwächt, denn die Linke war stark genug geworden, um auf ihre Unterstützung verzichten zu können. Fortschrittler und Nationalliberale hatten mit 201 von insgesamt 397 Sitzen eine bequeme Mehrheit. Es lag im Interesse des Zentrums, durch ein Bündnis mit der jetzt stark geschwächten Rechten ein besseres Gleichgewicht herzustellen.

Solche politischen Erwägungen waren aller Wahrscheinlichkeit nach von Bedeutung, als das Zentrum beschloß, an dem antisemitischen Feldzug teilzunehmen. Aber der Grad von Feindseligkeit, die ausgesprochene Leidenschaft der Germania-Artikel, läßt noch auf tiefere Beweggründe schließen. In der Heftigkeit des antisemitischen Ausbruchs kam auch die Erbitterung einer Gruppe zum Ausdruck, die ihre eigene Position mit der einer anderen Minderheitsgruppe verglich. Die Juden, die bis vor kurzem als Parias gegolten hatten, kraft des Gesetzes Staatsbürger zweiter Klasse gewesen waren, schienen binnen weniger Jahre in den Brennpunkt des öffentlichen Lebens gerückt zu sein, eng verbunden mit der Regierungspolitik und dem Reichskanzler selbst. Die Katholiken dagegen fanden sich offiziell verfolgt und von vielen Seiten angegriffen. »Welch’ ein Vergnügen jetzt dieser Kulturkampf für die Juden ist!«, bemerkte der katholische Schriftsteller Constantin Frantz verächtlich im Jahre 1874. »Sie haben alle Veranlassung, ihn nach Möglichkeit anzuschüren und nach Kräften mitzukämpfen. Auch wird man ihnen die Anerkennung nicht versagen, daß sie dabei wirklich ihren Mann stehen. Aber sie wissen auch, wofür sie kämpfen, weil sie in der Kirche ganz richtig das Bollwerk des Christentums erkennen. Was können sie mehr wünschen, als die Zerstörung dieses Bollwerks? Das Christentum als bloß geistiges Prinzip, hoffen sie, wird sich dann in den allgemeinen Kulturbrei einstampfen lassen.«42)

Daß den Katholiken die »Juden und Liberalen« ein Dorn im Auge waren, hatte seine guten Gründe. Die Liberalen hatten seit der Gründung des Reichs bereitwillig an einer undemokratischen Regierung teilgenommen und sich in der Freundschaft des Kanzlers gesonnt. Prominente Juden wie Lasker waren an dem parlamentarischen Kampf für die antikatholische Gesetzgebung von 1873 eifrig beteiligt gewesen. Dem berühmten Pathologen Rudolf Virchow, einem der Begründer der Fortschrittspartei und Befürworter der Bismarckschen Katholikenverfolgung, wurde die zweifelhafte Ehre zuteil, den Begriff »Kulturkampf« prägen zu dürfen. Die Berliner liberale Presse, mit der viele Juden verbunden waren, hatte einen Kreuzzug gegen Konservative und katholische »Reichsfeinde« geführt und geholfen, das Prädikat »ultramontan« zu einem der populärsten Schmähworte der Zeit zu machen, zu einem Begriff, in dem sich liberale Aufklärung gegen katholisches Dogma mit nationalistischer Feindseligkeit gegen eine Autorität verband, die ihren Sitz ultra montes hatte, nämlich im Vatikan.

Die antisemitische Agitation des katholischen Lagers endete jäh und unter merkwürdigen Umständen. Ein katholisches Blatt in der Provinz, die Schlesische Volkszeitung, hatte mit dem Nachdruck der Germania-Artikel begonnen, unterbrach aber die Reihe plötzlich und veröffentlichte am 2. Oktober 1875 eine Erklärung, in der es sich von dem Inhalt der Artikelserie lossagte43). Haß gegen die Juden sei unvereinbar mit christlicher Nächstenliebe, stellte das Blatt fest und fragte sich, ob die Germania nicht der Kreuzzeitung in die Falle gegangen sei; der Verfasser der Germania-Artikel könne sehr wohl Hermann Wagener sein, ein Vertrauter Bismarcks, und die Anregung sei möglicherweise direkt vom Kanzler gekommen, der auf diese Weise eine Änderung seiner Politik vorbereiten wolle. Ob die Schlesische Zeitung mit dieser Vermutung recht hatte, läßt sich kaum feststellen. Wawrzinek44) nimmt an, daß die Germania-Artikel von Joseph Cremer stammten, der später einer der Führer und Bismarcks Agent in Adolf Stoeckers antisemitischer Berliner Bewegung wurde. Ob jedoch von oben inspiriert oder nicht, die Artikel taten ihr Werk: zwei ehemalige politische Opponenten stießen auf einen gemeinsamen Feind. In der antijüdisch-antiliberalen Kampagne fanden sich katholische Gegner des Preußentums und protestantisch-konservative Antikatholiken zusammen.

Von der liberalen Geschichtsschreibung ist das heftige Aufflammen von politischem Antisemitismus in den katholischen Kreisen der siehziger Jahre oft als eine bedauerliche Episode in einer sonst harmonischen Beziehung zwischen zwei Minderheitsgruppen betrachtet worden, als ein faux pas der gereizten Kirche, den sie schnell wieder korrigiert habe. Eine solche Erklärung dürfte kaum genügen. Die Zentrumspartei war dabei, eine exponierte strategische Stellung im Reichstag zu beziehen, die sie von 1879 bis zum Ende der Weimarer Republik nicht wieder verlieren sollte. Als eine konfessionelle Partei, deren Mitglieder sich aus allen sozialen Klassen rekrutierten, war sie in der Lage, politische Bündnisse mit der Rechten und der Linken einzugehen, ohne befürchten zu müssen, ihre Anhänger könnten ihr davonlaufen. Als Bismarck Ende der siebziger Jahre den Kulturkampf abbrach, gewährten ihm die Katholiken als Gegenleistung bedingte parlamentarische Unterstützung. Die nationalliberale Ära war vorbei; mit ihr erlosch der stärkste Anlaß für Antisemitismus in den katholischen Reihen (45).

Die Strategie der Katholiken den Juden gegenüber hatte also wohl ebensowenig etwas mit christlichen Prinzipien zu tun wie die der protestantischen Konservativen. In erster Linie waren es politische Erwägungen, von denen sich der Katholizismus leiten ließ. Daß seine Beziehung zu den Juden im weiteren Verlauf der deutschen Geschichte nicht unfreundlich war, beruhte auf anderen Faktoren als auf dem christlichen Glauben an die Brüderlichkeit der Menschen (46).

In seinem Vorhaben, Deutschland zu einigen und zu einer modernen Großmacht zu entwickeln, war Bismarck gezwungen gewesen, sich auf den Liberalismus zu stützen, nicht aus innerer Neigung, sondern weil die immer noch halbfeudale preußische Aristokratie seinen Plänen lauwarm gegenüberstand. Schon in den siebziger Jahren jedoch wurde es immer klarer, daß es auf die Dauer kaum möglich sein werde, das Reich mit einer liberalen Mehrheit zu regieren, ohne dafür drastische Änderungen in der Machtstruktur des Staates in Kauf nehmen zu müssen. Schon seit der Reichsgründung standen die nivellierenden Tendenzen von Handel und Industrie in scharfem Konflikt mit den ständischen Interessen der preußischen Aristokratie und Monarchie. Das Staatsgefüge konnte diese Spannungen nicht eliminieren, sie lagen in ihm selbst begründet (47).

Während seiner ganzen Kanzlerschaft war es Bismarcks Bestreben, zu verhindern, daß die konstitutionelle Regierungsform unter liberalem und sozialistischem Druck von der parlamentarischen abgelöst werde. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht, eine notwendige Konzession an den Liberalismus, beschwor ständig diese Gefahr, und des Kanzlers Abhängigkeit von den Nationalliberalen verstärkte sie noch. Die Liberalen gewährten ihre Unterstützung nicht ohne Gegenleistung. Sie drängten auf Liberalisierung des Staatsapparates und auf Demokratisierung der Verwaltungslaufbahn, die immer noch weitgehend ein Monopol des Land- und Dienstadels war. Sie betrieben eine Wirtschaftspolitik, die wachsende Opposition hervorrief und die Führung der Regierungsgeschäfte komplizierte. Es tat der Stellung des Kanzlers als eines »ehrlichen Maklers« zwischen Vertretern gegensätzlicher Interessen nicht gut, daß er in Abhängigkeit zu einer einzelnen Partei geraten war. Angesichts seiner Position und der politischen Aufgaben, die er sich gesetzt hatte, mußte ihm daran liegen, daß sich im Parlament keine ständigen Mehrheiten gruppierten.

Die von der Wirtschaftskrise hervorgerufenen sozialen und politischen Spannungen ließen bald eine neue Gefahr am politischen Horizont auftauchen, die es Bismarck noch schwerer machte, seinen Kurs einzuhalten. Im Mai 1875 vereinigten sich in Gotha die beiden Hauptorganisationen der sozialistischen Arbeiterschaft – der von Lassalle 1863 in Leipzig gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein und die von den Anhängern von Karl Marx, insbesondere Wilhelm Liebknecht und August Bebel, 1869 in Eisenach gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei – zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (48). In den Wahlen von 1874 hatten die beiden Richtungen zwar erst neun Reichstagssitze erhalten, und ihrer Ideologie nach war die neue Partei scharf gegen die Grundsätze des bürgerlichen Liberalismus gerichtet, in der parlamentarischen Praxis aber spielte sie doch die Rolle eines Verbündeten der linken Liberalen; beide erstrebten eine parlamentarische Regierungsform. Bismarcks vordringlichste Aufgabe wurde es jetzt, seinen Obrigkeitsstaat gegen den Einbruch einer gefährlichen Koalition zu verteidigen; seine politische Strategie zielte darauf ab, die Liberalen zu schwächen und die Sozialisten zu unterdrücken.

Sozialgesetzgebung und Schutzzollpolitik, so hoffte der Kanzler, würden es der Regierung ermöglichen, sich die von der Krise verursachte allgemeine Unzufriedenheit zunutze zu machen. Staatseingriffe sollten die liberalen Vorkämpfer des Freihandels in Verlegenheit setzen und schwächen, dagegen Macht und Ansehen des christlichen Staates stärken und den Sozialdemokraten den Wind aus den Segeln nehmen. Zur Durchführung seiner Absicht aber brauchte Bismarck die Unterstützung einer ihm wohlgesinnten Reichstagsmehrheit, die er in diesem Falle nur von den Konservativen und Katholiken erhoffen konnte. Die Grundlagen für eine Koalition der beiden Parteien waren im Laufe der antisemitisch-antiliberalen Kampagne gelegt worden. Daß Bismarck persönlich dabei aufs heftigste angegriffen worden war, trübte nicht seinen Blick für die Möglichkeiten, die sich aus der Neugruppierung ergaben.

* Sämtliche Anmerkungen befinden sich am Schluß des Buches, S. 229 ff. Die hochgestellten Ziffern, z. B. 2), beziehen sich auf reine Quellenangaben, die in Klammern gesetzten, z. B. (4), auf sachliche Anmerkungen, die dem besseren Verständnis des Textes dienen. (Anm. d. Bearbeiters.)

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