Kitabı oku: «Vorgeschichte des politischen Antisemitismus», sayfa 7

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Hinter jener dringenden Warnung Bismarcks lag mehr als persönliche Rivalität mit Waldersee. Zwar sollte der Hieb auf Stoecker gewiß Waldersee als möglichen Kanzler des Prinzen Wilhelm ausschalten; es ist bekannt, wie eifersüchtig und mißtrauisch Bismarck gegen Persönlichkeiten war, in denen er potentielle Nachfolger argwöhnte, wie schonungslos er sie aus dem Wege räumte. Aber hier ging es um ernstere Fragen. Der alternde Staatsmann beobachtete mit steigender Besorgnis und Gereiztheit jede neue Entwicklung, von der die noch ungefestigte Struktur des Reiches bedroht werden könnte. Würde sie dem wachsenden Druck innerer Konflikte standhalten? Würde sein Regierungssystem, das zwar nicht parlamentarisch, aber auch nicht gegen solche Konflikte geschützt war, allen Gefahren widerstehen? Bismarcks Vertrauen in seine eigene Fähigkeit, die Zukunft des Reiches zu sichern, mag unbegrenzt gewesen sein, aber seine Macht war es nicht.

Die Stellung des Reichskanzlers war entscheidend geschwächt durch ihre strikte Abhängigkeit vom Kaiser. Da Bismarck die Parteien von oben herab zu behandeln pflegte, konnte er sich auf keine von ihnen unbedingt verlassen. Er war auch nicht der anerkannte Wortführer irgendeiner bestimmten sozialen Gruppe. Die besonders im Ausland verbreitete Annahme, er sei vor allem der Vertreter seiner eigenen Kaste, der Junker, gewesen, ist völlig abwegig. Selbst die preußische Armee blieb nur so lange ein williges Werkzeug in seiner Hand, als er das uneingeschränkte Vertrauen des Königs besaß. Wilhelm I. war allerdings völlig auf seinen Kanzler angewiesen. Solange der Kaiser lebte, durfte Bismarck hoffen, durch geschicktes Manövrieren oder, falls nötig, durch Verfassungsbruch die undemokratische Struktur des Reiches bewahren zu können. Aber sobald einmal der ehrgeizige junge Wilhelm II. Kaiser sein würde, bestand die Gefahr eines tiefen Konflikts zwischen Regierung und Reichstag, der dem jungen Staat zum Verhängnis werden könnte. Im Kartell wollte Bismarck eine repräsentative und dauernde Verbindung aller staatstreuen Kräfte schmieden, auf denen sein Reich beruhte: Aristokratie, Armee, Beamtenschaft und gemäßigt liberales, aber nationalgesinntes Bürgertum. Vereinigt sollten sie stark genug sein, die Sozialdemokraten in Schach zu halten und die Schritte des jungen Kaisers zu lenken. Das Kartell war die Voraussetzung für eine stabile Regierung. Als Bismarck es durch Stoeckers Oppositionsgruppe innerhalb der Konservativen gefährdet sah, schlug er mit aller Macht zurück. Er warnte den Prinzen:

»Es gibt Zeiten des Liberalismus und Zeiten der Reaktion, auch der Gewaltherrschaft. Um darin die nötige freie Hand zu behalten, muß verhütet werden, daß Ew. Hoheit schon als Thronfolger von der öffentlichen Meinung zu einer Parteirichtung gerechnet werden. Das würde nicht ausbleiben, wenn Höchstdieselben zur inneren Mission in eine organische Verbindung treten, als Protector.«116)

Bismarcks Autorität und die Erregung, die Waldersees Schachzüge allenthalben hervorgerufen hatten, veranlaßten den Prinzen, die Mission fallen zu lassen. Mit Sorge sah Stoeckers Kreis, wie der Kanzler den künftigen Kaiser für seine Kartellpolitik gewann. »Es hat seitdem jede persönliche Berührung des Hofes mit der Stadtmission und ihrem Leiter aufgehört. Beide sind seitdem in gewissen hohen Kreisen vervehmt«, klagte Stoeckers ergebener Biograph117).

Im März 1888 starb Wilhelm I. Friedrich III., sein schwerkranker Sohn, auf dessen liberale Gesinnung die Freisinnigen so große Hoffnungen gesetzt hatten, und dem der Ausspruch zugeschrieben wird, die antisemitische Bewegung sei »die Schmach des Jahrhunderts«, regierte nur drei Monate lang. Er war entschlossen, der antisemitischen Agitation ein Ende zu bereiten, und stellte den Fall Stoecker gleich bei der ersten Zusammenkunft seines Kronrates zur Debatte. Da Kaiser und Kanzler sich einig waren, schien Stoeckers Schicksal besiegelt. Aber wiederum kamen politische Erwägungen dazwischen. Bismarck gelang es, den Kaiser davon abzubringen, Stoecker ohne weiteres aus seinem Amt als Hofprediger zu entfernen. Zum dritten Male wurde entschieden, Stoecker bedingungslos zwischen seinem Amt und seiner politischen Tätigkeit wählen zu lassen.

Bismarcks Intervention für Stoecker kam nicht etwa aus einer plötzlichen Sympathie für seinen bisherigen Widersacher. Er wollte Stoecker beseitigen, aber nicht durch einen aufsehenerregenden Gewaltstreich, aus dem die Freisinnigen, seine alten Gegner, die schon seit langem die Entlassung des Hofpredigers verlangt hatten, Nutzen ziehen könnten. Für Bismarcks Zwecke war es ausreichend, Stoecker von der Politik fernzuhalten. Die Entscheidung des Kronrates wurde Stoecker erst im Frühjahr 1889 mitgeteilt, als Wilhelm II. schon den Thron bestiegen hatte. Stoecker entschied sich für sein Hofpredigeramt.

Das Abkommen, das er nach einer Unterredung mit einem Vertreter des Kaiserlichen Hofes selbst entwarf, hatte folgenden Wortlaut:

»Da Se. Majestät eine Tätigkeit, wie ich sie bisher im politischen Leben Berlins ausgeübt habe, mit dem Amte eines Hofpredigers für unvereinbar halten, ist es selbstverständlich, daß ich dieselbe aufgebe, so lange Se. Majestät mir dies Amt anvertrauen. Nach den gemachten Erfahrungen habe ich auch zunächst jede Freudigkeit verloren, den öffentlichen Kampf gegen den Umsturz auf politischem, sozialem und religösem Gebiete in der bisherigen Weise fortzusetzen. Es hat deshalb für mich unter den gegenwärtigen Verhältnissen keine Schwierigkeit, sondern entspricht meiner Neigung, den politischen Parteikampf überhaupt für mich wie für die christlich-soziale Partei einzustellen. Ich werde diesen Teil meiner Tätigkeit anderen überlassen und meine Vorträge nach Thema, Inhalt und Ton so einrichten, daß sie Seiner Majestät keinen Anstoß geben können. Ich werde, wenn ich öffentlich zu reden habe, nur religiöse, patriotische und soziale Gegenstände besprechen, und die letzteren nur so weit behandeln, als sie unter den Gesichtspunkt des Christentums, der Kirche und der Inneren Mission fallen. Sollte ich später von Gewissens wegen mich veranlaßt sehen, im Interesse des Vaterlandes oder der Kirche den Kampf wieder aufzunehmen, so werde ich Sr. Majestät davon pflichtmäßige Mitteilung machen und Allerhöchstderselben alles weitere untertänigst anheimstellen.«118)

Stoecker ließ sich in seiner Entscheidung von mehreren Gründen leiten. Das Kartell, glaubte er, habe bald abgewirtschaftet, ein offener Konflikt mit dem Kaiser aber könne auf seine Freunde und Förderer rückschlagen und ihre Kräfte brachlegen.

»Ein erfolgreicher agitatorischer Kampf gegen den Umsturz ist in Deutschland nicht möglich ohne die freudige Mithilfe der christlich-sozialen und starkkonservativen Kreise, die jetzt zurückgestoßen sind.«119)

Von nun an wurden Stoeckers Schritte scharf überwacht. Seine kirchlichen Vorgesetzten verweigerten ihm die Erlaubnis, im Ausland Vorträge zu halten. Bei verschiedenen Gelegenheiten wurde er verwarnt wegen Äußerungen, die nach kirchlicher Ansicht dem Geiste des Abkommens zuwiderliefen. Aber trotz der Spannungen mit Kirche und Regierung waren seine politischen Aussichten durchaus nicht hoffnungslos. Die Zeit schien für ihn zu arbeiten. Seine Warnung, die »Umstürzler« könnten nicht durch die einzige Waffe, die den Mittelparteien zur Verfügung stand, die nationale Idee, besiegt werden, begann sich zu bewahrheiten. Im Februar 1890 wurde das Kartell in den Reichstagswahlen vernichtend geschlagen. Nur ein gutes Drittel der Reichstagssitze verblieb den drei Kartellparteien; die Nationalliberalen gingen von 99 auf 42 Mandate zurück, die Deutschkonservativen von 80 auf 73, die Frei-Konservativen von 41 auf 21. Die Freisinnigen aber gewannen mehr als das Doppelte, 67 statt 32 Mandate, und die Sozialdemokraten verdreifachten ihre Sitze, von 11 auf 35. Das Zentrum war mit 106 statt 98 Mandaten zur stärksten Fraktion geworden. Die Angstpropaganda hatte ihre Zugkraft verloren. In den Großstädten hatten die Industriearbeiter ihren Protest gegen die steigenden Lebenshaltungskosten, eine Folge der Schutzzollpolitik, zum Ausdruck gebracht. In Berlin übertraf die Zahl der sozialdemokratischen Wahlstimmen die jeder anderen Partei. Ein weiteres Ansteigen der Sozialdemokratie schien unvermeidlich, denn am 1. Oktober 1890 lief das Sozialistengesetz ab, dessen Verlängerung die neue Reichstagsmehrheit – Zentrum, Freisinnige, Sozialdemokraten, 208 von 397 Abgeordneten – abgelehnt hatte120).

Das Ende des Ausnahmegesetzes ist interessant. Bismarck hatte beim neuen Reichstag den Entwurf für ein nicht mehr befristetes Gesetz eingebracht, das die Sozialdemokratie noch stärker unterdrückte. Die Nationalliberalen waren gewillt, für ein unbefristetes, aber milderes Gesetz zu stimmen, den Konservativen war es nicht streng genug. Bismarck hätte zweifellos eine Einigung zwischen den beiden Gruppen erreichen können, unterließ jedoch den Versuch dazu. Delbrück121), Luckwaldt122), Herkner123) und andere Historiker sind der Meinung, Bismarck habe die Ablehnung seines Gesetzentwurfes erwartet und gewünscht, weil er den jungen Kaiser davon überzeugen wollte, daß die Unterdrückung der Sozialisten durch Gesetz nicht mehr möglich sei, es bliebe nur die Außerkraftsetzung der Verfassung – die Wiedergutmachung des »größten Fehlers seines Lebens«, der Gewährung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts – und die Unterdrückung der Sozialdemokratie durch Waffengewalt. Aber der Kaiser lehnte den Plan ab, wie auch einen letzten Versuch Bismarcks, die Koalition von Konservativen und Zentrum wieder ins Leben zu rufen. Im Gegensatz zum Kanzler war Wilhelm II. davon überzeugt, die Massen der Industriearbeiter durch erweiterte soziale Gesetzgebung zurückgewinnen zu können.

Die Arbeiterschutzgesetzgebung hatte schon seit längerem zu prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten zwischen Wilhelm und Bismarck geführt. Bismarck war in seinen Erwartungen, durch soziale Gesetzgebung sich die Sympathien der Arbeiter gewinnen zu können, schwer enttäuscht worden. Statt sich dankbar zu zeigen, hatten die Arbeiter sozialdemokratisch gewählt. Was der Kanzler und seine Freunde als einen Akt der Großmut ansahen, bezeichnete die Sozialdemokratie als widerwillig gegebene und unzulängliche Teilerfüllung ihrer berechtigten Ansprüche. Daß gar manche der prominenten Sozialistenführer, wie Paul Singer, Juden waren, ließ sie doppelt undankbar erscheinen. Und als nun gerade zu der Zeit, da Bismarck den innerpolitischen Knoten nur noch durchhauen zu können glaubte, der erst siebenundzwanzig Jahre alte Kaiser auf den Rat seines ehemaligen Erziehers Hinzpeter, aber, wenigstens indirekt, wohl auch unter Stoeckers Einfluß, Bismarck erklärte, er wolle den Arbeitern helfen, nicht aber auf sie schießen lassen, kam es zum Bruch. Im März 1890 erzwang der Kaiser Bismarcks Rücktritt, formell wegen einer Meinungsverschiedenheit über Bismarcks Befugnisse als Preußischer Ministerpräsident, in Wirklichkeit, weil eine Verständigung über die Lösung der »sozialen Frage« zwischen ihnen unmöglich geworden war.

Vorsichtig zunächst, und dann immer kühner, brach Stoecker nun aus der ihm auferlegten politischen Zurückgezogenheit aus. Schon 1889 hatte er eine Zeitung gegründet, Das Volk, die das offizielle Organ der Christlichsozialen Partei werden sollte. Aus ihren Artikeln sprach die Hoffnung auf ein gewaltiges Wiederaufleben der Stoeckerpartei nach Bismarcks Abtreten. Der Redakteur der Zeitung führte am 1. Mai 1889 in einer Berliner Rede aus:

»Die Seele des öffentlichen Lebens ist bei uns der Reichskanzler. Er ist jetzt 74 Jahre alt. Ein hohes Alter! Nach den Tagen der Erschlaffung kommen wieder Tage der Fieberhitze im Volksleben. Solche Tage stehen uns bevor, von dem Augenblick an, wo der Reichskanzler nicht mehr das öffentliche Leben beherrschen wird. Der gemäßigte Liberalismus wird dann die Früchte der jetzigen Politik heischen. Gewährt man sie ihm, so wird man zu den Zuständen der siebziger Jahre zurückkehren. Gewährt man sie ihm nicht, dann wird der demokratische Liberalismus sein Haupt erheben. Wir aber müssen auch auf dem Platz sein. Wir müssen dem Nachfolger des Reichskanzlers vorarbeiten und für die Bewegung sorgen, die wert ist, Gegenstand der Volkssehnsucht zu sein … Wenn Hofprediger Stoecker erkennt: jetzt ist wieder der Zeitpunkt zum Eingreifen gekommen, so wird er auch eingreifen und nicht nach Rücksichten, nach seinem Amt fragen, sondern nur nach der Bewegung.«124)

Nun war Bismarck gegangen und der Kaiser zur Politik der Versöhnung mit den Industriemassen zurückgekehrt. Mit Jubel begrüßten Stoecker und seine Anhänger die Morgenröte einer neuen Ära. Bald nach den Wahlen von 1890 trat die Christlichsoziale Partei aktiv hervor. Die neue kaiserliche Botschaft mit der Ankündigung der Erweiterung des Sozialreform-programmes machte die Diskussion der »sozialen Frage« wieder respektabel. »Die schwere Hand, welche auf der Entwicklung der sozialen Reform lag, drückt nicht mehr«, schrieb die Kreuzzeitung vom 19. März 1890. Stoecker konnte triumphieren: »Die Welt ist über Nacht christlichsozial geworden.«125) Drei Tage nach Bismarcks Sturz nahm er im preußischen Landtag wieder an einer Debatte über Antisemitismus teil; auch während der Zeit der kaiserlichen Ungnade war man nie so weit gegangen, ihn zur Niederlegung seiner Landtags- und Reichstagsmandate zu veranlassen. Am 2. Oktober 1890, einen Tag nach Ablauf des Sozialistengesetzes, schrieb Das Volk, Bismarck, Stoeckers Feind und der Schöpfer des Gesetzes (das, nebenbei bemerkt, Stoecker immer gutgeheißen hatte), sei nun zum Schweigen gebracht, aber Stoecker halte »wie in den Tagen der lebhaftesten Agitation gewaltige Versammlungen ab«126).

Dann trat etwas ganz Unerwartetes ein. Bevor noch ein Monat verstrichen war, wurde Stoecker gezwungen, seinen Amtsrücktritt zu beantragen, dem der Kaiser sofort stattgab. Als Prinz hatte Wilhelm II. den Hofprediger vor Bismarcks Zorn bewahrt und öfters gezeigt, wie sehr er den Erzfeind des Liberalismus persönlich schätzte. Als Kaiser erzwang er Stoeckers Rücktritt ohne das kleinste Zeichen des Bedauerns. In den Memoiren Wilhelms findet sich ein Hinweis auf seine Beweggründe, obwohl Stoecker dort nur einmal flüchtig erwähnt wird. In der Erörterung seines Verhaltens zu den verschiedenen politischen Parteien unterstreicht Wilhelm seine guten Beziehungen zu den Nationalliberalen und seine Versuche, sie näher an die Konservativen heranzubringen.

»Ich habe oft darauf hingewiesen, daß die Nationalliberalen reichstreu und daher kaiserlich gesinnt, also durchaus als Bundesgenossen für die Konservativen zu begrüßen seien. Ich könne und wolle im Reiche nicht ohne sie, keinesfalls gegen sie regieren … Aus diesem Grunde habe ich z. B. auch den Hofprediger Stoecker – einen auf sozialem Gebiete in seiner Missionstätigkeit glänzend bewährten Mann – aus seinem Amte entfernt, weil er in Süddeutschland eine demagogische Hetzrede gegen die dortigen Liberalen gehalten hatte.«127)

Dieser Hinweis bezieht sich auf einen Parteitag der Badischen Konservativen, wo Stoecker die Notwendigkeit betont hatte, gegen Sozialismus und Liberalismus zu kämpfen; dabei hatte er es auch an einem Angriff auf die Juden nicht fehlen lassen:

»Über die Judenfrage will ich nicht viel sagen, um Israels Eitelkeit nicht noch mehr zu reizen. Aber so gut es erlaubt ist, über alles andere zu reden, Gott und Monarchie, Thron und Altar, Besitz und Eigentum herunterzureißen, warum soll man nicht auch auf die Gefahr hinweisen dürfen, die im Judentum liegt. Das finde ich keineswegs liberal, und ich für meinen Teil werde von dieser Wunde reden, bis sie geheilt ist, denn ein Haus, ein Volk, ein Herr, ist unsere Losung!«128)

Warum gab dieser kleine Seitenhieb dem Kaiser Anlaß zu so strengen Gegenmaßnahmen, während er doch vor wenigen Jahren noch Stoeckers weit aufreizendere Angriffe auf Juden und Liberale gedeckt hatte? Persönlicher Ehrgeiz und politische Erwägungen hatten den Kaiser veranlaßt, das Kartell zu stützen und ihm womöglich eine breitere Grundlage zu schaffen. Er mußte Bismarcks Entlassung rechtfertigen. Nichts hätte die Weisheit seines Entschlusses, den Eisernen Kanzler loszuwerden, besser bewiesen, als der Erfolg einer Koalition, die sich von dem regierungsfreundlichen Flügel der Konservativen bis zum Zentrum erstreckte, mit den Nationalliberalen in der Mitte. Der neue Kaiser sah sich als der autokratische, aber wohlwollende Herrscher einer geeinten Nation, die er zu größerem Ruhm führen wollte. Eine Verbindung mit dem sehr umstrittenen Stoecker konnte er sich nicht länger leisten, wenn er die Unterstützung von Parteien wollte, die als unversöhnliche Feinde des Hofpredigers galten.

Nach seiner Entlassung aus dem Hofdienst widmete sich Stoecker mit ganzer Kraft der antiliberalistischen Agitation. Er dehnte sie jetzt sogar auf Kreise aus, die sich zu rein politischer Tätigkeit in der Christlichsozialen Partei nicht entschließen konnten. Für solche Leute gründete er eine neue Organisation, den Evangelisch-Sozialen Kongreß, der sich die Förderung der sozialen Reformen zum Ziel setzte. Der Kongreß, unter dessen Mitgliedern so hervorragende Gelehrte waren wie der Theologe und Kirchenhistoriker Adolf Harnack, der Volkswirtschaftler Adolph Wagner, der Historiker Hans Delbrück und der Soziologe Max Weber, nahm die Arbeit des Vereins für Sozialpolitik wieder auf, jener akademischen Organisation, die es fast zwanzig Jahre vorher unternommen hatte, Regierung und Staat die sozialen Gefahren des Manchesterliberalismus vor Augen zu führen.

KAPITEL V
Die Ara Caprivi (1890-1894)

Für die öffentliche Meinung Deutschlands bedeutete Bismarcks Rücktritt und die Ernennung des Generals Graf Leo von Caprivi zum Reichskanzler und Preußischen Ministerpräsidenten einen Wendepunkt in der Geschichte des Reiches. Die Zukunft der Nation erschien umwölkt und unsicher. Die wirtschaftliche Lage stimmte nicht sehr optimistisch. Der industrielle Unternehmungsgeist hatte nachgelassen, und in der Landwirtschaft sah es nach Krise aus. Der amerikanische Kontinent mit seiner riesigen landwirtschaftlichen Produktion war ein Konkurrent geworden, mit dem man auf die Dauer rechnen mußte. Die ganze Struktur des ländlichen Deutschland, die extensive Wirtschaft der halbfeudalen Großbetriebe wie der intensivere Bauernbetrieb schienen auf dem Spiel zu stehen.

Die politischen Aussichten im Innern waren kaum weniger bedrohlich. Das Problem, wie man sich gegenüber der revolutionären Arbeiterbewegung verhalten und was man von ihr erwarten solle, brannte Regierungsbeamten, Bürgern und Junkern auf der Seele. Als 1878 das Sozialistengesetz verkündet worden war, hatte es die Partei auf 437 158 Stimmen gebracht. Jetzt war sie mit 1 427 323 Stimmen nach elfjähriger Unterdrückung wieder auferstanden, unversöhnlicher denn je und entschlossen, für »die Summe von Niedertracht und Gemeinheit …, die Not und Verzweiflung«129), die das Gesetz über sie gebracht hatte, abzurechnen. Staat, Kirche und Kapital, Konservative und Liberale, hatten zusammengearbeitet, die sozialistische Arbeiterschaft ihrer demokratischen Grundrechte zu berauben. Sie konnten schwerlich die Drohung vergessen haben, die ihnen die Sozialisten zugerufen hatten: »Wehe denen, über deren Häupter sich einst der Haß und all die Wut entladen wird, die durch dieses infame Gesetz erzeugt und angesammelt wird.«130) Die Angst vor einem Bürgerkrieg steigerte sich angesichts des Gespenstes eines äußeren Krieges. Es war keine Übertreibung, als ein sozialistischer Schriftsteller damals bemerkte, daß mit Bismarck das Gefühl der Sicherheit geschwunden war, mit dem die deutsche Bourgeoisie auf die politische Lage des Reiches geschaut hatte.

Die ersten Jahre der Herrschaft Wilhelm II. standen im Zeichen der Mäßigung. Die parlamentarische Konstellation war einem solchen Kurs des Kompromisses nicht ungünstig. Die Freisinnigen und die jetzt wieder legale Sozialdemokratie waren zwar noch Gegner des Staates, aber ihre Opposition gegen Caprivi hatte nichts von der Bitterkeit ihrer Gegnerschaft gegen Bismarck. Zentrum und Nationalliberale unterstützten die Regierung, und sogar die meisten Konservativen standen, wenigstens anfänglich, auf ihrer Seite.

Der neue Kanzler versuchte, Deutschlands auswärtige Beziehungen – vor allem die mit England – zu verbessern und die Spannung in Europa zu mildern. In seiner inneren Politik ging er ebenfalls behutsam vor. Der Arbeiterschaft bot er durch Ausweitung der Sozialgesetzgebung eine Versöhnungspolitik an, wie der Kaiser es wünschte. 1891 bewilligte der Reichstag Maßnahmen zur Regelung der Sonntagsruhe, des Arbeitstags für weibliche Arbeitskräfte und Jugendliche, ein Verbot der Kinderarbeit in Fabriken und ähnliche Bestimmungen. Gestützt auf eine Koalition von Zentrum und Liberalen konnte Caprivi auch die Reform der ländlichen Selbstverwaltung für Preußen fortführen, die Bismarck schon viele Schwierigkeiten bereitet hatte. Durch die Landgemeindeordnung von 1891 wurden die Vorrechte der Junker weiter beschnitten.

Am klarsten zeigte sich die Richtung des »neuen Kurses« in Caprivis Wirtschaftspolitik. Zur Förderung von Industrie und Handel und um Deutschlands führende Stellung in Zentraleuropa zu stärken, schloß er zwischen 1891 und 1894 mehrere Handelsverträge mit europäischen Staaten ab, die auf einer »gemäßigten« Zollpolitik beruhten und als der Verzicht auf die »Hochschutzzollpolitik« betrachtet wurden. Mehr als irgendeine andere Maßnahme der Caprivi-Regierung beeinflußten diese Handelsverträge die Haltung der Fraktionen im Reichstag: zum ersten Male stimmten die Sozialdemokraten für eine Regierungsvorlage. Mit ihren Stimmen wurden die Verträge gegen eine starke konservative Opposition angenommen.

Die Konservativen, die dem neuen Kanzler gegenüber eine abwartende Haltung eingenommen hatten, gingen nun zum Gegenangriff über. Schon die neue Landgemeindeordnung in Ostpreußen hatte die Junker gegen die Regierung aufgebracht. Nicht weniger war die Geistlichkeit verärgert worden durch die Ablehnung eines Schulgesetzes, das der konservative preußische Kultus- und Unterrichtsminister eingebracht hatte. Der Entwurf wollte den Kirchen die Aufsicht über den Religionsunterricht in den preußischen Volksschulen übertragen. Die Öffentlichkeit protestierte so scharf gegen diesen Versuch der Konservativen und der Katholiken, die Kontrolle des Schulwesens in die Hand zu bekommen, daß der Minister, Graf Robert von Zedlitz und Trützschler, im März 1892 zurücktreten mußte. Caprivi hatte die Vorlage des Gesetzentwurfs nicht verhindert und sah sich nach der Niederlage gezwungen, das Amt des preußischen Ministerpräsidenten abzugeben. Die öffentliche Auseinandersetzung über christliche und liberale Schulpolitik bot natürlich die beste Gelegenheit für antiliberale und antisemitische Angriffe von konservativ-klerikaler Seite. Die Regierung wurde scharf angepackt, weil sie die Segel gestrichen habe »vor dem Sturm im Tintenfaß der liberalen Redaktionen«, wie Stoecker sich ausdrückte. Was werde sie erst tun, rief er aus, »wenn einmal ein ernstes Revolutionsgeschrei das Land durchtobt?«131) Die Außenhandelspolitik der Regierung brachte den siedenden Topf der Konservativen zum Kochen.

Caprivi hatte die von Bismarck 1879 begonnene Schutzzollpolitik zwar gemäßigt, aber sicherlich nicht aufgegeben. Der Einfuhrzoll auf Getreide zum Beispiel wurde von fünf Mark per 100 Kilo auf drei Mark, die Rate vor 1879, erniedrigt. Aber gerade während der Zeit, da die Handelsverträge unterzeichnet wurden, 1891 bis 1894, drückte die Agrarkrise auf die Getreidepreise. 1891 kostete die Tonne Roggen im Hafen von Danzig noch 208 Mark, 1894 nur noch 110. Die Folgen der durch Caprivis liberalisierte Außenhandelspolitik verschärften Agrarkrise zeigten sich deutlich in einem Strukturwandel der Konservativen Partei.

Während Bismarcks Regierung kam die Opposition der Konservativen hauptsächlich von seiten des orthodoxen rechten Flügels, mit der Kreuzzeitung als seinem Sprachrohr. Bismarck war stark genug gewesen, mit der Rebellion in der Partei fertigzuwerden, nicht nur wegen seines großen staatsmännischen Talents, sondern weil sein Name, seine ganze Laufbahn, sein persönliches wie politisches Leben den preußischen Konservativen eine Garantie dafür boten, daß er das parlamentarische System verhindern werde, trotz aller Konzessionen, die er den liberalen und demokratischen Kräften zu machen für notwendig hielt. Solange Bismarck das Ruder in der Hand hielt, das wußten die Konservativen, bestand keine Gefahr, daß das Parlament die Oberhand bekäme, »der Pöbel« zur Macht gelange. Bei Caprivi, einem Berufsoffizier ohne politische Erfahrung, waren sie dessen nicht mehr sicher. Er hatte ihrer Meinung nach allzu schnell dem Druck des Liberalismus nachgegeben und, was schlimmer war, seine Handelsverträge mit den Stimmen der Sozialdemokraten durchgesetzt. Die Tatsache, daß der neue Kanzler bereit war, die Sozialdemokratie für einen Sieg über die Konservativen zu benutzen, verhieß nichts Gutes für die Zukunft. Offenbar zielte der »neue Kurs« der Regierung letzten Endes auf die Ausschaltung von Aristokratie und Kirche; es stand zu erwarten, daß die revolutionären, atheistischen Sozialdemokraten und die liberalen Geldsäcke die Verbündeten und schließlich die Herren der Regierung würden.

Vor Caprivi war die Konservative Partei eine lose Organisation gewesen, die mehr durch ungeschriebene Standeskonventionen zusammengehalten wurde als durch einen aktiven Parteiapparat unter zentralisierter Führung. Sie hatte keine Ortsgruppen mit bezahlten Funktionären; Komitees von Standespersonen, meistens Adeligen, besorgten alles. Wo es wenige adelige Gutsbesitzer gab wie im Westen und Süden Deutschlands, hatte die Partei oft gar keine organisierte Vertretung. Nach Bismarcks Abtreten konnten die Konservativen nicht mehr die Regierungspartei schlechthin bleiben. Die Caprivi-Regierung hatte sich als ein Gegner erwiesen, den man bekämpfen und vernichten mußte, bevor seine Politik zum Untergang der konservativen Gesellschaft und aller ihrer Werte führte. Da jedoch Kaiser und Kanzler mit den Kräften des Liberalismus und der Revolution zusammenarbeiteten, konnten sogar Ultrakonservative nicht an »direkte Aktion« denken, das heißt, an Verfassungsbruch und Bajonettregierung. Die Schlacht mußte im Parlament ausgefochten werden. Mehr als je brauchte jetzt die Konservative Partei den »kleinen Mann«. Eine Massenbewegung von rechts, unter konservativer Führung, das war das Gebot der Stunde. Ein Agitator wie Stoecker mit seiner dynamischen Anziehungskraft mußte jetzt wieder zu einem unschätzbaren Aktivposten werden. Volle konservative Unterstützung war auch für Stoecker die beste Gewähr, die Einbuße an Ansehen wettzumachen, unter der er leiden mußte, seit Wilhelm II. ihn kurzerhand hinausgeworfen hatte. Heinrich von Treitschke, bis 1890 ein Gegner der Stoeckerschen Agitation, beurteilte die Lage ganz richtig, als er in einer Wahlrede für einen antisemitischen Kandidaten am 14. Februar 1890 sagte: »Man mag ihn immerhin einen Demagogen nennen. Bei dem heutigen Stimmrecht muß man mit den Mitteln gemeinverständlicher Beredsamkeit wirken.«132)

Die rechtsradikale Gruppe unter den Konservativen gewann durch die Opposition der Partei gegen die Caprivi-Verwaltung großen Einfluß. Ihr Führer war Wilhelm von Hammerstein, Mitglied des Preußischen Landtags seit 1876 und des Reichstags seit 1881, der als Leiter der Kreuzzeitung seit 1881 soviel journalistisches Talent und politische Geschicklichkeit entwickelt hatte, daß er aus einem Standesblatt für den Provinzadel ein machtvolles politisches Organ schaffen konnte. Hammerstein, ein erklärter Antisemit, war seit langem Stoeckers Freund und Förderer gewesen. Diese beiden Männer wurden nun in die Führung der Konservativen Partei emporgetragen und errangen ihren ersten Erfolg in dem Parteibeschluß, einen Reichsparteitag einzuberufen, der ein neues Programm ausarbeiten sollte.

Der letzte Parteitag war 1876 abgehalten worden. Preußische Konservative hatten stets eine aristokratische Abneigung dagegen, ihre Angelegenheiten in der Öffentlichkeit eines Parteitags zu verhandeln. Sie zogen vor, Politik »en petit comité«133) zu machen. Auch jetzt versuchten die altmodischen Junker einen Parteitag zu vermeiden. Noch im Mai 1892 hatte die konservative Landstagsfraktion beschlossen, die Revision des Parteiprogramms zu verschieben, mit der Begründung, es werde sehr schwierig sein, eine richtige Formulierung der Stellung der Partei zur Judenfrage zu finden. Im August 1892 gelang es dann der Hammerstein-Stoecker-Gruppe, mit der Hilfe von antisemitischen Anhängern in Stoeckers Wahlkreis, die westfälischen Konservativen dahin zu bringen, der Berliner Parteileitung ein Ultimatum zu stellen: entweder berufe die Parteileitung einen Parteitag ein oder die Provinzorganisationen würden einen Aufruf auch ohne Berliner Zustimmung erlassen. Die Führung gab nach. Im Dezember 1892 trat die Versammlung in den Tivolisälen in Berlin zusammen. Über eintausend Delegierte waren anwesend, darunter auffallend viele Angehörige des Mittelstandes. »Es war kein Parteitag im schwarzen Frack und weißen Glacéhandschuhen, sondern im Rock. Es war die Konservative Partei unter der Geltung des allgemeinen gleichen Wahlrechts …«, stellte Stoecker mit Genugtuung fest134).

Der frühere Beschluß der gemäßigten Konservativen, die Revision des Parteiprogrammes der Judenfrage wegen zu verschieben, hatte es klar gemacht, daß politischer Antisemitismus ein zentraler Punkt der Tagesordnung sein werde. Für Hammerstein und Stoecker war es von größter Dringlichkeit, die Partei auf ein offen antisemitisches Programm festzulegen. Die Führung des politischen Antisemitismus begann Stoeckers Händen zu entgleiten und drohte, antikonservativ zu werden. Bei den Kartellwahlen von 1887 hatte die Wählerschaft in Boeckel den ersten Antisemiten in den Reichstag entsandt, der es nicht nur ablehnte, sich der konservativen Fraktion anzuschließen, sondern auch scharf gegen die ausbeuterischen Rittergutsbesitzer auftrat; seinen traditionell konservativen Wahlkreis hatte er mit antikonservativer und antijüdischer Agitation erobert. Außerdem war 1889 in Bochum ein Antisemiten-Kongreß zusammengetreten, ohne daß Stoecker auf ihn Einfluß gewinnen konnte. Der Abfall der »radikalen« Antisemiten von der Konservativen Partei war also schon in vollem Gange. Die Reichstagswahlen von 1890 hatten den radikalen Elementen weiteren Gewinn gebracht, und in einer Nachwahl mitten in der Junkergegend, die gerade zwei Wochen vor der Tivoliversammlung stattfand, war es einem antikonservativen Antisemiten gelungen, seinen konservativen Gegenkandidaten zu schlagen. Bauern und Mittelständler, die einzigen Gruppen, aus denen eine Massenbewegung von rechts entstehen konnte, begannen unter dem Einfluß der radikalen Antisemiten sich vom Konservatismus zu entfernen. Auf der Tivoliversammlung kamen die Konservativen zu der Überzeugung, daß sie es sich nicht leisten konnten, dieser neuen antisemitischen Welle fernzubleiben. Als im November 1892, entgegen allen Erwartungen, zweimal soviel Stimmen für den antikonservativen Antisemiten Ahlwardt abgegeben wurden wie für den konservativen Kandidaten, lenkte die Keuzzeitung vom 29. November 1892 mit großem Nachdruck die Aufmerksamkeit der Partei auf dieses Ereignis: »Der Antisemitismus, der einst in der Berliner Bewegung die Brücke gebildet« habe, auf welcher »der Übergang von der liberalen zur konservativen Partei sich vollzog«135), könne für die Interessen der Konservativen wieder benutzt werden, falls die Partei die Führung im Kampf gegen das Judentum übernehme.

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