Kitabı oku: «Go, Josephine, go», sayfa 2

Yazı tipi:

Gran

Gran war oft im Spital, doch wusste ich nicht, wie krank sie war. Sie sprach nie über ihre Krankheit; nur wenige merkten, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie ging kaum mehr irgendwohin, sogar der Kirchgang, den sie nie versäumen wollte, war zur Qual geworden.

Sie, die Heilerin, hatte vielen Kindern das Leben gerettet, aber sich selber konnte sie nicht helfen. Ich wusste nicht, wie sie heilte, ich sah nur, dass neugeborene und etwas ältere Babys zu ihr gebracht wurden. Sie benutzte keine Medizin, keine Tabletten, nur ein besonderes Fett, das beim Erhitzen zu Öl wurde und nach Muskat roch. Sie verrieb es auf dem Bauch der Babys und schloss dabei die Augen. Wir konnten sie nicht fragen, warum sie das tat, wir durften die Küche auch nicht betreten, wenn die Prozedur stattfand. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie immer im selben Stuhl sass und das Ritual wiederholte.

Eines Tages besuchten wir Gran im Krankenhaus. Das kam selten vor, weil es keine Fahrgelegenheit gab. Ben und ich waren aufgeregt, nicht nur weil wir Gran besuchten, sondern weil wir in einem Auto fahren und das Dorf für einen Tag verlassen durften. Für mich wurden dann drei Tage daraus, denn als wir ankamen und ich Gran sah, kreideweiss, wo sie doch eine rothäutige Frau ist, da fühlte ich mich auf einmal komisch und bekam Angst. Ich habe Krankenhäuser nie gemocht; der Geruch bringt mir den Magen durcheinander. Mir wurde übel und schwindlig, und als ich wieder zu mir kam, fand ich mich in einem Spitalbett wieder. Ich hatte das eigenartige Gefühl, dass Gran sanfte Magie auf mich ausübte. Und heute denke ich auch, dass sie etwas von ihren magischen Kräften an mich weitergegeben hat.

In den Tagen, da ich mit ihr zusammen war, habe ich sie zum ersten Mal – und vielleicht zum letzten Mal – richtig wahrgenommen. Ich war etwa zehn damals. Ich war schüchtern und rannte vor allen und allem davon. Ich lebte in meiner alten Welt, wollte zurück nach London. Granma fand, ich sei herzlos und würde sie nicht so lieben wie mein Bruder. Aber sie wusste, dass ich ehrlich und sanft war. Sie war eine starke Frau, religiös, mit magischen Kräften, und ich war das komplette Gegenteil. Ich war wild, wild auf Jungs auch. Sie sagte einmal zu mir, ich würde eine jamet werden, ein Mädchen, das mit allen Jungs im Dorf was haben würde, sehr irdisch, mit nichts als Sex im Kopf. Sie brachte es nicht direkt in diesen Zusammenhang, aber ich glaubte zu verstehen, was sie meinte. Im Grunde genommen konnte sie Mädchen nicht ausstehen, sie fand, sie seien schmutzig und eitel und brächten nur Babys nach Hause. Sie verhehlte nicht, dass sie Jungs vorzog; ich war nie so gut wie Ben.

Granma lag auf ihrem Krankenbett. Sie sah müde und ausgelaugt aus. Ihre Hände und Füsse waren von der harten Arbeit gezeichnet, wie von einem Gitter. Sie beschwerte sich nie, borgte nie etwas, erwartete nie Mitleid. Diese Art von Stolz, vermute ich, erwartete sie auch von mir. Sie lag da und schaute mich an. Ihre langen schwarzen, zu Zöpfen geflochtenen Haare waren grau geworden. Sie trug ein Spitalhemd über ihrer sehr hellen, faltigen Samthaut – ein richtiges Nachthemd hatte sie sich nicht leisten können. Sie hatte ja immer nur für uns gelebt, und ich hatte es nicht verstanden. Ich sah sie jetzt als schwache, zerbrechliche Frau, die mich auf ihre Art liebhatte. Sie war sehr besorgt, was mit uns geschehen würde.

Einer meiner älteren Brüder, der Sohn einer der vielen Frauen meines Vaters, kam sie besuchen. Er war einer ihrer Lieblingsenkel, und ich liebte ihn auch. Bevor ich mit ihm wegging, sagte sie zwei Dinge zu mir: «Paula, du bist die ältere. Wenn ich nicht mehr da bin, dann geh mit Ben zur Familie deiner Mutter und nicht zu meiner Schwester. Und passt aufeinander auf! Ihr habt nur euch.» Tränen liefen mir übers Gesicht, auch mein älterer Bruder musste sich zusammenreissen, um nicht zu weinen.

Gran blieb eine weitere Woche im Spital. Jetzt, wo ich sie um mich haben wollte, schien es Jahre zu dauern, bis sie sich wieder gut genug fühlte, um nach Hause zu kommen. Der ältere Bruder brachte uns zur Schule, und Ilin kochte für uns. Das ganze Dorf half uns, aber ich hasste es, alleine mit meinem Bruder in Grans Haus zu schlafen.

In der Schule unterrichtete einer meiner Halbbrüder. Er war nicht sehr oft da, weil er viel in die andern Teile der Insel reiste, aber wenn er da war, war es keineswegs lustig für mich. Alles, was ich tat, war falsch, und er hatte das Recht, mich nach Lust und Laune zu prügeln. Es kommt mir vor, als sei ich die ganze Schulzeit hindurch nur verprügelt worden. Ben war gut in der Schule, und das wurde von ihm auch erwartet – weil er ein Junge war. Von mir, einer «Englischen» aus einer gebildeteren Familie, wurde natürlich auch erwartet, dass ich mehr Hirn hatte als andere; das setzte mich ziemlich unter Druck. Ich fühlte mich immer als schwarzes Schaf, weil ich oft die altmodischen Wertvorstellungen nicht respektierte und nicht verstand.

Als Gran wieder zu Hause war, freute sich das ganze Dorf; sie war ja eine Mutter für alle, wusste immer Rat, wenn es in den Familien Probleme gab. Sie war jetzt ans Bett gefesselt und konnte kaum etwas tun. Andere mussten für sie kochen, und sie war sehr von mir abhängig. Ich fühlte mich freier, weil sie mich nicht mehr erwischen konnte, wenn ich spät von der Schule kam oder an Schulparties ging, um Freunde zu treffen. Sie lag im Bett oder im Schaukelstuhl und glaubte immer noch, sie könne mich verprügeln. «Bevor ich sterbe, werde ich dich noch kriegen!» sagte sie einmal und machte dabei ein richtig hexisches Gesicht. Junge, hatte ich Angst! Sie hatte das Gefühl, dass ich ihr immer etwas verheimlichte, dass ich viele Fehler hatte und zu verschlossen war für ein Kind.

Granma litt noch einige Monate, aber sie klagte nie. Viele Nächte konnte ich nicht schlafen, hörte sie stöhnen und wimmern. Manchmal raffte sie sich zu einem Spaziergang im Garten auf oder zu einem Bad.

Wir badeten in einer silbernen Wanne, die draussen stand. Wir mussten drei-, viermal zum Fluss gehen, um sie zu füllen. Dann schnitten wir etwas Hibiskus, aus dessen Blättern wir seifigen Schaum machten. Man musste die Blätter etwa eine halbe Stunde reiben, und man bekam wunde Hände davon. In Europa kannst du das Zeugs teuer kaufen, aber für uns war es etwas Alltägliches; das Bad war sehr erholsam, und nachher duftete man frisch.

Nacktheit war nichts Unanständiges, auch nicht etwas zum Anstarren. Es war ganz natürlich für mich, mit meiner Gran zu baden, wenn auch nicht immer angenehm, weil die Wanne zu klein war. Wir bedeckten uns nicht, wenn kleinere und grössere Kinder zusammen waren; wir kamen gar nicht auf die Idee, dass etwas daran falsch sein könnte.

Auch die Wäsche wurde vor dem Haus gemacht, und wenn Gran guter Laune war, gingen wir zum Fluss. Es brauchte Stunden, um nur ein Kleid zu waschen. Alle waren mit nackten Brüsten am Fluss, es wurde getratscht, eine richtige Waschparty. Einige brachten ihren Lunch mit. Alle konnten die Kleider und Panties der andern begutachten; man trug handgemachte Unterhosen, die wie Long Johns aussahen. Die Wäsche wurde auf dem Gras ausgebreitet und von Zeit zu Zeit wieder angefeuchtet. Manche spuckten auf die Wäsche, weil sie glaubten, sie werde dadurch seifiger. Und mit Hilfe der natürlichen Kraft der Sonne wurde die Wäsche weiss, verschwanden die letzten Flecken.

Mutters St. Lucia

Eines Nachts, als ich auf den Kleiderfetzen, die unser Bett waren, schlief, hörte ich plötzlich Stimmen nebenan – Weinen, Reden, Schreien –, und dann sah ich Tanten, Freundinnen und ältere Leute auf uns zukommen. Sie sagten: «Granma ist gestorben.» Ich weiss nicht, warum sie es gewusst hatten und wie sie hergekommen waren, ohne dass ich sie gehört hatte. Ich war wie betäubt, wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte. Das einzige, was ich wahrnahm, war, dass jemand mich in den Armen wiegte.

Dass Granma tot war, schien unmöglich. Es schmerzte mich, dass ich nicht bei ihr gewesen war, um ihre letzten Worte zu hören. Man erzählte mir, sie habe meinen und Bens Namen gerufen. Ich fand es gemein, dass man uns nicht geweckt hatte.

Ein bisschen war ich auch erleichtert, dass es vorbei war, doch ich wusste, was als nächstes kommen würde: Schon begannen sich alle um Grans Wertsachen zu streiten. Sowas wie ein Testament kannte man nicht. Diese Leute, für die Gran immer ein gutes Wort gehabt hatte, kämpften um Dinge, die eigentlich uns gehörten – die Möbel meines Vaters, der goldene Ring und die Gläser, die sie kaum je benutzte, waren ihre einzigen Besitztümer, die sie für wertvoll hielt, sonst waren da nur ein paar Dollars, die sie immer in ein Tuch knüpfte.

Gran besass auch Land, aber bis heute haben Ben und ich nie Anspruch darauf erhoben; es gab zuviel Schwarze Magie, und wir wollten nicht von diesen Leuten in den Wahnsinn getrieben werden. Es waren ja auch sie, die Gran getötet haben. Man hat mir erzählt, dass Gran mit einer grünen Schlange im Magen gestorben sei. Ihr Stuhl hatte eine seltsame grünliche Farbe, und sie musste ständig auf die Toilette.

Für mich war klar, dass Mutter uns nun holen musste. Wir blieben noch einige Wochen in Grans Haus, aber in dem Haus spukte es, es war unheimlich, und während Tagen war da dieser eigenartige Geruch. Was die Leute im Dorf mit Grans Leiche gemacht haben, weiss ich nicht; uns sagten sie nur, man habe sie begraben.

Es ist Brauch in St. Lucia, das Haus einer Toten auszufegen. Als sie sich bei uns an die Arbeit machten, wusste ich, dass ich jetzt schnell überlegen musste, ich musste mich rühren, sogar die Bäume sahen aus wie tot, alles war tot, da war keine Fröhlichkeit mehr, und Granmas Stimme, die mich gerufen hatte, wenn ich mit meinen Freunden zu weit vom Haus weggegangen war, war verstummt. Der ganze Ort machte mich krank, und ich wollte für immer weit weg rennen. Jedesmal, wenn ich ein Flugzeug am Himmel sah, begann ich zu weinen. «Flugzeug, bitte, bring mir meine Mutter», bat ich. Ich fühlte mich alleine und heimatlos. Granma würde nicht wiederkommen; sie war für immer gegangen.

Ich erinnerte mich deutlich an ihre Worte: «Geh zur Familie deiner Mutter.» Ich wusste nicht, wie ich dieses Versprechen halten konnte, denn alle wollten ein Stück von uns. Grans Schwester, eine nette Tante ohne Kinder, nahm uns in Obhut, und ich wusste, dass es ihr grösster Wunsch war, uns bei sich zu haben. Aber wir gingen ihr schnell auf die Nerven; sie hatte keine Ahnung von Kindererziehung, sie konnte nicht mal meine Haare flechten und fühlte sich als Versagerin. Ben lachte sie aus. Er war zu dieser Zeit ein schwieriger Junge, wollte nicht gehorchen und stellte dauernd Unfug an.

Wir blieben nur so lange bei Grans Schwester, bis Auntie Elle, Mums Schwester, sich bereit erklärte, uns aufzunehmen. Ich war glücklich. Wenigstens würde ich dort schon etwas näher bei Mum sein.

Ich war verblüfft, dass Auntie Elle neun Kinder hatte, aber sie waren wohlhabend. Ich war erst zweimal dort gewesen, einmal, als Mums Mutter starb. Granma hatte die Familie nicht gemocht; sie waren Städter, hielten sich für etwas Besseres.

Wir wurden wie Dienstmädchen behandelt. Sie liessen uns schuften wie Esel. Nach einigen Monaten begann ich mich deprimiert zu fühlen. Ich hasste das Kochen, Putzen, Waschen und das Bügeln, was ich nie vorher gemacht hatte. Ich hatte Granma immer bitten müssen, dass ich auch waschen durfte; hier war es meine tägliche Arbeit.

Ein Mädchen, das ich hasste, war Cilla. Sie war gemein und grausam. Wenn ich tat, was sie mir befahl, durfte ich mit ihr in die Stadt gehen – nur um zuzuschauen, wie sie mit ihrem Boyfriend schmuste. Und Auntie Elle durfte ich nichts erzählen. Cilla war drei Jahre älter als ich und besser gebildet. Sie machte immer Bemerkungen über mein Aussehen, nannte mich Glühbirne, weil ich immer alles sah.

Hier konnten uns alle schlagen, es gab keine Kontrolle. Eines Tages war mein Bruder wieder mal in Form und wollte auf niemanden hören. Cillas nächstjüngere Schwester Mandy befahl ihm, den Hof zu wischen. Als er sich weigerte, warf sie ein grosses Messer, eine Machete, nach ihm. Es hätte ihn fast am Fuss getroffen. Da rastete ich aus, brüllte, bis ich keinen Ton mehr herausbrachte, und begann auf sie loszuschlagen. Ich war keine gute Kämpferin, sie gewann. Aber einige meiner Wörter trafen auch.

Obwohl Mandy zwei Jahre älter war als ich, schimpfte Auntie mit mir. Ich war das schwarze Schaf. Ich erwartete nichts anderes. Sie hatten eine grosse Plantage, die eigentlich allen Nachkommen der Grossmutter gehörte, aber ich durfte nicht mal eine Kokosnuss pflücken.

Auntie Elle war eine widerliche Person. Sie war unglaublich dick, und das einzige, wozu sie fähig war, war schlafen, essen und auf dem Balkon hocken und den Leuten zuschauen, die vorbeigingen – dies zwölf Monate im Jahr. Auntie Elle hatte nie wirklich gearbeitet. Sie verliess sich auf ihren Mann, die Kinder, die Arbeiter auf der Plantage und auf Dienstboten, wie Ben und ich es nun waren. Wenn es zwischen ihre Balkonsitzungen passte, raffte sie sich auf, um in der Stadt etwas für besondere Anlässe einzukaufen. Aber nie hat sie uns, den Kindern ihrer Schwester, etwas aus der Stadt mitgebracht.

Ihr Mann war fast nie zu Hause, er verbrachte soviel Zeit wie möglich mit jüngeren und schlankeren Frauen. Zu uns war er freundlich; er brachte uns ins Dorf, damit wir die Tanten und Schulfreunde besuchen konnten. Ich vermisste diese sehr, aber es war schwierig, sie ausserhalb der Schule zu treffen, denn sie lebten in verschiedenen Dörfern.

Ich hatte kein eigenes Bett und musste bei einem der Mädchen schlafen. So schlief ich manchmal bei Mandy, die sich nichts dabei dachte, wenn sie meine Brüste berührte und sie zu küssen versuchte. Es brachte mich ganz durcheinander und machte mich wütend, doch ich konnte mich nicht wehren. Ich lebte ja in ihrem Haus, schlief auf ihrer Matratze. Sicher, ich war auch neugierig, wollte mehr über Sex herausfinden, aber nicht auf diese Art, das war nicht richtig. Sie versuchte mich überall zu berühren, sogar an den Geschlechtsteilen. Es widerte mich an, aber insgeheim dachte ich auch, ich sei vielleicht selber schuld. Und ich dachte mit Angst an die Konsequenzen; wenn meine Mutter das erführe, würde sie mich womöglich nicht mehr holen kommen. Ich machte Mandy klar, dass sie das nicht wieder tun dürfe. Trotzdem hat sie es wieder versucht, und diesmal wehrte ich mich.

Ich hatte aber nichts dagegen, wenn Jungs mich anmachten. Ich wollte ja herausfinden, wie die Leute «es» machten, war neugierig und auch ziemlich reif für mein Alter, mit meinen Brüsten. Auch Mum begann sich damals Sorgen zu machen, wie ich erfuhr; es gab viele Mädchen, die schon mit vierzehn ein Kind hatten. Von der Freundin ihres Bruders, einer Weissen, hatte sie erfahren, dass ich schon fast eine Frau sei.

Ich betete, dass Mum uns holen lassen würde. Auf dem Weg von der Schule nach Hause ging ich stets bei der Post vorbei und fragte nach Briefen aus London. Meistens wurde ich enttäuscht. Selten mal erhielt ich einen Brief, den ich aber nicht öffnen durfte, sondern nach Hause bringen musste. Über das, was drin stand, erzählten sie uns, was sie wollten. «Alles in Ordnung», sagte Cilla. «Sie hat ein wenig Geld geschickt.» Einmal fand ich einen Brief von meiner Mutter mit einem Foto meiner jüngsten Schwester. Ich fand, sie gleiche mir, und fragte mich, ob ich sie wohl je sehen würde. Ich wusste, dass meine Mutter zum zweitenmal geheiratet hatte; er war Jamaikaner, hatte sie mit vier Kindern sitzengelassen und war nach Amerika gegangen. Und ich wusste auch, dass sie eine grössere Operation hinter sich hatte und kaum mehr einen Löffel heben konnte.

Es ging die Geschichte um, sie wolle uns zurück, weil wir nun gross genug seien, um auf die vier Kinder aufzupassen. Aber in diesem Moment konnte mich das kaum kümmern – ich wollte nur weg von diesem schrecklichen Ort.

Eines Tages kam endlich der Brief, der mein Leben änderte. Auntie rief mich zum ersten Mal seit Monaten zu sich. Wir hatten kaum Kontakt, ausser «Guten Morgen, Auntie», «Gute Nacht, Auntie», oder wenn sie etwas von uns wollte. Mit einer etwas traurigen Stimme las sie uns den Brief vor; ich fühlte mich sofort ganz englisch.

Es war mir völlig egal, was sie jetzt noch mit uns machten, solange ich nur fähig war, aufs Schiff zu gehen. Im November 1968 war es soweit. Aunties Mann brachte uns zum Hafen, sie und ihre Kinder kamen nicht mit. Alle taten so, als ginge alles ganz normal weiter. Junge, waren die kalt! Als ich dabei war, St. Lucia für immer zu verlassen, begann ich zu weinen. Ich hatte Angst. Ich wusste nicht, was mich auf der andern Seite der Welt erwartete. Ich heulte ganze Eimer voll, gab alle möglichen Geräusche von mir. Mein Bruder, der nie hatte weggehen wollen, schnauzte mich an: «Warum hältst du nicht dein grosses Maul, Paula!» Er war ein harter Junge in diesem Alter, er hasste es, mich weinen zu sehen, weil ich so schrecklich aussähe, mit verschwollenen Augen und einem Gesicht wie ein aufgequollener Pfannkuchen.

London
Mutters neue Familie

Meine neue Familie bestand aus drei Mädchen und einem Jungen. Zwei der vier, der Junge und ein Mädchen, waren taub.

Beth, die älteste, war hübsch. Sie war Mutters Augapfel, die ideale Tochter, wie sie alle gerne hätten – intelligent, offen, nüchtern. Sie war frech und mutig, gar nicht der schüchterne Typ; sie wusste schon als Kind, was sie wollte. Ich dagegen war sehr scheu, behielt meine Probleme für mich und wusste nie, was ich wollte.

Beth und ich waren uns als Kinder nie sehr nahe, wir sind es auch heute nicht, aber jetzt respektieren wir einander. Ehrlich gesagt: Ich war sehr eifersüchtig auf sie, weil sie von Mutter soviel Aufmerksamkeit bekam. Mutter zog sie ins Vertrauen, schon als sie noch ganz klein war, und machte immer Bemerkungen darüber, wie gut sie spreche, wie klug sie sei und dass sie versuchen müsse, an einem Schönheitswettbewerb teilzunehmen. Sie werde im Leben bestimmt weit kommen und Karriere machen. Von mir sprach sie nie, und wenn doch mal mein Name fiel, dann sehr negativ. Sie hielt Beth für viel klüger als mich, obwohl ich sechs Jahre älter war. Immer sprach sie von ihrer hellhäutigen Tochter. Das ist eine Krankheit vieler westindischer Eltern: Wenn du dunkelhäutig bist, bist du abgeschrieben.

Meine zweite Schwester, Trica, ist taub. Sie ist ein Schatz. Für mich ist sie innerlich und äusserlich schön. Sie hat die strahlendsten Augen, ehrlich und sanft. Man merkte nicht sofort, dass sie taub war; viele Leute begannen mit ihr zu reden, als könne sie hören. Sie liebt Mode und schnelle Autos. Sie arbeitet im Büro und hat einen wunderschönen Sohn und einen guten Mann, der nicht taub ist. Sie ist wirklich meine Freundin, lächelt immer und benutzt ihre Behinderung nie als Ausrede. Sie raucht nicht und trinkt nicht. Sie will immer alles wissen und mag es nicht, wenn sie sich von etwas ausgeschlossen fühlt – was manchmal etwas lästig ist.

Trica ruft mich von Zeit zu Zeit an, um mir Guten Tag zu sagen. Dann trifft es mich jeweils hart, dass sie taub ist, denn ich kann sie hören, aber, so sehr ich mich bemühe, sie mich nicht. Ich kann nur zu mir selber sprechen, und es bricht mir das Herz. Aber irgendwie schafft sie es mit ihrem schönen Lächeln, gegen diese harte Welt anzukämpfen.

Kenny, das dritte Kind, ist auch taub, ich kann es noch immer nicht glauben. Er ist schick und aufgeschlossen für alle Modetrends, trägt gerne teure, elegante Kleider und hätte am liebsten jeden Monat ein neues Auto. Er ist der schwierigste Junge, dem ich je begegnet bin, sehr eigensinnig und verzogen. Er hat, angetrunken, sechs Autos kaputtgefahren. Obwohl er sehr unter seiner Taubheit leidet, beklagt er sich nicht. Früher sagte er jeweils, wir seien nicht seine Familie, aber das gehört wohl zum Mannwerden. Manchmal benutzt er seine Taubheit, um sich Schwierigkeiten zu entziehen, darin ist er sehr geschickt. Trotz allem mag ich ihn; er kann ein sehr lieber Junge sein, wenn er will.

Meine jüngste Schwester ist mein Liebling. Diana ist eines der redlichsten Kids, das ich kenne, vif und tüchtig. Sie ist elf Jahre jünger, aber sie hat sich um mich gekümmert, als ich völlig fertig war. Sie hat nie an mir gezweifelt, hat fest und unbeirrt zu mir gestanden, hat mir Kraft gegeben. Es gibt keine Worte, um zu sagen, wie sehr ich sie liebe – fast alle Kleider und Schuhe, die ich habe, sind von ihr, teure Sachen, aber es reute sie nie. Dafür wollte sie, dass ich mit ihr überallhin mitging, wenn ich aus der Schweiz nach London kam, zum Beispiel mit ihr und ihren Freundinnen in die Teenie-Disco.

Ich ging aus London weg, als sie elf war, ich habe sie nicht aufwachsen sehen. Mit vierzehn hatte sie ihren ersten Teilzeitjob. Damals lud ich sie für eine Woche in die Schweiz ein. Eines Abends brachte ich sie zu Bett, spielte die grosse Schwester, wie ich es früher getan hatte. Bevor ich wegging, fragte sie: «Pau, kannst du mir etwas Geld dalassen?» Ich wollte mich nicht wie eine Mutterhenne aufführen, wie ich es manchmal tat, deshalb sagte ich nichts und gab ihr Geld. Als ich in dieser Nacht von der Arbeit nach Hause kam, war es ein ziemlicher Schock, sie gleichzeitig mit mir aus einem Taxi steigen zu sehen, in meinem besten Kleid; ich dachte ja, sie sei längst am Schnarchen. «Diana, was um Himmelswillen machst du so spät noch draussen?» Sie sagte: «Paula, ich bin erwachsen. Es ist nicht mehr wie früher.» «Aber du bist in der Schweiz!» erwiderte ich. «Ja und? Ich kann nicht verloren gehen, dafür brauchte ich ja das Geld – fürs Taxi.» Ich war erst Mitte Zwanzig, aber ich fühlte mich wie eine alte Frau. Die Zeiten hatten sich wirklich geändert.

Jetzt ist sie so alt wie ich damals. Sie ist noch selbständiger geworden. Sie weiss genau, was sie will, und wer ihr falsch kommt, wird bekämpft, bis sämtliche Knochen gebrochen sind. Sie hat ein Auto, wohnt in einem der besten Quartiere von London und hofft, bald ein eigenes Geschäft aufmachen zu können. Sie ist eine stolze Frau, die nie auf einen Mann wartet. Ja, meine kleine Schwester macht es besser als ich.

Dass ich als letztes auf Mutter zu sprechen komme, mag verwundern. Sie würde das typisch finden: «Für meine Kinder bin ich immer die letzte, die drankommt oder von etwas erfährt.»

Ich hatte so davon geträumt, bei meiner Mutter zu sein, aber dieser Traum war zum Alptraum geworden. Es war alles ganz anders, jetzt, wo wir endlich in England zusammenwaren und die Karibik weit weg. Sie war sehr impulsiv und streng. Sie musste es sein, denn sie war das Rückgrat der Familie, war Mutter und Vater in einem. Jeden Tag erinnerte sie uns daran, wie stark sie sei – «wie ein Pferd». Das schüchterte uns ein. Da war nichts Weiches, nur Härte und Brutalität, und das hat mich geprägt. Ich war die Älteste und musste stets für alle Prügel und allen Zorn herhalten. Was habe ich nicht alles versucht, um sie zufriedenzustellen. Aber nichts, was ich tat, war ihr gut genug. Ich sprach nicht so gut Englisch wie die anderen, die in England aufgewachsen waren, ich konnte kein englisches Essen kochen, wusste nicht, wie man einen Staubsauger benutzt oder wie man mit Leintüchern ein Bett macht – in der Karibik war es zu heiss für Leintücher. Mutter wollte meine Probleme nicht verstehen, vielleicht schämte sie sich auch, weil ich so verdammt naiv war.

Sie erwartete von mir, dass ich sofort mit allem zurechtkam. Wenn Verwandte oder Bekannte vorbeikamen und sich erkundigten, wie es mit mir gehe, war ihre Antwort: «Sie kann nicht kochen; das einzige, was sie kann, ist putzen.» Immer hörte ich, dass ich dieses nicht könne und jenes nicht. Immer hiess es, ich sei dumm. Mit meinem Selbstvertrauen ging es bergab. Ich begann sogar zu stottern, wegen meinem schlechten Englisch. Ich ging nicht gerne einkaufen und vermied es, mit jemandem zu sprechen, damit sie ja meinen St.-Lucia-Akzent nicht hörten, auf den ich vorher so stolz gewesen war. Und niemand war da, der mit mir Patois gesprochen hätte. Meine Mutter, vermute ich, schämte sich, Patois zu sprechen, schämte sich überhaupt, aus St. Lucia zu stammen.

In der Schule ging es auch nicht besser. Im Zeugnis stand, ich sei launisch, zu still und unkonzentriert. Ich musste die Schule in Wood Green Punkt vier verlassen und auf den Bus rennen, damit ich um halb fünf zu Hause in Tottenham war, um mich um meine kleine Schwester zu kümmern. Auf dem Tisch lag eine lange Liste, worauf stand, was ich für den Rest des Tages zu tun hatte – waschen, bügeln, kochen. Kochen musste ich immer, wenn Mutter an der Arbeit war. Und alles musste tadellos sauber sein; sie war eine reinliche Frau, und sie war noch reinlicher geworden, seit ich ihr zur Hand war.

Sie arbeitete damals Schicht, als Busschaffnerin bei den Londoner Verkehrsbetrieben, manchmal bis ein Uhr früh. Sie arbeitete hart, aber ich musste den Preis dafür bezahlen. Ich fühlte mich schuldig für alles, was in ihrem Leben falsch lief. Sie sagte immer, wenn wir nicht gewesen wären, hätte sie die interessantere, aber schlechter bezahlte Arbeit als Krankenschwester im Spital behalten können. Es schien, als müssten wir ihr dankbar dafür sein, dass sie uns geboren hatte. Ihre Freunde und Freundinnen machten ihr immer Komplimente, weil sie, allein mit sechs Kindern, nicht durchgedreht war, und wir sähen ja so gut aus. Sie wollte dann immer, dass wir das auch zu hören bekamen, und wiederholte es uns noch und noch.

Sie hatte ein Temperament, schlimmer als ein Vulkan. Daneben wurde ich scheu, still und ängstlich. Ich war nie so voller Leben wie die andern; sogar Ben hatte es besser. Ich war unglücklich, fühlte mich wie im Gefängnis. Weglaufen konnte ich nicht, dafür war es zu kalt, und wie sollte ich mich auch mit meinem Akzent ernähren. Vielleicht konnte sie einfach nicht akzeptieren, dass sie schon eine fünfzehnjährige Tochter hatte, die langsam eine Frau wurde und eigene Freunde und Boyfriends haben wollte. Sie vertrat eine strengere Moral als Granma, wohl weil sie mir altersmässig näher war und noch mithalten wollte. Nur selten durfte ich ausgehen. Über Sex konnte ich auch mit niemandem sprechen, das galt als schmutzig. Dabei wollte ich nicht wirklich mit einem Mann schlafen, ich wollte nur mehr darüber wissen. Wenn ich schon über Sex sprechen könne, sagte meine Mutter, dann sollte ich auch fähig sein, für mich selbst zu sorgen. So hat sie mich verunsichert. Vielleicht hat sie mich auf ihre eigene Art geliebt, doch ich fühlte mich nie geliebt oder gewollt.

Ich kriegte für beinahe alles Schläge. Sie schlug mit allem, was ihr in die Hände kam – mit Kochtöpfen, Besenstiel, Gürtel, Schuhen –, und sie schlug hart. Ich war ein liebes Kind, wenn ich aber genug hatte, wurde ich bockig und versuchte auf meinem Standpunkt zu beharren, selbst mit blutigen Schrammen am Arm, die ihr Gürtel hinterliess. Ich zitterte dabei, war eigentlich ein Feigling, aber manchmal musste ich mich wehren.

Einmal, an einem Samstag, ging sie zur Arbeit, und ich musste, wie üblich, das Haus mit den vier Schlafzimmern putzen, das wir von der Stadt bekommen hatten; ich musste die Wäsche von acht Personen waschen, bügeln und die Kleinen bei Laune halten. An diesem Tag kamen Freunde zu Besuch, und ich hatte die Nase voll. Ich wollte nicht mehr arbeiten, war erschöpft, wollte einfach nur mit meinen Freunden schwatzen und spielen. Ich hatte das, seit ich aus St. Lucia gekommen war, nicht mehr gemacht.

Damals steckte Beth in einer Phase, wo sie es auf Schmuck abgesehen hatte. Während ich mit meinen Freunden in der Küche sass, hatte sie oben Mutters bestes Stück – eine Halskette, für die sie lange gespart hatte – anprobiert und zerbrochen. Ich war starr vor Schreck, als sie mit den Teilen in die Küche kam, und meine Freunde machten es mir auch nicht leichter, indem sie sich ausmalten, welchen Ärger es geben würde. Ich blickte um mich: Fast nichts hatte ich erledigt. Gerade das Bügeln wäre wichtig gewesen, für die Kirche am nächsten Tag und die Schule am Montag. «Paula», sagte ich mir, «das musst du jetzt durchhalten, jetzt gibt's kein Kneifen.» Irgendwann war genug, ich war kein Sandsack, auf den man ständig losschlagen konnte. Beth hätte es besser wissen müssen, aber natürlich, sie war was Besonderes, sie war die Sahne. Mutter war blind für ihre Fehler; bezahlen musste ich.

Mum kam nach Hause, wie immer gestresst und aggressiv. Sie sah in die Gesichter ihrer Kinder und wusste, was los war. Sie verlor keine Zeit damit, sich Erklärungen anzuhören, und begann auf mich einzuschlagen. Zum ersten Mal versuchte ich mich zu verteidigen. Ich war nicht mehr bereit, wie eine Idiotin dazustehen und vor meinen Freunden beschimpft zu werden. Hatte ich denn nicht auch das Recht, etwas falsch zu machen, wie sie und alle andern! Ich war doch einfach ein Kind, dass sich aus der Abhängigkeit befreien wollte. Sie erdrückte mich, sie, eine grosse Frau, rundlich, man könnte sagen, dick, und ich dagegen klein und fein, ich konnte nicht mal jemanden kneifen. Aber an diesem Tag hatte sie mich zum Äussersten getrieben. Ich wollte zurückschlagen, ich weinte, aber nicht aus Selbstmitleid, sondern weil mir alles egal war. Jetzt konnte passieren, was wollte, auch dass ich plötzlich auf der Strasse stand und nicht wusste wohin. Sie warf meine Freunde aus dem Haus und schrie, ich solle mit Bügeln beginnen. Ich kreischte sie an, was ich noch nie gemacht hatte, und sagte, sie solle es doch selber machen. «Du nützst mich nur aus, Mum», sagte ich. «Für alles in diesem Haus muss ich den Kopf hinhalten.» Eigentlich bluffte ich ja nur, aber ich musste mir vor mir selber Respekt verschaffen.

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