Kitabı oku: «Memoiren einer Grossmutter, Band I», sayfa 7
Sch'mini hoazeres speiste man zum letztenmal in der Sukke zu Mittag. Wiewohl das Wetter in den letzten Tagen veränderlich, oft schon empfindlich kalt war (manchmal schneite es sogar und man mußte Pelze anlegen) hielt man doch aus und nahm die Mahlzeiten, auch den Tee, in der Laubhütte bis zum letzten Tag. Alt und Jung, selbst wir Kinder, hielten streng die religiösen Vorschriften ein, so gut verstanden es unsere Eltern, ihre Wünsche und ihren Willen im Hause aufrecht zu halten. Nachdem das Gebet verrichtet wurde, das nach der letzten Mahlzeit beim Verlassen der Sukko vorgeschrieben ist, wurden die Möbel, Stück für Stück, in die Wohnung zurückgebracht, und die vor kurzem noch so herrlich geschmückte Laubhütte stand wieder leer und verlassen, ein treues Bild aller Herrlichkeiten unserer Welt. —
Jetzt kam der letzte Tag des Laubhüttenfestes »Simchas-Thaure« (Freude über die Thora) heran. Warum die Freude? Im Volke erzählte man: »Als die Juden auf dem Berge Sinai von Moses die Thora erhielten, verstanden sie von ihrem Inhalt nur wenig; als sie aber die heilige Schrift ganz in sich aufgenommen hatten, fanden sie darin ihr Glück und ihre Freude.« Und wahrlich, diese Thora ist ihr Stolz, ihr Volksschatz geworden für alle Zeiten, trotz der Unterdrückung, der Verfolgungen und Demütigungen, die sie erdulden mußten.
Am Simchas-Thora reißt diese Freude alle Schranken nieder. Wozu man sonst nur sehr selten Gelegenheit hat: man sieht an diesem Tage betrunkene Juden in den Straßen. Auch in unserem Hause ging es ziemlich bunt zu. Allerlei Getränke wurden bereitet, die besten Speisen mußte die gute jüdische Küche herhalten. Viele Gäste wurden zu Mittag geladen, die Kinder, auch das Gesinde erhielten volle Freiheit und die strenge Disziplin war aufgehoben. Mein Vater sah es ebenso wie alle Gäste für eine Mizwe (eine religiöse Handlung) an, sich bei Tische ein Räuschchen anzutrinken. Meine Eltern hinderten die jungen Männer nicht, wenn sie übermütig, ja ausgelassen tanzten und sangen; der Vater sang sogar munter mit. Es fehlten nur die Klänge einer Fiedel, da der Jude an den Feiertagen ein Musikinstrument nicht einmal berühren darf. Es wurden auch viele religiöse Tafellieder, die sich auf diesen frohen Tag bezogen, im Chor gesungen. Für meinen Vater hatte der Simchas-Thora-Tag noch eine besondere Bedeutung. Wie ich bereits erwähnt habe, war die Hauptbeschäftigung meines Vaters das Talmudstudium, das er um so eifriger betrieb, wenn er große Verluste in seinen Unternehmungen erlitten hatte. Er pflegte dann der Welt den Rücken zu kehren, flüchtete sich in ein Studierzimmer und lebte nur »al hathauro« und »al hoawaudo« wie der Jude sich kurz und bündig ausdrückt, d. h. nur in der Lehre der Gesetze und im Gottesdienst, was der Hauptzweck seines Lebens wurde. So machte er von Zeit zu Zeit ein Ssium (d. h. ein Werk vollenden); ein solches Ereignis wird im jüdischen Volke freudig gefeiert und bringt Ansehen und Ehre, besonders wenn es ein Ssium auf ganz Schass, d. i. ein Durchstudieren des ganzen Talmuds und aller Kommentare ist. Mein Vater pflegte seinen Ssium auf einen Simchas-Thora zu verlegen. Das bunte Treiben an diesem Tage dauerte bis zum Abend, beim Vorabendgebet aber waren alle schon wieder ernst. Der Vater machte wieder Awdolo und jetzt hieß es S'miraus, d. h. fromme Lieder singen. Der große Samowar brodelte und dampfte bereits auf dem Teetisch, und bis spät in die Nacht saßen die fleißigen Trinker gemütlich beisammen. Mit Simchas-Thora sind die sogenannten Jomim nauroim, d. h. die ernsten Tage zu Ende, wenn auch schon der nächste Schabbes Bereischis vor einem gewöhnlichen Sabbath ausgezeichnet ist, da jetzt der Anfang der Bibel wieder, der erste Abschnitt »Bereischis« vorgelesen wird. Der nächste Tag nach Simches-Thora ist Isserchag und gilt auch noch als Feiertag. Der Tisch, der volle acht Tage festlich geschmückt war, blieb auch heute bedeckt, was am Werktage sonst nach dem rituellen Gebrauch nicht geschieht. Das Mittagbrot wurde zu früher Stunde eingenommen und bestand aus kalten Speisen, die vom Vortag zurückgeblieben waren, eine Menge von guten, schmackhaften Sachen: kalte Pfefferfische, kalter Putenbraten usw. Nur der Borscht (eine Suppe aus gesäuerten roten Rüben) wurde frisch bereitet.
Die Zeit der Feste war vorüber. Langsam kam das Leben wieder ins alte Gleise. Eine Abwechslung brachte der Rausch chaudesch.
Am zehnten oder zwölften Tag jeden Monats wird der Mond, wenn er am Abendhimmel glänzt, nach jüdischem Gesetz bewillkommnet. Als Kind liebte ich es, durchs Fenster zuzusehen, wenn mein Vater sich in Begleitung von noch zehn Juden in den hellen Mondschein stellte und betete. Mit munteren Worten und die Augen gen Himmel gerichtet pries er den milden Mond. Dies geschah gewöhnlich Samstags abend.
Den »erew rausch chaudesch«, d. h. den Tag vor »Rausch chaudesch« (Neumond) pflegte man in meinem elterlichen Hause in eigener Weise zu begehen. Unter den damaligen Juden gab es viele, die an diesem Tage fasteten und besondere Gebete verrichteten. Viele Bettler, alte, kranke, in Lumpen gehüllte, halbnackte Männer und Weiber mit verzerrten Gesichtern, junge Leute, Mädchen und Kinder, kamen scharenweise an diesem Tage, ihr »Rausch chaudesch-geld« zu holen, da jeder Bußtag bei den Juden durch Almosen seine Weihe erhalten mußte. War es doch üblich, daß außer an diesem Tag viele im Volke in jeder Woche am Montag und Donnerstag zu fasten pflegten und an Arme Almosen verteilten. An diesen Tagen konnte man auch die sogenannten »Gabbettes« in Aktion sehen. Gabbettes sind fromme Seelen, gute, selbstlose Frauen, wahre religiöse Patronessen des armen jüdischen Volkes, deren Lebensaufgabe es war und in Litauen noch bis heute ist, sobald sie in ihrem eigenen Hause alles besorgt haben, mit einer zweiten Gabbette von Haus zu Haus in die Armenviertel zu gehen, um dort das Elend und die Not zu lindern. Paarweise laufen sie durch die Gassen, erbetteln von Krämern und Kaufleuten in den Buden Lebensmittel; und in alle Privathäuser kommen sie, um ein Almosen zu erbitten, Geld oder Speisen, alte Kleider usw. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft einer solchen »Gabbette«, die oft zu uns kam. Sie war ein Engel an Güte und Seelengröße. Ihr Name war Itke, die Hefterke. Sie pflegte meiner Mutter von all dem Elend und der Armut in der Stadt zu erzählen. Mit zerknirschtem Herzen und Trauer in den Zügen behauptete sie symbolisch, Perlen und Brillanten lägen in den Gassen herum, aber nur sehr wenige bemühten sich, die aufzunehmen. Sie meinte damit: Man könnte so viele Wohltaten an den Armen üben, und die wenigsten mühten sich darum. Nur diese »Juwelen« behauptete Itke, die Hefterke, kann man nach dem Tode mit ins Jenseits nehmen. Meine Mutter pflegte an Rausch chaudesch eine ansehnliche Summe Geld zu verteilen. Alte Männer und Frauen bekamen eine Münze von drei polnischen Groschen, d. h. eineundeinehalbe russische Kopeke. Je jünger der Arme war, um so weniger, bis auf einen Groschen herunter, bekam er. Den Kindern gab man nur eine »Prute«. Diese Münze war der dritte Teil eines polnischen Groschens, folglich ein Sechsteil einer Kopeke. Diese Münze pflegte in Brest-Litauen von dem jüdischen Gemeinderat mit Erlaubnis der Regierung verfertigt zu werden. Ich erinnere mich, daß diese Prute nur an Arme gegeben wurde, während sie im Geschäftsleben nicht gangbar war. Zuerst wurde sie in Blei gegossen mit der hebräischen Aufschrift »Prute achas«, d. h. eine Prute. Als aber damit Mißbrauch getrieben wurde, schaffte man sie ab, und stellte die Prute aus Pergament her. Sie trug dieselbe Aufschrift. Diese Prute hatte ungefähr die Größe eines Zolls in der Länge und eines halben Zolls in der Breite. Auch dieses Pergamentgeld wurde bald abgeschafft; und an ihre Stelle trat die Prute in Form eines mittelmäßigen, runden Knopfes aus Holz mit einer kleinen Vertiefung, die mit rotem Siegellack gefüllt war, worin das Wort Prute und der Petschaft des Gemeinderats eingedrückt waren.
Das Verteilen der Almosen war eigentlich die einzige Form, in der in unserer Familie der Erew Rausch-Chaudesch begangen wurde. Den darauf folgenden Tag aber, den Rausch chaudesch selbst betrachteten wir als einen halben Feiertag. In der Synagoge wurde das Gebet »halel« usw. gesagt, zu Hause gabs gute Speisen zu Mittag; den ganzen Tag über durfte übrigens keine Handarbeit verrichtet werden.
Der Rausch-Chaudesch spielte überhaupt eine wichtige Rolle im Leben der Juden. So war es üblich, an diesem Termine Wohnungen und Dienstboten zu mieten und »wichtige« hauswirtschaftliche Arbeiten auf diesen Tag zu verlegen – besonders aber das »Gänse setzen«, wie es damals hieß. Man pflegte 30-40 Gänse in einem engen Käfig zusammenzupferchen, so daß sie sich kaum bewegen konnten, gab ihnen sehr viel zu fressen, aber sehr wenig zu trinken. Bei dieser Kur wurden sie sehr fett. Genau einundzwanzig Tage mästete man das Geflügelvieh, damit ihr Fett sich mehre und die Leber im Leibe größer würde, dann wurden sie geschlachtet; wartete man mit dieser Prozedur nur einen Tag, so war – wie man glaubte – die ganze Mästerei vergeblich. Rausch-Chaudesch kislew wurden die Gänse eingekerkert. Am einundzwanzigsten Tage kam mit Tagesanbruch der Schlächter mit seinem Gehilfen. Er zog das große Schlächtermesser aus der ledernen Scheide, machte es unheimlich scharf, prüfte die Schärfe an seinem Nagel, und ging dann in Begleitung der Köchin und des Nachtwächters mit einer Laterne in den Gänsestall, um das Todesurteil an den Gänsen zu vollziehen. Natürlich sagte er, bevor er die erste Gans schlachtete, das vorgeschriebene Gebet. Nach einer Stunde war das Werk vollbracht. Man schleppte die geschlachteten Gänse in die Küche, wo sie ein paar arme Weiber rupften, sengten, reinigten und salzten und eine volle Stunde im Salze liegen ließen. Dann begoß man sie dreimal mit kaltem Wasser, und sie waren koscher. Der Lärm in der Küche und im ganzen Hause war groß! Eile war nötig; denn zu Chanuka brauchte man viel Schmalz, Gänseleber und besonders die schmackhaften Grieben! Da gab es schmackhafte Leber- und Griebenpasteten und das herrliche Gericht des gedämpften Gänsekleins.
Nach einem Aberglauben oder einer mystischen Tradition mußte der Schlächter von »Rausch-Chaudesch kislew« an bis »Rausch-Chaudesch adar«, also drei Monate lang, von dem von ihm geschlachteten Federvieh ein Glied, einen Fuß oder Kopf und dergleichen essen, sonst müßte er jeden Augenblick fürchten, gelähmt zu werden. Wir pflegten ihm immer das linke Füßchen jeder Gans zu überlassen. Da er jedoch diese Fülle nicht vertilgen konnte, so bereitete man aus den vielen Füßchen eine Brühe, die er verzehren mußte! —
Große Bedeutung hatte auch das Ausbraten des Gänseschmalzes. Es mußte in aller Stille geschehen, entweder noch vor Tagesanbruch oder spät am Abend, damit kein »böser Blick« darauf fiele – sonst liefe das ganze Schmalz aus dem Topfe! War aber beim Ausbraten nur eine stille Person tätig, dann kam – so glaubte man – der gute Hausgeist in Gestalt eines Zwerges und machte, daß das Schmalz über den Brattopf quillt; und schöpfte man es in ein anderes Gefäß ab, so mehrte es sich ohne Unterlaß, bis alle leeren Geschirre, selbst das große Wasserfaß, im Hause mit dem Schmalz gefüllt wären; dann erst verschwindet der Zwerg.
Aus meiner Schilderung könnte die heutige Jugend schliessen, daß das Leben in einem jüdischen Hause der alten Zeit durch seine Sitten und die Strenge seiner Gebräuche unerträglich schwer war. O nein! Die damaligen Juden hatten ihre großen Freuden, genossen viel Vergnügen, Ruhe, Behagen; aber alles nur im Kreise der Familien im eigenen Hause; kein Herumstreifen in den Ballsalons, auf Reisen, in den Bädern, über Berge, und Meere. Er lebte ruhig, gut und lange. Er gab seinem Gotte, was ihm gebührt und nahm vom Leben das, was ihm behagte. Es lag Weihe und tiefes Symbol in den Formen des Lebens, was man von den Zeremonien und Bräuchen der jetzigen Gesellschaft nicht gerade behaupten kann. Gewiß haben auch sie die Bedeutung, die Menschen aneinanderzufügen und auch den Individuen die höhere Form einer Gemeinschaft zu schaffen. Allein wer kann leugnen, dass diese Bindung armselig erscheint gegenüber jener festen, sozialen Verknüpfung, die das jüdische Gesetz vorschrieb und die das einstige jüdische Leben erreichte. Einer war für den anderen orew, d. h. Bürge, und die Formeln »Kol Jsroel chawerim« (Ganz Israel Brüder) und »Achenu benei Jsroel« hatten einen Inhalt! Es war nur konsequent, wenn damals ein Jude vor dem anderen nicht den Hut zog. Aus dem gleichen Grunde wurden jüdische »Freidenker«, wenn sie öffentlich ein religiöses Gebot verletzten, vom Volke mit Vorwürfen verfolgt. Wenn beispielsweise solch ein Freidenker am Sonnabend Abend, an dem man nur eine bestimmte kurze Strecke gehen und Stock, Schirm, Taschentuch ohne Erew nicht tragen darf, sich mit diesen »Lasten« auf der Straße zeigte, empfing man ihn mit feindlichen Blicken, weil er gegen den Grundgedanken des mosaischen Gesetzes – dem der Gemeinbürgschaft und der Verantwortlichkeit des Einzelnen gegen die Gesamtheit – verstieß. Die Sünde des Einzelnen muß eben das ganze Volk büßen.
Der Beginn der Aufklärungsperiode
I.
Lilienthal
Von der hohen Altersstufe aus, die ein gütiges Geschick mich hat erreichen lassen, will ich einen Rückblick auf die für die Juden Litauens kulturell bedeutsame Epoche gegen Ende der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts werfen. Ich sehe es als ein Glück an, jene Periode miterlebt zu haben, in der die großzügigen Reformen unter der Regierung Kaiser Nikolaus I. die geistige, ja sogar die physische Regeneration der Juden in Litauen herbeiführten.
Wer, wie ich, die Zeit von 1838 bis heute durchlebt, all die religiösen Kämpfe im Familienleben der litauischen Juden mitgemacht und schließlich den großen Fortschritt beobachtet hat, der darf und muß seiner Bewunderung für die Idee jener Reformgesetze Ausdruck verleihen und sie segnen. Ja, man darf sogar mit Begeisterung von ihr sprechen, wenn man die zumeist unkultivierten, armseligen Juden der vierziger Jahre mit den litauischen Juden der sechziger und siebziger Jahre vergleicht, unter denen es heute so viele vollkommen europäisch gebildete Männer gibt, die auf den verschiedensten Gebieten der Literatur, Wissenschaft und der Kunst Hervorragendes leisten und denen es an äußeren Ehren und Titeln nicht fehlt.
Die Menge ahnt oft instinktiv das Eintreten eines großen Ereignisses vorher. Im ganzen litauischen Gebiete verbreitete sich plötzlich das Gerücht, den Chedarim (jüdischen Volksschulen) stehe eine gründliche Umwandlung bevor; von den Melamdim (Volksschullehrer), die bisher im jüdischen Jargon Unterricht erteilten, werde künftighin die Kenntnis des Russischen gefordert werden, damit sie die Bibel den Schulkindern in diese Sprache übersetzen könnten.
Dieses Gerücht brachte den älteren Männern schwere Sorge. Sie dachten voll Schrecken daran, daß das Hebräische, das Wort Gottes, wohl allmählich vernachlässigt werden sollte. Die Jüngeren aber, darunter meine beiden älteren Schwager, nahmen die neue Kunde mit gespannter Erwartung auf. Aber sie wagten es nur flüsternd über die kommende Neugestaltung zu sprechen.
Die Melamdim waren einfach verzweifelt …
Eines Tages brachte mein Vater, vom Vorabendgebet zurückkehrend, aus der Synagoge die hochinteressante Mitteilung, daß das unlängst aufgetauchte Gerücht sich bewahrheite, ein Doktor der Philologie, namens Lilienthal, sei vom Ministerium für Volksbildung (an dessen Spitze der gebildete und humane Minister Uwaroff stand) beauftragt worden, ganz Rußland zu bereisen, um das Bildungsniveau der Juden im ganzen Lande zu prüfen, sich über die Melamdim zu informieren, in deren Händen der Unterricht der jüdischen Jugend lag; in Petersburg sei ein großartiger Reformplan entworfen worden und mit den Rabbinerschulen in Wilna und Schitomir sollte innerhalb eines gewissen Zeitraums auch begonnen werden. Meinen Vater, der strenggläubig war, betrübte jedoch eine bevorstehende Reform nicht zu sehr, denn er selbst klagte stets über die schlechte Unterrichtsweise in den jüdischen Schulen von Brest und wünschte mancherlei Verbesserungen auf diesem Gebiete.
In der Tat war mit der Aufgabe, westeuropäische Bildung unter den Juden zu verbreiten, der Inspektor der Rigaer Volksschulen, Dr. phil. Lilienthal, betraut worden, weil er europäisch gebildeter Jude und zugleich mit der hebräischen Sprache vertraut war und einiges talmudische Wissen besaß.
Lilienthal hatte sein Werk damit begonnen, daß er sich zunächst mit den angesehensten, jüdischen Gelehrten in Verbindung setzte, die während ihres ganzen Lebens in engster Fühlung mit dem Volke standen. So wandte er sich an den berühmten Rabbi Reb Mendele Libawitzer, das Haupt der Chassidim-Sekte, die mehr als 100 000 Anhänger in Litauen und Kleinrußland zählte. Er hoffte, diese Autorität für seine kulturellen Reformen gewinnen zu können. Ebenso eindringlich bemühte er sich um Reb Chaim Woloshiner, den Leiter der dortigen Jeschiwa. Beide Männer berief der Minister nach Petersburg zur Beratung.
Einen Erfolg hatte Lilienthal damit nicht, denn die große Menge der Anhänger des Libawitzer Rabbi ließen aus Furcht ihren vergötterten Rabbi diesem Rufe nicht folgen, da sie erfahren hatten, daß es sich um große Reformen im Talmud- und Bibelunterricht handelte. Die Libawitzer fingen an, mit allen Mitteln gegen die Reformen zu eifern, unbekümmert um die Folgen (cf. Zeitschrift Woschod 1903).
In Petersburg war man entrüstet, aber Reb Mendele wurde nur mit einem kurzen Hausarrest bestraft. Reb Chaim Woloshiner weigerte sich auch, dem Rufe des Ministers nachzukommen. Er entschuldigte sich mit seinem hohen Alter: die Reise nach Petersburg sei für ihn zu beschwerlich. Er empfahl an seiner Stelle Reb David Bichewere. Dieser Vorschlag wurde aber nicht angenommen; und so trat Dr. Lilienthal die Reise nach dem Niederlassungsgebiete der Juden an. —
Einige Tage waren seither verstrichen, als mein Vater die Kunde brachte, Dr. Lilienthal sei bereits in Brest, unserem damaligen Wohnort, eingetroffen, und er wolle zusammen mit den jungen Leuten, meinen Schwagern, dem Doktor einen Besuch abstatten.
Meine Mutter äußerte ihr nicht geringes Erstaunen über diese Absicht; der Vater erklärte ihr kurz und bündig: Wenn er selbst die jungen Leute nicht zu Dr. Lilienthal führen werde, so fänden sie schon selbst den Weg. Ich glaube aber, das war bloß eine Ausrede: mein Vater war selbst sehr gespannt, die Bekanntschaft des Dr. Lilienthal zu machen, um so rasch wie möglich Genaueres über die bevorstehende Umwälzung im Schulwesen zu erfahren. Meiner Mutter geistiges Auge sah aber in dieser ganzen Angelegenheit tiefer und schärfer als das meines Vaters, was sich in der Folge auch bestätigt hat.
Den Jubel der jungen Männer zu schildern, daß sie bald den interessanten Dr. Lilienthal besuchen sollten, ist unmöglich. Besonders glücklich war mein älterer Schwager, der neben hervorragender Begabung und ungewöhnlichen talmudischen Kenntnissen einen unermüdlichen Fleiß besaß. Im Alter von vierzehn Jahren hatte er fast das gesamte Wissen eines Rabbiners inne. – — —
Der Besuch bei Dr. Lilienthal war vorüber. Mein Vater hat viel, sehr viel erfahren: Erstens: Kein Chasid darf Melamed sein, zweitens: Jeder Melamed ist verpflichtet, die russische Sprache in Wort und Schrift zu beherrschen und deutsch lesen zu können; ferner ist der Melamed verpflichtet, die Bibel und alle Propheten ohne Ausnahme genau zu kennen und endlich darf der Melamed mit den Schülern, die bereits im Talmud Unterricht erhalten, die folgenden Abschnitte nicht durchnehmen: Baba Mezia (Feldschaden), Baba Kama (Wechselrecht), Baba Basra (Baugesetze).
Dr. Lilienthal hielt sich einige Zeit in Brest auf und besuchte auch seinem Auftrag gemäß viele Chedarim. Er war entsetzt und niedergedrückt von dem verwilderten Aussehen der Melamdim, aber überrascht und entzückt von der semitischen Rassenreinheit der Zöglinge, insbesondere von ihren schwarzen, klugen Augen. Er war auch Zeuge einer Szene, die ihn tief bewegt hat, denn er überzeugte sich, von welch großer Wichtigkeit für jeden Juden, selbst für die ärmsten, der Unterricht der Kinder ist. Dr. Lilienthal besuchte eines Tages ein Stadt-Cheder und bemerkte, daß sowohl der Melamed, als auch die Schüler aufgeregt ein unbestimmtes Etwas erwarteten. Bald darauf trat in das Cheder ein ärmlich gekleideter Jude ein, der seinen Knaben im Alter von etwa sechs Jahren, in einen großen Talles17 ganz eingewickelt, auf dem Arm trug. Dem Vater folgte die Mutter auf den Fersen. Beide weinten vor Freude und aufrichtiger Dankbarkeit gegen Gott, daß er sie diesen schönen, bedeutungsvollen Augenblick hatte erleben lassen, ihren Sohn zum erstenmal in das Cheder bringen zu können. Die Schar der Schüler stürmte von draußen herein, um dem Vorgang gaffend beizuwohnen. Der Melamed rief den Fremden ein lautes Scholem aleichem (Friede mit euch!) entgegen, stand von seinem Sitz auf und nahm den Helden dieser Szene in seine Arme, seinen neuen Schüler. Nun wurde der Kleine auf den Tisch gestellt, und er weinte beinahe vor Überraschung und Aufregung. Hierauf setzte man ihn auf die nächste Bank, und da erhielt er vor allem Kuchen, Nüsse, Rosinen und Naschwerk, wovon die glückliche Mutter eine Schürze voll mitgebracht hatte. Alle Zuschauer gratulierten den glückseligen Eltern zum ersten Schulgang ihres Sohnes. Der Melamed setzte sich zu dem Kleinen, ergriff das auf eine Kartontafel aufgeklebte gedruckte Alef-Beis (Alphabet), legte es vor den Kleinen hin, nahm sodann das große Deitelholz zur Hand, und nun segnete er den Anfang des Unterrichts mit dem Wunsche ein: Der Junge möge zu Thora-Lernen (d. h. Gelehrsamkeit), zu Chupe (Trauung) und zu Maassim-towim (guten Taten) erzogen werden. »Amen« sagten die Eltern und alle Umstehenden. Hierauf zeigte der Melamed dem angehenden Schüler zum ersten Male das »Alef« (»A«), und nachdem der Junge das wie ein Papagei einige Male nachgesagt hatte, auch das »Beis« (»B«) und dann auch das »Gimel« (»G«). Die freudestrahlende Mutter hatte alle Anwesenden vergessen. Sie fühlte sich in den Himmel versetzt. Mit vollen Händen verteilte sie die mitgebrachten Leckerbissen, wobei ein Malach (Engel) dem künftigen Gelehrten für jeden Buchstaben das Beste und Schmackhafteste von der Höhe herab, gerade vor seine Nase warf. In solcher Weise begann der Knabe mit seinem sechsten Lebensjahr seine Schulpflicht zu erfüllen.....
Während seines Brester Aufenthaltes versammelte Dr. Lilienthal täglich viele junge Leute um sich, denen er von der Notwendigkeit sprach, sich westeuropäische Bildung anzueignen. Er gab ihnen nützliche Ratschläge, schilderte ihnen in schönen Bildern ihre eigene Zukunft als Männer der Bildung und gewann sich damit die Herzen der empfänglichen Jugend, die wohl auf religiösem Gebiete den Bräuchen der Eltern treu blieb, sonst aber neue Bahnen einschlug und sich immer mehr von den kulturellen Anschauungen der älteren Generation entfernte – das charakteristische Merkmal der Lilienthalschen Epoche!
Von Brest reiste Dr. Lilienthal sodann nach Wilna, um auch dort seine Mission zu erfüllen. Eine Deputation der Gouvernementsstadt Minsk begrüßte ihn und lud ihn zu sich ein. Dr. Lilienthal leistete der Einladung Folge und ging nach Minsk, wo er von den angesehensten Juden mit den größten Ehren empfangen wurde. Gleich nach seiner Ankunft wurde eine Assiphe (allgemeine Versammlung) einberufen, in der er wichtige Fragen beantworten sollte. Die Herren S. Rapaport und O. Lurie führten in der Versammlung das Wort. Die wichtigste Frage war: Was beabsichtigt der Minister für Volksbildung eigentlich mit der Reform? Sollten am Ende alle Juden Rußlands lediglich zur Taufe vorbereitet werden? Dann würden sich alle Juden wie ein Mann gegen diese Reformen auflehnen und sie zum Scheitern bringen. Denn nähme man dem Juden seine Religion, so wankte der feste Boden unter seinen Füßen und er sei verloren. Seine eigenen Kinder würden sich gegen ihn empören. Dr. Lilienthal war entsetzt. Er schwur bei einer Sepher-Thora (heiligen Rolle), daß er den Juden Volkstum und Religion erhalten wolle und die Taufe verabscheue. Vor Aufregung weinend, versicherte er immer wieder, daß er nur das Beste für die Juden anstrebe. Schließlich gelang es ihm, die Versammelten zu beruhigen.
Auch nach der Stadt Woloschin, in der damals die Jeschiba (Talmudische Hochschule) in höchster Blüte stand, kam er in Erfüllung des ministeriellen Auftrages.
Jeschiba ist eine Lehranstalt für erwachsene Jünglinge, die in dem Talmudwissen bald zur höchsten Stufe gelangt und zur Rabbinerstelle reif sind. Solche Talmudlehranstalten gab es damals drei, in Woloschin, in Mir und in Minsk. Für diese Anstalten wird noch bis jetzt von der gesamten Judenschaft gesammelt. In einer jeden dieser Anstalten bekamen dann mehr als 200 Jünglinge ihren Unterricht. Ein besonders großes Gebäude mit einigen großen, geräumigen Zimmern! Ein »Haupt«, eine Art Direktor, ein großer Talmudist, ein religiöser, kluger, sehr ehrlicher Mann leitet diese Anstalt, während viele Melamdim – erprobte Talmudisten – den jungen Leuten Unterricht erteilen. Das Kontingent der Schüler besteht aus allen Klassen des jüdischen Volks, meistens aus der mittleren Klasse, deren bares Kapital das geistige Vermächtnis ausmacht. Diese leben meistenteils auf Kosten der Anstalt. Junge Leute aus reichen Kreisen sind hier auch zahlreich vertreten, meist sind es schon verheiratete Männer, die, Väter einiger Kinder, auf eigene Kosten hier leben. Mein Vater selbst hatte schon drei Kinder, während er in der Woloschiner Jeschiba das ganze Jahr »lernte«. Nur zu den Feiertagen kam er nach Hause.
In Woloschin musste Lilienthal, um die Gemüter zu besänftigen, wiederholt beschwören, daß er allen Bestrebungen, die Juden der Taufe näher zu führen, fern stünde. – — – — – — – — – — – —
In aller Stille nahm unter den Juden Rußlands die Kulturbewegung ihren Anfang. Die Jugend regte sich energisch; die geistige Arbeit begann. Es kostete wenig Zeit und verhältnismäßig geringe Mühe, die angedeuteten Reformen durchzuführen. Eine erfrischende Luft wehte durch die jüdische Gesellschaft der Stadt Brest, wie aller anderen russisch-jüdischen Orte.
Ich habe schon erzählt, wie groß der Jubel meiner Schwager über die bevorstehenden Reformen war. Aber sie mußten an sich halten, um sich nicht zu verraten und meine Mutter nicht zu verletzen, die ihr prophetisches Urteil über diese Wandlung hatte. Indessen waren meine Schwager nicht die einzigen in Brest, die sich für die westeuropäische Kultur begeisterten. Es gab auch eine Gruppe von mehr als 20 jungen Männern, welche die Lilienthalsche Bewegung sehr ernst nahmen und in ihrem Kreise eifrig für die Sache wirkten – stießen sie auf einen beschränkten Menschen, so waren sie der Ansicht, daß es schließlich auch genügen würde, wenn dieser wenigstens eine Adresse in russischer Sprache schreiben könnte.
Man darf nicht vergessen, daß die Kenntnisse meiner Schwager und ihrer Zeitgenossen in den europäischen Sprachen jener Zeit sehr begrenzt waren und in Lesen, Schreiben, ein wenig Russisch und Polnisch bestanden. Die deutsche Sprache war ihnen geläufiger. Sie hatten eine Ahnung von der klassischen Literatur dieser Sprachen und mancher Wissenschaften. Die niedere, jüdische Klasse aber verstand weder zu schreiben, noch zu lesen oder eine europäische Sprache zu sprechen; sie sprachen ein dürftiges Polnisch, und ein Kauderwelsch von Deutsch und Russisch wurde von der jüdischen Kaufmannschaft notgedrungen gebraucht; während der Pöbel ein Gemisch von Polnisch, Russisch, Lettisch sprach, dessen sie sich auf den Märkten mit den Dorfbewohnern bedienten.
Tiefgreifend konnten die Umwälzungen erst werden durch die Begründung in neuem Geiste geleiteter Rabbinerschulen. So entstanden die Schulen in Wilna und Schitomir. Die ersten Schüler waren zumeist junge Leute, die sich alle Mühe gegeben hatten, bei Eröffnung der Schulen aufgenommen zu werden. Nur selten war ihnen der Eintritt in diese Schulen ohne Kämpfe in der Familie möglich. Wem es nicht leicht wurde, der riß sich von Weib und Kind los und flüchtete sich nach Deutschland, wo er oft mit harter Not Medizin, Pharmacie, Philologie oder anderes mit glänzendem Resultate studierte. Die Stadt Rossieni in Kurland kann mehr als 10 solcher Ritter vom Geiste nennen, Ärzte, Juristen, Apotheker, Philosophen und Dichter, die teils in Rußland, teils im Auslande studiert hatten. Noch jetzt lebt und wirkt in Rußland ein Professor der orientalischen Sprachen, der seine Jugend beim Talmudfolianten verbracht hat und sich später in dieser Weise ausgebildet hat. Freilich er und seine Kinder sind getauft. Auch den jüdischen Astronomen Ch. S. Slonimsky haben seine bedeutenden, talmudischen Kenntnisse nicht gehindert – vielleicht haben sie sogar dazu beigetragen, in der Mathematik berühmt zu werden. – Die Mehrzahl der Zöglinge in den neuen Rabbinerschulen waren früher Talmudisten. Sie lernten leicht, und die meisten erhielten beim Abgang von der Schule die goldene Medaille, ebenso diejenigen, die später die Universität besuchten! Das Studium des Talmuds ist eben eine in jeder Hinsicht gute, geistige Übung, wozu noch die Wißbegier, der temperamentvolle Charakter und der geistige Schwung des damaligen Juden kamen. – — – — – — – — – — – —
Einen Tag nach dem Besuch bei Dr. Lilienthal finden wir die jungen Leute, meine Schwager, in ihrem Studierzimmer nachdenklich beieinander sitzend. »Die Bücher werden schon zu finden sein«, sagte mein wißbegieriger, älterer Schwager. »Wir müssen nur darauf bedacht sein, vom Talmudlernen Zeit für unser neues Studium zu erübrigen, ohne die Aufmerksamkeit der Eltern zu erregen …«, worauf der andere in seiner phlegmatischen Weise antwortete: »Ja, gewiß! Wenn du zu studieren beginnst, halte ich auch mit.« Dr. Lilienthal hatte ihnen in erster Linie das Studium der russischen Sprache empfohlen; dann, als gleichfalls sehr wichtig, Naturgeschichte, sowie die deutsche Literatur.
Einige Zeit darauf gab es mehrere störende Zwischenfälle, die der Komik nicht entbehrten. Meine Mutter war seit dem Besuche der jungen Leute bei Dr. Lilienthal fest überzeugt, daß ein neues, fremdes Element in ihr Haus, ebenso wie bei den anderen Juden in Rußland, eingezogen sei, wobei das Wort Gottes wirklich hintenangesetzt werden sollte. Und sie ward sehr traurig. Unauffällig, aber scharf beobachtete sie das Verhalten und die Handlungen der jungen Leute. Die Schwager hatten sich die nötigen Lehrbücher verschafft und zu studieren begonnen, was natürlich auf Kosten des Talmudstudiums geschehen mußte. Äußerlich blieben sie ruhig und schienen sich wie gewohnt, mit dem Talmud zu beschäftigen. Doch konnte ein aufmerksamer Beobachter unter den großen Talmudsfolianten nicht selten einen Band von Schillers oder Zschokke-Werken entdecken; im letzteren erfüllte besonders die idyllische Lebensweise Engelberts die jüdische Jugend mit Begeisterung, während die Prinzessin von Wolfenbüttel – zumal bei den jüdischen Frauen – Sympathie und Mitleid erregte. Und Schillers Marquis Posa galt allen jüngeren Männern als Vorbild. Die nüchterne, russische Grammatik war auch zur Hand, und in der Büchersammlung fehlte auch eine Naturgeschichte nicht.