Kitabı oku: «Memoiren einer Grossmutter, Band I», sayfa 8
Mein Vater ließ seit dem Besuche bei Dr. Lilienthal keine Gelegenheit unbenützt vorübergehen, von ihm und seiner wichtigen und großen Aufgabe zu sprechen. Es tat ihm ordentlich wohl, mit jedem Gast und besonders mit den jungen Leuten, meinen Schwagern, die großartigen Reformen zu erörtern. Er geriet in Eifer bei solchen Gesprächen, lobte, daß endlich auf dem Gebiete des Unterrichts der jüdischen Jugend Ordnung geschaffen werden sollte, grollte aber doch, daß Dr. Lilienthal so gottlos gesprochen habe, daß man die früher erwähnten Talmudabschnitte der jüdischen Jugend entziehen müsse, und man sich gegebenenfalls nicht nach den Talmudgesetzen richten solle.
… Es war eines Morgens in dem denkwürdigen Sommer des Jahres 1842, als meine Schwager, ohne zu ahnen, daß jemand sie hören könnte, die neuen Bücher aus ihrem Versteck holten, auf den offenen Talmudfolianten legten und im Vereine mit dem dritten, Reb Herschel, einem Melamed aus der Kehila Orlo, der genial war und große talmudische Kenntnisse besaß, laut schreiend über einen Satz im »Don Carlos« disputierten. Um einer immerhin möglichen Überraschung vorzubeugen, lasen und sprachen sie genau in derselben singenden Weise, in der sie sonst den Talmud zu lernen pflegten. Meine Mutter schien seit dem Erscheinen Dr. Lilienthals wie von einem Gespenst verfolgt, und nun wollte sie in das Studierzimmer der jungen Leute gehen in der Hoffnung, sich überzeugen zu können, daß ihre quälenden Gedanken doch unbegründet seien, und daß der Teufel in Gestalt Dr. Lilienthals sich doch noch nicht völlig ihrer Schwiegersöhne bemächtigt hätte. Sie blieb unten an der Treppe, die zum Studierzimmer führte, lauschend stehen. Dann stieg sie die Treppe hinan, blieb wieder stehen, lauschte und hörte mit Freude, wie fleißig drin gelernt wurde. Als sie aber das Ohr der geschlossenen Tür näherte und aufmerksamer horchte, erfaßte sie Schreck und Erstaunen. Ein furchtbarer Ausdruck von Enttäuschung und Ärger verstörte ihre Gesichtszüge. Von »Omar abaje«, mit welchen Worten viele Traktate des Talmud beginnen, hörte sie nichts. Bloß Marquis Posa, Herzog Alba usw.
»Sind es also wirklich nur die sündigen Büchlech, mit denen sich die jungen Leute befassen?« dachte sie mit einem großen Weh im Herzen.
Es verstrich eine geraume Zeit, ehe meine Mutter sich fassen konnte. Dann ergriff sie mit zitternder Hand die Klinke, öffnete die Tür und blieb wortlos vor Ärger auf der Schwelle stehen. Beim Geräusche der sich öffnenden Türe wandten die drei Überraschten die Köpfe um, und sie hätten sicherlich aufgeschrieen, wenn ihnen der Atem nicht versagt hätte. Ihre erste Bewegung war, daß sie sämtliche Bücher unter den Tisch gleiten ließen; sie wollten ja der Mutter nicht trotzen. Es tat ihnen sogar weh, daß diese »Büchlech« ihr soviel Kummer bereiteten. Allein der Reiz des Neuen, das Anziehende im Studium der fremden Sprachen und der Wissenschaften nach dem Einerlei des Talmudlernens war von einem unwiderstehlichen Zwange. Meine Mutter gewann zuerst wieder die Herrschaft über sich und rief laut: »O Himmel, ich soll in meinem eigenen Hause das Wort Gottes so verhöhnt sehen! In demselben Nigen (Tonfall), in dem ihr den Talmud lernt, verhöhnt ihr ihn jetzt durch das Lesen dieser apikorssischen (abtrünnigen) Büchlech!! Und auch Ihr, Reb Herschel, Ihr habt es auch nötig?! Was wollt Ihr damit in Eurer Kehile Orlo machen! Ihr wollt auch ein Apikaures (Abtrünniger) werden, wie meine jungen Leute?« Sie war bei dieser Rede so aufgeregt, daß ihre Füße ihr schier den Dienst versagten. Die jungen Männer blieben stumm; ihre nach links dem Fenster zugewendeten Köpfe waren unbeweglich. Da keine Antwort, folglich auch kein Widerspruch kam, beruhigte sich die Mutter einigermaßen, und sie entfernte sich schweigend.
Es verging nicht lange Zeit, da überraschte sie meinen älteren Schwager allein bei dem neuen Studium. Es war am frühen Morgen desselben Sommers. Der Berg in der Nähe unseres Hauses stand noch in düsterem Nebel. Ich befand mich zufällig im Hof und sah meine Mutter aus dem Hause kommen. Sie ging zum großen Tor hinaus. Ich folgte ihr. Sie machte einige Schritte an dem Gitter des Blumengartens entlang, der sich an dem Hause befand und blieb erstaunt stehen. »Wer steht dort?« sprach sie wie zu sich selbst – oder war es an mich gerichtet? Sie machte noch ein paar Schritte und sagte mit lauter Stimme: »Doch, doch, ich glaube David (mein älterer Schwager) ist es! Was tut er dort?«, rief sie aus und näherte sich rasch dem Winkel des Gartens, wo eine große alte Pappel stand. Sie hatte sich nicht geirrt: es war David. Mein Schwager hatte nur einen leichten Chalat (Schlafrock) an, dessen Gürtelenden lose übereinander geworfen waren, statt zu einer Schleife gebunden zu sein; seine Brust war entblößt, das Haar zerzaust, eine Peje (Ohrlocke) war ganz hinter das Ohr geraten, während die andere sich auf der Wange wie eine kleine Schlange bewegte; das schwarze Sammetkäppchen zeigte reichliche Spuren der Daunenkissen, die nackten Füße staken in den Pantoffeln. Der Morgennebel lag auf der vor Kälte und Nässe zitternden Gestalt. Die rechte Hand arbeitete kräftig, sie beseitigte die Rinde der Pappel und holte kleine Insekten heraus, die mein Schwager nicht ohne Ekel in ein Kästchen mit einem Glasdeckel warf. Der Anblick muß recht komisch gewesen sein, denn meine Mutter rief halb verwundert, halb belustigt: »Wos tust du do?«
»Gur nischt« (gar nichts), gab er lakonisch zur Antwort, ohne sich in seiner Arbeit stören zu lassen.
»Wos is do im Kästchen auf der Erd?« fragte die Mutter weiter.
»Gur nischt!« meinte der überraschte Naturforscher.
»Warum biste so früh do?« forschte meine Mutter.
»Früh! S'es gur nischt früh!« antwortete der junge Mann in der Hoffnung, sich so aus der Affaire zu ziehen. Aber das nützte nichts, denn die Mutter beugte sich über das Gitter und entdeckte nicht ohne Ärger auch ein Buch neben dem Kästchen. Nun begriff sie, daß beides einem und demselben Zwecke diente, und sie verwünschte im Stillen Dr. Lilienthal. Ein verzweifelter, vielsagender Seufzer entrang sich dem tiefbetrübten Herzen meiner armen Mutter. Sie blieb eine Weile starr, die Dinge vor sich anblickend. Dann wandte sie sich nach rechts und trat in den Garten. Der halbnackte Naturforscher erriet ihre Absichten und suchte rasch das Weite, indem er alles als Beute zurückließ. Bei der Flucht verlor er einen Schuh, die anderen notwendigen Kleidungsstücke hielt er mit beiden Händen fest. Meine Mutter näherte sich rasch der Pappel, blickte in das Kästchen und entdeckte darin zu ihrem unbeschreiblichen Erstaunen eine gewöhnliche Fliege, einen Maikäfer, ein Marienkäferchen (»Gottes Kühele«), eine Ameise, einen Holzwurm und noch viele andere Insekten auf Stecknadeln gespießt. Sie traute ihren Augen nicht, und ihr Achselzucken deutete mehr als gesprochene Worte es hätten tun können, auf die Frage hin: »Wozu braucht ein Mensch solches Gewürm?« Sie erschrak aber förmlich, als sie das Buch in die Hände nahm und darin neben den Erklärungen auch die Abbildungen von einigen Insekten erblickte. Der Zufall wollte es, daß ihr Blick auf einem »häuslichen Insekt« haften blieb, das gemütlich hingestreckt dalag – sie schüttelte sich vor Ekel. – Daß die jungen Leute Deutsch und Russisch lernen wollten, leuchtete ihr am Ende ein. Sie begriff schließlich das Vergnügen an Lektüre, sie selbst war in der hebräischen Literatur sehr belesen; allein, daß sich jemand und gar ihre Schwiegersöhne dafür interessierten, wie sich die Ameise fortbewegt, oder wieviele Füße der Maikäfer oder welche Augen ein grüner Wurm hat, das konnte sie nicht verstehen! Sie ergriff die Trophäen des am frühen Morgen gewonnenen Treffens und kehrte auf demselben Wege ins Haus zurück, den wenige Minuten vorher der flüchtige Held genommen und auf dem er den einen Schuh als Zeichen seiner Niederlage zurückgelassen hatte. Sie nahm auch den Schuh mit, brachte alles ins Speisezimmer und plazierte alles auf dem Fensterbrett. Inzwischen war mein Vater aufgestanden; als er von der Sache erfuhr, lachte er herzlich. —
Solche Szenen spielten sich nicht bloß in unserem Hause ab: alle anderen Genossen meiner Schwager hatten ähnliche oder noch größere Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten zu erdulden. – Meinem Schwager David waren solche Verfolgungen doch zu bunt geworden. Als man ihn einmal zum Mittagessen rief, meldete er sich krank, und er reiste noch an demselben Abend, ohne irgend jemand, selbst seiner Frau, etwas zu sagen, zu seinem Vater, der Rabbiner war, nach Semjatitcz, einem Städtchen in Polen. Dort hielt er sich einige Zeit auf; darüber freuten sich im Anfang meine Schwestern und meine Eltern, denn sie wußten ihn nun fern von der stetig anwachsenden Lilienthalschen Bewegung. Später hatte man große Mühe, ihn zur Rückkehr nach Brest zu bewegen.
Meine Schwager suchten nun nach Mitteln, solchen Szenen, wie ich sie oben geschildert habe, vorzubeugen, und sie wählten sich ein stilles Plätzchen, das zwischen den Hügeln, unserem Hause genügend fern, lag. Dort versammelten sich die Gesinnungsgenossen, um über manches Buch zu debattieren, Beschlüsse über die brennende Frage der Bildungsbestrebungen zu fassen. Trotz alles fleißigen Bemühens und einer ungewöhnlichen Wißbegierde unter dieser Jugend ging in der ersten Periode aus Brest doch keine einzige hervorragende Persönlichkeit hervor, obgleich wir den großen Verdiensten meiner Schwager und ihrer Zeitgenossen Gerechtigkeit widerfahren lassen und sie als Pioniere, die manche Wege ebneten, bezeichnen müssen: Hierdurch wurde der kommenden Generation die Möglichkeit zu studieren bedeutend erleichtert und manches Vorurteil beseitigt.
Die erwähnten drei jungen Leute waren wohl die ersten in Brest, welche ihre jugendkräftigen Hände nach dem Apfel der Erkenntnis, den ihnen Lilienthal reichte, ausstreckten und ihn mit Lust ergriffen. Mein älterer Schwager bemühte sich trotz seines großen Fleißes und aller Fähigkeiten vergeblich, die Stelle, wo er in den Apfel beißen sollte, zu finden – an seiner asiatischen Erziehung scheiterten alle europäischen Versuche. Er hätte mit seinen talmudischen Kenntnissen viel Höheres für sich und die Gesellschaft leisten können. Mein jüngerer Schwager konnte vom Apfel genießen und ward in kurzer Zeit ein nach damaligen Begriffen gebildeter Mann, während Reb Herschel, der Melamed, nach dem erwähnten Apfel der Erkenntnis seine plebejischen Hände ausstreckte, ihn ergriff und einen tiefen Biß tat.... Es dauerte nicht lange, so verwandelte er sich aus einem »Orler Menschen« in einen interessanten, gebildeten Herrn Hermann Blumberg. Mit einem Worte: die jüdische Jugend von Brest genoß von dem Apfel der Erkenntnis mehr oder weniger; aber ein jeder hat doch davon gekostet, und der Samen, den Dr. Lilienthal in Brest ausgestreut, hat je nach der Beschaffenheit des Bodens ansehnliche Früchte getragen. Die ersten Bildungspioniere in Brest beherrschten nur das erste Dezennium jener Epoche und waren zur kulturellen Unfruchtbarkeit verdammt, da sie leider, wie ich mich erinnern kann, sich als Muster unter den Weisen des alten Griechenlands Epikur und seine Ethik erwählt hatten....
Wenn aber Dr. Lilienthal so reiche Erfolge hatte, so geschah es nur, weil der geistige Boden in Rußland sehr gut vorbereitet war: Das jüdische Kind männlichen Geschlechtes (nicht aber die Mädchen) wurde damals von frühester Jugend an zum Lernen angehalten und später, im Knabenalter schon, mit scholastischem Gespinst, mit vielen talmudischen Spitzfindigkeiten und ernster Lebensanschauung bekannt gemacht. Da kein anderes Studium ablenkte, so konnte der jugendliche Schüler sich täglich dem Studium des Talmuds ganz hingeben. Unterhaltung fand er auch nur zu Hause im Familienkreise (daher auch die Anhänglichkeit), sowie in dem bescheidenen Familienleben seiner Kameraden. Die zahllosen Vergnügungen von heute kannte die damalige Jugend nicht. Und so war damals der Jude schon in seinem Jünglingsalter in geistiger Hinsicht ein ganzer, wenn auch einseitiger Mensch. Mit Leib und Seele hing er an seiner Tradition und seiner Religion, die für ihn die Moral, die Ethik – die ganze Welt in sich schlossen. Seine Bibel bot ihm hinreichendes Wissen in der Weltgeschichte bis zum grauen Altertum hinauf und bis zu der christlichen Aera herunter; seine Propheten adelten seinen Geist, ergötzten seine Seele, verliehen ihr Schwung, erfüllten sie mit Begeisterung, und der Stolz des Kindes und so auch des jüdischen Mannes, das Selbstbewußtsein, faßte schon in seiner Jugend Wurzel – was die Andersgläubigen mit Dünkel und Frechheit zu bezeichnen pflegen. Die Ethik der jüdischen Weisen, ihre kernige und zugleich erhabene Lebensanschauung machten den damaligen Juden frühzeitig zum Denker und Philosophen, der auch die Schönheit in seiner Religion fand. Das jüdische Volk lebte damals wie auf einer Insel, fern von der übrigen Welt, aber nicht wild wie die Insulaner. Es war hier auf der Insel glücklich, wo es für sich allein die Welt des Geistigen besaß: seinen Glauben, seine Tradition, die ihm allen Genuß im zeitlichen Leben gewährte. Und die Hoffnung auf ein künftiges Leben ließ ihn die Leiden des gegenwärtigen ertragen. Aus diesem geistigen Reich konnte ihn keine menschliche Macht verjagen. Hier war er Herr und Meister.
Die Sturm- und Drangperiode des damaligen jüdischen Jünglings vollzog sich auf der Schulbank. Keine Revolution, keine Liebesabenteuer rissen ihn von seinem beschaulichen Wege fort; auch das Geschäft nicht, denn es galt den Eltern als heilige Pflicht, für den Sohn bis weit über die Jünglingsjahre, selbst nachdem er schon Ehemann und Familienvater war, zu sorgen, da es höchstes Glück war, wenn der junge Ehemann ununterbrochen den Talmud studierte. Unter diesem Gesichtspunkte wählten wohlhabende Leute für ihre Töchter und ihre Söhne: die Braut mußte vor allem hübsch von Gestalt, klug und gesittet sein. In erster Reihe aber eine »Bas towim«, d. h. die Tochter eines gelehrten und religiösen Mannes. Ich kann beteuern, daß die Wahl der Eltern, die nicht von dem Gott Mammon beirrt war, selten ein Fehlgriff war. Im großen und ganzen gab es damals, wie ich mich zu entsinnen weiß, viele sehr glückliche Ehen, in denen die Sittlichkeit der jungen Eheleute dem Bunde Weihe verlieh und für immer die Treue sicherte. Keine Enttäuschungen, keine Übersättigung, kein Hasten nach Veränderung störten die Eintracht des Paares, und der wahre göttliche Funke der Liebe nährte die heilige Flamme auf dem häuslichen Herd, die Flamme, die kein Sturm im Leben auszulöschen vermochte. Und in den trüben Tagen des Herbstes oder gar in den kalten, kurzen, einsamen Wintertagen – im hohen Alter, wenn das Feuer längst ausgebrannt ist, wärmt und erhält dieser unter der Asche noch glimmende Funke die oft frierende Seele.
Wenn an diesem geheiligten Eheleben die Aufklärung rüttelte und manches kostbare Gut zerbrach, so vergesse man nicht, daß das zu starke Licht der europäischen Bildung zu schnell ohne die milde Vermittlung der Dämmerung hereinbrach und die verblüffte Jugend blendete. Waren doch die ersten Adepten der Bildung schon gereifte Männer, die bis zu diesem Augenblick ein fast asketisches Leben geführt hatten. —
II.
Jeschiwa Bochurim. 18
Die Jeschiwa-Bochurim bildeten gegen Ende der dreißiger Jahre das lernende Proletariat in Brest, wie in ganz Litauen. Ihre religiöse und geistige Erziehung war systematisch geregelt. Die jüdische Gesellschaft trug unter Aufwand von vielen Kosten dafür Sorge. Dagegen blieb ihre körperliche Pflege ganz problematisch, weshalb schwächliches, verkümmertes Aussehen für den Jeschiwa-Bocher charakteristisch war. Sie waren in ihrer täglichen Nahrung, ihrer Kleidung und ihrem Obdach ganz auf den glücklichen Zufall und auf die Gnade der Mitbürger angewiesen. Es wurde ihnen im besten Falle Mittagessen verabreicht, aber auch das nicht an jedem Tag der Woche. Für die anderen Mahlzeiten sorgte der, »welcher den Sperlingen in der Luft die Nahrung spendet«. Ihr Obdach fanden sie in den Bothemidroschim, die Lehrhäuser und Synagogen zugleich waren. Auf den harten Holzbänken, die Fäuste unter dem Kopf, schliefen sie im Sommer und in der Nähe des geheizten Ofens im Winter den Schlaf des Gerechten. Ihre Kleidung erhielten sie von mildtätigen Bürgern stets zu unrechter Zeit: zu Beginn des Sommers wattierte Winterkleider, im Spätherbst sommerliche Kleider und Stiefel. So froren sie im Winter und schwitzten doppelt soviel wie die Reichen im Sommer. Auf diese Weise fristeten sie ihr Dasein jahrein, jahraus, mit Eifer und Ausdauer ihren Talmud studierend, bis zu ihrem 20. Lebensjahr. Dann heirateten sie, mitunter sehr günstig, denn sie wurden von den reichen Bürgern geehrt und begehrt, da sie im Volke als gute Talmudisten und ehrenwerte, fromme Menschen galten.
Diese Bochurim pflegte man ihren rabbinischen Kenntnissen nach in drei Klassen einzuteilen. In meinem Elternhause erhielt jeden Tag ein anderer Angehöriger dieser drei Klassen das Mittagmahl. Der älteste von ihnen hieß mit dem Eigennamen Schamele, er gehörte schon als tüchtiger Talmudist zu den Jeschiwa-Bochurim, der höchsten dritten Klasse. Das war ein ruhiger, pfiffiger, aber schwerfälliger, blonder Junge mit gutmütigen, blauen Augen. Er trug Sommer und Winter ein und denselben langschößigen, an den Ellbogen zerrissenen Kaftan. Der zweite Bocher zählte zu den Orem-Bocherim, da er den Unterricht in der Bibel und in den leichteren Talmudteilen von den städtischen Melamdonim, und zum Teil von den gesetzkundigen, jungen und alten Talmudisten in den Bothemidroschim erhielt. Er hieß Fischele und bildete den leibhaftigen Gegensatz zu dem Schamele, denn er war beweglich, schwarzäugig, und schien immer aufgeregt und somit den Spitznamen Fischele zu rechtfertigen. Der dritte hieß Motele, er gehörte der jüngsten, niedersten Klasse an und war Wanderbocher. Das war ein von Natur stiller, bedachter, ruhig räsonnierender Jüngling, der richtige Typus des Wanderbochers.
Die meisten dieser Jünglinge kamen aus den Städtchen und Dörfern der Umgebung nach Brest, um dort zu lernen. Sie besaßen viel Mutterwitz, waren ruhig und verrichteten jeden Dienst in den Häusern, in denen sie ihr Mittagbrot bekamen. Sie waren vorzüglich geeignet, in der geistigen Gärungsperiode der Lilienthalschen Bewegung die Korrespondenz und die aufklärerischen (apikurssischen) Bücher zu den jungen Leuten in die Stadt zu bringen.
Man konnte oft den einen oder anderen von ihnen in der Dämmerstunde, wie eine Katze spähend, sich leise in unseren Hof mit einem Packet dieser geistigen »Kontrebande« schleichen und direkt auf der zum Studierzimmer meiner Schwager führenden Treppe in der Dunkelheit des Vorabends verschwinden sehen. Hätte das wachsame Auge meiner Mutter sie erblickt, so wäre es ihnen böse ergangen; an dem Tage wären sie bei uns sicher nicht satt geworden.
Fischele hatte sich allmählich als Autodidakt zu einem sehr guten Pädagogen ausgebildet. Er pflegte halb scherzhaft, halb im Ernst zu bitten, man soll ihm helfen: aus einem Orembocher ein Oremmann (armer Mann) zu werden. Bald heiratete er ein braves Mädchen und fand als gebildeter Mann in der höheren, jüdischen Gesellschaft eine gute Aufnahme. Dagegen hat Schamele, wie wir später erfahren haben, sein Leben nicht an großen Talmudfolianten beschlossen.
Die Lilienthalsche Bewegung hatte eben selbst in den orthodoxen Kreisen des niederen, jüdischen Volkes tiefe Spuren hinterlassen, und die Jugend auf neue Bahnen gelenkt. Schon nach einem Dezennium sah man die meisten Kinder des niederen Volkes, wie auch der Handwerker auf den Schulbänken, und die europäische Bildung wurde Gemeingut der jüdischen Bevölkerung. Die gemeinsame Bildung bewirkte eine Verschmelzung, eine Gleichstellung von Patriziern und niederen Leuten. Der Fachmann, der Arzt, der Advokat usw. trat an die Stelle des traditionellen Mijuches (Aristokratie).
Indes hörte das althergebrachte Studium des Talmuds nicht auf, es wurde nur in ganz anderer Weise hochgeschätzt; und Ende der sechziger Jahre fand ich in demselben Lande die früher geschilderten drei Bochurim von ganz anderem Aussehen. Ihr Aeußeres ließ Ende der sechziger Jahre wenig zu wünschen übrig. Ein jeder dieser Bochurim konnte bereits russisch lesen und schreiben, hatte einen Begriff von der Weltgeschichte. Aber er blieb seiner alten Religion treu und hatte volles Vertrauen zu Gott, daß eine bessere Zeit für sein Volk kommen werde. Aus der Mitte dieses lernenden Proletariats wuchsen die Rabbiner für die kleinen litauischen Städtchen heraus, sowie die Dajanim (Volksrichter) und die More horoes (Gesetzeskundigen), welche über Trefe und Koscher und rituell-hygienische Fragen zu entscheiden hatten, ferner die Magidim (Volksprediger), die Schochtim (Vieh- und Geflügelschächter), die Chasonim (Kantoren) und endlich die Batlonim, arme Talmudisten jeden Alters, welche man bei frohen oder traurigen Ereignissen Psalmen, Hymnen oder Mischnajis aus dem Talmud rezitieren oder bei einem Toten Tag und Nacht lesen lässt.
Aus einem Orembocher wurde zumeist ein Melamed, der aber vorher noch als Oberbehelfer in einem Cheder (Schule für kleine Kinder) einige Jahre als Repetitor fungieren mußte.
Von allen diesen Funktionären sonderte sich ein kleiner Bruchteil, der sich Pruschim (Abgesonderte) nannte, junge und alte Männer, deren einziger Lebenszweck war, sich ungestört mit Leib und Seele den Talmudstudien hinzugeben. Sie verbrachten, getrennt von Weib und Kind – ihrer Heimat und der Welt fern – ihr ganzes Leben damit, alle Feinheiten dieser Lehre, alle Spitzfindigkeiten der Scholastik zu ergründen und mit anderen über die verschiedenen Auslegungen zu diskutieren. Diese Asketen lebten im Krähwinkel Eschischok im Wilnaer Gouvernement lediglich von der Mildtätigkeit der Bürger, vornehmlich von der Güte der braven Frauen, die ihnen Speis und Trank in die Lehrhäuser schickten, was sie als heilige Pflicht und als gottgefälliges Werk betrachteten. Eine solche Frau besaß kaum 50 Rubel im Vermögen, womit sie Handel trieb, und ihre Kinder wie ihren Mann ernährte, der gleichfalls Tag und Nacht dem Talmudstudium als dem einzigen Zwecke seines Lebens opferte. Das mächtige Wort Talmud-Thora, d. h. die Lehre des Talmuds befördern, »lernen«, stand damals bei dem ganzen jüdischen Volke, wie heute leider nur noch bei einem sehr, sehr geringen Teil, auf der gleichen Stufe mit den eigenen, wirtschaftlichen Sorgen.
Der Typus des Wanderbochers bot freilich das stärkste Interesse. Er hatte das Geblüt des Famulus Wagner: stets dürstete er danach, Neues zu lernen. Solch ein Wanderbocher pflegte, notdürftig bekleidet, zu Fuß von einer Kartzma (Herberge) zur anderen auf der großen Landstraße zu gehen, in jener guten alten Zeit der 40er und 50er Jahre, ehe es Eisenbahnen in Rußland gab. Manchmal gelang es ihm, sich auf eine »Baued« (ein- oder zweispänniges Fuhrwerk, das von einer über Reifen gespannten Leinwand bedeckt war) »heraufzuchappen«, wo der jüdische Fuhrmann ihm willig auf dem Bock die Hälfte seines Platzes einräumte. In der Baued selbst, unter der Leinwanddecke, befand sich ein sehr gemütliches Publikum jeglichen Alters, Standes und Stammes. Das Fuhrwerk bewegte sich langsam vorwärts, da die hungrigen, übermüdeten Pferde nur schwach ziehen konnten. Die Passagiere hatten daher Zeit, gemütlich zu plaudern, und der halberfrorene Wanderbocher hörte diese wahren und erdichteten Erzählungen mit gespannter Aufmerksamkeit an und nahm alles in sich auf. Wieviel Romantik schloß eine solche Reise für ein junges, empfängliches Gemüt in sich! Sie machte grüblerisch und versonnen.
Aus einem solchen Wanderbocher pflegte sich in der Regel ein Maggid zu entwickeln. In seinen Kinderjahren hatte er in seiner einheimischen Talmud-Thora gelernt, einer jüdischen Volksschule, wie sie von jeder größeren Gemeinde unterhalten wurde. Arme Kinder und hauptsächlich Waisen wurden dort schon mit acht Jahren aufgenommen, um Unterricht in der hebräischen Sprache, im Beten und in der heiligen Schrift zu erhalten. Aus dieser Schule entsprangen die oben geschilderten drei Arten Bocherim. In seinen Jünglingsjahren begann so mancher das Wanderleben. Nachdem er als Orembocher den Unterricht schon im Talmudstudium erhalten hatte, zog er in die nächste Jeschiwa, wo für seine weitere Ausbildung, für Wohnung und Kleidung unentgeltlich gesorgt war. Denn auch für diese Anstalten spendeten die Juden aus allen Gegenden viel Geld. Er blieb solange da, als er wollte. Niemand hinderte ihn aber, eine zweite Lehranstalt aufzusuchen, wenn es ihn drängte, noch andere Lehrer zu hören, andere Satzungen und Kommentare kennen zu lernen, denn unerforschlich wie der Meeresgrund ist die talmudische Wissenschaft, meinte der Jude von damals. An dem neuen Orte lernte er andere Menschen, Sitten und Gebräuche kennen. Der Weg dahin war weder sehr weit, noch sehr beschwerlich, während des Sommers konnte er ja notdürftig bekleidet und barfuß gehen, wenn ihm nicht manchmal ein glücklicher Zufall in Gestalt eines Fuhrmanns zu Hilfe kam und ihn zu einer Herberge brachte. Da erholte er sich bei dem jüdischen Arendar (Pächter) im Dorfe einige Zeit, hörte von den verschiedenen Besuchern der Schänke abenteuerliche Geschichten, Wahrheit und Dichtung, erzählen und zog, um manche Erfahrung reicher, von dannen.
Diese drei Arten von Bochurim kann man mit Recht als die Ritter vom Geiste betrachten. Ihr Lebelang hatten sie mit Not, Hunger zu kämpfen und – sie unterlagen nicht.
Die tiefe Kenntnis des Volkslebens, seiner Not und seiner Freuden, seiner Sitten und Gewohnheiten, vor allem seines Vorstellungskreises praedestinierten den Wanderbocher gerade zu einem Maggid, und sie erklärt auch, weshalb der Volksprediger von dem niederen, jüdischen Volk verehrt, ja geliebt wird, und so machtvollen Einfluß ausüben kann.
Unter ihnen gab es hervorragende Erscheinungen, wie z. B. Ende der 40er Jahre der Minsker Magid R. N. K., und der 70er Jahre der Kelmener Magid R. N. Der erstere war ein hervorragender Talmudist und von strengstem Charakter und hielt jedem die Wahrheit vor; der letztere war milder, weltlicher.
Aber sie blieben Wandersleute, die jeden Sabbath in einer anderen Stadt predigten. Sie waren nicht reich und meist auf die Gastfreundschaft angewiesen. Not brauchten sie da nicht zu leiden, ist es doch eines der wichtigsten Grundsätze, daß jeder wohlhabende Balhabajis (Hausherr) an einem Sabbathtisch einen Gast zu sich lade. Diese Gäste fanden sich gewöhnlich Freitag, am Vorabend des Sabbathfestes ein, an dem alle Arbeit und auch das Wandern ruht. Die Mäßigkeit im Essen und Trinken während der ganzen Woche weicht üppigem Geniessen. Da ein solcher Gast eilig und spät abends in einem Ort, wo Juden wohnen, eintrifft und keine Zeit hat, nach einer Herberge zu suchen, so richtet er seine ersten Schritte zur Synagoge, um zu beten. Die Pflicht des Schammes (Synagogendieners) ist es, diese wegen ihrer Neuigkeiten gern gesehenen Fremdlinge für den Sabbath den Bürgern der Stadt zuzuteilen. Nun geschah es einmal, daß der erwähnte Minsker Magid in ein Städtchen kam, um da am Sonnabend zu darschenen (predigen). Er traf am Vorabend, Freitag spät ein, nahm den Weg zur Synagoge, wo die jüdische Gemeinde bereits sabbathlich ruhig und reinlich – manche noch mit nassem Haar von der Badestube her – zum Beten versammelt war. Der Magid betete mit und war fest überzeugt, daß nach Beendigung des Gottesdienstes auch er ein Plät19 (Einladung) erhalten würde. Aber wie groß war sein Erstaunen, ja sein Schreck, als er bemerkte, daß alle anderen Fremdlinge unter die Bürger verteilt wurden und nur er übersehen worden war.
Alle Bürger standen bereits eng aneinander gedrückt wie Schafe an der kleinen, schmalen Ausgangstür. Er sah sich bald ganz allein im Bethaus, ohne Nahrung und ohne Kidusch. Seine verzweifelte Lage flößte ihm Mut ein. Er sprang hurtig auf die »Bieme« (die in der Synagoge befindliche Erhöhung), klopfte energisch mit der Faust auf ein großes Gebetbuch und rief laut: »Raboissai (Meine Herrschaften)! Wartet, bleibt, ich will euch etwas Interessantes erzählen!« Im Nu wandten sich die Köpfe dem Sprecher zu – sie hatten ihn früher nicht bemerkt. »Ich bin ein Oirach« (Gast), fing er an, »vor Abend hier eingetroffen und wie ich sehe, sind die hiesigen Hunde gastfreundlicher als die hiesigen Balbatim (Hausherren)!«
Diese Worte hatten natürlich die gewünschte Wirkung. Alle waren im ersten Augenblick stumm vor Erstaunen. Und er fuhr fort: »Ich werde euch erzählen, höret: Als ich mich spät vor Abend dem Städtchen näherte, empfingen mich viele Hunde mit lebhaftem Gebell. Jeder riß mich zu sich, jeder wollte mich für sich allein haben. Hier aber sind viel mehr Menschen als dort Hunde versammelt, und niemand fällt es ein, mich zu sich zu laden, geschweige, sich um mich zu reißen.« Diese Worte brachten die Menge in Wut, und einer von der Versammlung trat hervor und schrie: »Wer ist dieser Mensch, daß er sich untersteht, uns mit Hunden zu vergleichen? Woher bist du gekommen, Elender?« Ein reich gefülltes Maß an nicht gerade duftigen Liebesworten ergoß sich über den Magid. Der aber blieb die Antwort auch nicht schuldig, er rief: »Wartet, wartet nur ein wenig, hört nur bis zu Ende, ich bitte sehr.« Alle wurden wieder still. »Ich bin noch nicht zu Ende. Als die Zudringlichkeit der Hunde mir ein wenig unbequem wurde, beugte ich mich zur Erde, griff nach einem Stein und schleuderte ihn mitten unter die Meute, das wirkte im ersten Augenblick sehr gut. Der Eifer, mich zu besitzen, wich, und die Hunde suchten das Weite. Nur wußte ich anfangs nicht, welche von ihnen mein Stein getroffen hätte, bald aber sah und hörte ich, wie ein Hund rasch, aber auf einem Fuß hinkend und jämmerlich heulend, mit der übrigen Gesellschaft die Flucht ergriff. Nun begriff ich, daß mein Stein ihn getroffen hatte.«
Diese Worte regten die Gemeinde noch mehr auf. Man drang in den Redner, seinen Namen zu nennen, und die Versammelten waren nicht wenig beschämt, in ihm den berühmten Magid zu erkennen und suchten durch freundliche, ehrerbietige Behandlung alles gut zu machen. Am Sonnabend nachmittag predigte er in der Synagoge vor der ganzen, versammelten Gemeinde, welche mit Vergnügen und Andacht der Rede dieses frommen Mannes lauschte. Er tadelte so manches, verkündete für manche Sünde die Hölle, und das Volk weinte. Zugleich versprach er für die guten Taten das Paradies in dieser Welt, wie im künftigen Leben, und das Volk jubelte, da er mit so großem Wissen die Herzen rührte und die edelsten Regungen hervorzurufen verstand. Er mahnte auch in freundlicher Absicht zur Ehrlichkeit im Handel, riet, gutes Maß und Gewicht zu geben, empfahl den Handwerkern Fleiß, tadelte dagegen Faulheit und Hochmut, wobei er sehr gute Volkswitze erzählte, und forderte das Volk auf, den Sabbath zu ehren, Gott für diese Gabe zu danken, da an diesem Tage jeder Jude frei von Sorge ausruhen, sich dem geistigen Genuß ergeben, sich Gott, seinem Schöpfer, nähern könne, was er die ganze Woche über durch Arbeit und Sorge zu tun verhindert sei....