Kitabı oku: «Die ausgegrabene Demokratie», sayfa 2

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VON DER PNYX HINUNTER

Gehen wir also hinunter in die »illustre Stadt« – τὸ κλεινόν ἄστυ (tò kleinòn ásty) –, begeben wir uns auf die Suche nach den Spuren der Demokratie, auf die Suche nach den Kohlen des antiken Feuers, das zu Füßen dieser Berge brannte und bis heute nicht erlöschen will. Auf dem Weg hinunter zum Areopag grüße ich von Weitem einen Unbekannten, dem ich hier häufig begegne, und da kommt mir ein weiterer kurioser Gedanke. In seinem Entwurf für eine neue Ordnung, die alle Bürger in Entscheidungen einbezog, schloss Solon die unteren Schichten von allen Ämtern aus. Dies mag uns heute als eine Ungleichbehandlung erscheinen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass seine mutigen Gesetze ein riskanter Pakt waren, um in Zeiten schwerer Gefahr eine Versöhnung herbeizuführen. Indem Solon diese Beschränkung hinnahm – die den Armen nichts raubte, was sie besessen hatten –, gelang ihm ein großer Durchbruch. Er verschaffte allen Bürgern etwas höchst Bedeutendes: das Rederecht.

Den meisten Menschen, die in den ersten Volksversammlungen Platz nahmen, muss es wie ein Traum aus der Zeit der homerischen Helden erschienen sein, der legendären Zeit, in der sich der demütige Thersites – auch auf die Gefahr hin, sich einen Tadel einzuhandeln – erheben und das Wort ergreifen konnte, um dem König zu widersprechen;11 in der sich Nestor nach dem Festmahl an Agamemnon wenden und in aller Deutlichkeit sagen konnte: »Darum musst du mehr als andere ein Wort sagen und auch darauf hören. Und es auch einem anderen vollenden, wenn einem der Mut heißt, dass er zum Guten spricht.«12

In Sparta war der höchste Ausdruck individueller Willensbekundung ein Schrei, wenn bei den Wahlen zum Richter der Name des vorgeschlagenen Kandidaten ertönte. Ernannt wurde derjenige, der den größten Jubel auf sich zog. Hier in Athen hingegen hatte seit Solon jeder Bürger eine Stimme und damit die Möglichkeit, in einer öffentlichen Rede seine Argumente vorzutragen, mit eigenen Worten. Später, als die Demokratie immer weniger Chimäre war, legte Euripides dem Theseus, Athens großem Helden, auf dass es alle bis hinauf zu den oberen Rängen hörten, Folgendes in den Mund: »›Wer will den Bürgern guten Rat verkündigen?‹ Und hochgeehrt ist, wer es will; wer aber nicht, der schweigt. Wo wäre gleicheres Recht in einem Staat.«13 Die Isegoria – die Gleichheit beim Gebrauch des Worts – kam also vor der Isopoliteia – der Gleichheit bei politischen Rechten – und ebenfalls vor der Isonomia – der Gleichheit vor dem Gesetz. Oder anders ausgedrückt: Der lange Weg der Athener zur Demokratie führte über den Gebrauch des gesprochenen Wortes.

So entscheidend die Isegoria auch war: Sie war lediglich ein Recht; um den Bestand der Demokratie zu gewährleisten, reichte ein Recht nicht aus, es bedurfte auch einer Tugend: der des Mutes, die Wahrheit auszusprechen. Diese Tugend hieß Parrhesia. Vier Sätze bewahren im Gedächtnis, was dieser Begriff für die Demokratie bedeutete. Spärliche Fragmente von Euripides, Isokrates, Demosthenes und Polybios14 weisen auf eine Tugend hin, die nur spärlich verbreitet war. Parrhesia bedeutet nicht nur Ehrlichkeit, sondern auch Mut: den Mut, sich einer bequemen Lüge zu verweigern, das Schweigen zu brechen, einen Betrug aufzudecken. Wissen allein genügt nicht, man muss auch Verantwortung übernehmen, etwas riskieren. Kenntnis von etwas zu nehmen allein genügt nicht, man muss auch handeln. Parrhesia ist eine aktive Beziehung zur Wahrheit. Ohne Parrhesia ist die Isegoria nur eine leere Hülse. Sind unserer heutigen Demokratien geprägt von Parrhesia?

SIE und WIR. Wenn es einen Punkt gibt, der plastisch vor Augen führt, was die antike Athenische Demokratie von der heutigen unterscheidet, dann ist es dieser Gegensatz. Ein Bürger der Antike hätte ihn gar nicht verstanden. Selbst wenn er von der Politik der Stadt enttäuscht war, so empfand er sich doch als ein Teil von ihr. Er hätte immer nur von einem Wir gesprochen.

Heute hingegen sehen wir Bürger uns mit IHNEN konfrontiert, mit der Politik von IHNEN. In den vergangenen vier Jahren hat es in Griechenland mehrere Generalstreiks und über zweitausend Demonstrationen gegen die Politik der Regierung gegeben, die meisten dort unten, auf den Straßen Athens. Und trotzdem ist die Politik keinen Millimeter von ihrer Linie abgewichen. Millionen von Menschen haben ihre Arbeit verloren, ihre Sozialleistungen, ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit, ihre Entwicklungsmöglichkeit, ihren Lebensentwurf, viele sogar ihr Haus und ihr Leben; während SIE dem kein Gehör schenkten und die Bürger stattdessen sogar mit Tränengas beschossen, wenn diese auf die Straße gingen, um sich nicht zu Komplizen des Missbrauchs und der Ungerechtigkeit zu machen, wenn sie ein Ende der Opfer forderten, ein Verbot der rätselhaften, in ihrem Namen unterzeichneten Vereinbarungen, wenn sie Rechenschaft verlangten von den straffrei ausgehenden Politikern, mehr Wahrheit, weniger Heimlichkeit, weniger Buckeln vor der Finanzwelt, weniger Fraktionszwang bei Abstimmungen und mehr Loyalität gegenüber dem souveränen Volk; während sie versuchten, sich bei IHNEN Gehör zu verschaffen, gingen draußen auf der Straße die Müllcontainer und drinnen im Parlament die Errungenschaften der Demokratie in Flammen auf. Trotz dieser Proteste hat es in all diesen Jahren kein einziges Referendum gegeben, keine Volksbefragung, keinen Dialog außerhalb der Parteien, kein offenes Ohr, keinen Gesetzesantrag seitens der Bürger.15

Dabei darf man nicht aus dem Blick verlieren, dass in der Antike die Demokratie viele Skeptiker hatte und permanent in Frage gestellt wurde. Als der Begriff in der Epoche der amerikanischen und französischen Revolution wiederauftauchte, hatte die Idee etwas Subversives und weckte den Argwohn der etablierten Macht. Kurioserweise besitzt der Begriff »Demokratie« heute durchweg eine positive Konnotation. Fast alle Länder dieser Welt, von den Vereinigten Staaten bis zur Demokratischen Republik Kongo, bezeichnen sich als demokratische Staaten. Dennoch ist die Idee, die Macht sollte vom Volk ausgeübt werden – wie es hier, in seinen athenischen Anfängen tatsächlich der Fall war –, nach wie vor radikal und revolutionär. Heutzutage sind wir alle Demokraten, gibt es nur noch Demokratien … Kann es sein, dass das derzeitige Establishment tatsächlich demokratisch geworden ist? Oder leben wir in einer Fiktion, einer Inszenierung?

Wenn wir näher betrachten, was gerade passiert, dürfen wir mit Fug und Recht behaupten, dass die derzeitige Demokratie das Wahlsystem und den altehrwürdigen Namen nur benutzt, um die Interessen einer Oligarchie zu legitimieren. Dieser gigantische Schwindel, die Nichtbeteiligung der Bürger, das stillschweigende Kultivieren von Politikverdrossenheit, die verworrenen Strukturen der Repräsentation, die Mechanik der Parteien, die durchgesetzten Interessen, die Macht der Lobbygruppen, die offenkundigen Ungerechtigkeiten und vor allem die wachsende Kluft zwischen IHNEN und UNS lassen nur einen Schluss zu: dass unsere modernen Demokratien nicht, wie es heißt, eine realistische, an die Gegenwart angepasste Version der Athenischen Demokratie der Antike sind. Nein. Sie sind ihre Negation.

AUF DEM FELSEN DES AREOPAGS

Das Kino Thiseio an der Apostolou-Pavlou-Straße rühmt sich, das »beste Freilichtkino der Welt« zu sein, weil man auf seinem begrünten Hof nicht nur den Film sieht, sondern auch die beleuchtete Akropolis. Dem Kino gegenüber – benannt wie auch das ganze Stadtviertel zu Ehren des mythischen Athener Helden Theseus – führt ein Kiesweg den Hügel hinauf und verliert sich zwischen Felsen. In vorgriechischen Zeiten, also vor etwa dreitausendsechshundert Jahren, hießen alle Bewohner dieser Gegend Kranaoi, »Felsenbewohner« …

Von den Felsen der Pnyx wechsle ich hinüber zu den Felsen des Areopags, steige einen Hang hinauf, auf dem kleine Pinien sich an den Boden klammern wie einst Laokoon und seine Söhne bei ihrem Kampf gegen den Wind. Bei Plutarch16 heißt es, in dieser Senke zwischen Areopag, Pnyx und Musenhügel habe Theseus gegen die Amazonen gekämpft. Es war die erste Schlacht, die Athen gegen einen ausländischen Feind führte, für immer festgehalten dort oben auf dem heiligen Felsen, auf dem chryselephantinen Schild der Athene, auf dem Giebel des Niketempels und auf allen Metopen des Parthenon, die in diese Richtung zeigen.

Für die Athener, die diese sorgfältig gearbeiteten Reliefs anfertigten, war in gewisser Weise Theseus der Gründer der Stadt, schließlich hatte er alle Völker Attikas zu einem großen Synoikismos um den Felsen der Akropolis versammelt und so eine neue Stadt gegründet, die seither nicht mehr Kekropia hieß – wie König Kekrops sie zu seiner eigenen Ehre benannt hatte –, sondern Athen – ursprünglich Athēnai, also Plural, wie es sich für einen Synoikismos gehört –, zu Ehren der Göttin Athene. Theseus ließ zum ersten Mal ein Fest feiern, das alle Athener vereinigte – die Panathenäen –, führte den Kult der Aphrodite Pandemos ein, um die Ehen zwischen Mitgliedern der verschiedenen Stämme zu segnen, und teilte die Völker in Adlige, Bauern und Handwerker auf. In der athenischen Mythologie war Theseus aber noch viel mehr: Er war der Gründer des Demos und der Demokratie.17

Es war dieser starke Wunsch nach Teilhabe an der Macht, der die Athener von allen anderen Völkern unterschied, der sie zur Erfindung ihres revolutionären Systems antrieb, der möglich machte, dass die Souveränität von den alten Königen und dem von Kekrops ins Leben gerufenen Rat der Adligen auf ein gut organisiertes und seiner Würde bewusstes Volk überging, das bereit war, die Herrschaft auszuüben. Diese Übertragung der Souveränität, begonnen in der Zeit, als die Helden – wie im Falle Theseus’ – noch mit den Göttern verwandt waren –, glückte nicht sofort: Sie zog sich lange hin: sechs Jahrhunderte Monarchie, drei Jahrhunderte Triumvirate auf Lebenszeit, ein Jahrhundert Triumvirate mit zehnjähriger Amtszeit, eine lange Abfolge von Archonten mit einjähriger Amtszeit, eingebettet in eine auf Abstammung und Reichtum basierende Oligarchie, und eine Reihe von Tyrannen, selbsternannten »Beschützern des Volkes«, die bis zu Solon reichte und trotz der von ihm eingeführten Institutionen und Gesetze noch viele Jahre fortbestand. Theseus mag als der große Einiger erscheinen, tatsächlich aber war die Demokratie eine hart erkämpfte Errungenschaft der Athener und kein Geschenk irgendeines Königs.

Gegenüber, auf dem heiligen Felsen der Akropolis, liegt, hinter dem wilden Flug der Schwalben, die Höhle, in der lange vor Theseus’ Zeit Apollon Krëusa traf, die Tochter des Erechtheus, und mit ihr Ion zeugte, den Stammvater der Ionier. Das Gefühl der Athener, ein alteingesessenes Volk zu sein, geboren auf diesen Felsen, und keine hier nur geduldeten Fremden, war sehr wahrscheinlich einer der Gründe für ihren Wunsch, sich selbst zu regieren. Daneben muss es natürlich noch andere Gründe gegeben haben. Einer war vielleicht der, dass die Macht nicht an eine Priesterkaste geknüpft war: Die Priester dieser dogmenfreien Religion waren selbst Bürger, gewählt, um ein Amt auszuüben und dem Gemeinwesen zu dienen. Ein weiterer Grund war vermutlich der Einfluss der ionischen und athenischen Philosophie, die in Frage zu stellen wagte, dass die Götter der Anfang aller Dinge waren. Damit wurde deren angeblichen Vertretern auf Erden von vorneherein die Macht entzogen, die sie vermutlich durchaus angestrebt hatten, und stattdessen nach den Kriterien der Vernunft übertragen. Und ein weiterer, sehr wichtiger Grund dafür, dass die Souveränität vom Volk ausging, war die Tatsache, dass Griechenland eine Seemacht war und als solche auf das Volk angewiesen. Die Bedeutung der Flotte für die Verteidigung verschob die Balance weg von den aristokratischen Reitern und hin zu den wenig begüterten Hopliten. Wenn also die Hopliten nach einem harten Feldzug, bei dem sie ihr Leben für die Stadt riskiert hatten, als bewaffnete Bürger auf ihren Schiffen zurückkehrten, konnte man ihnen in der Volksversammlung nur schwerlich Sitz und Stimme verweigern. Zu Recht stellte Aristoteles fest,18 dass im Landesinneren die Menschen sehr dem Boden verhaftet seien und ihr Gedeihen von dessen Bewirtschaftung abhänge und sie folglich den wenigen, eifersüchtig darüber wachenden Besitzern und Erben ausgeliefert seien, wohingegen Städte am Meer, die beim Aufbau einer Seestreitmacht auf das Volk angewiesen seien, viel eher dazu neigten, eine Demokratie hervorzubringen.

In der Abenddämmerung steht weiß der Mond über der kleinen Anhöhe, die die Pnyx vom Musenhügel trennt. In seinem Licht tritt schimmernd hervor die bläuliche Linie des Meers.

HINUNTER NACH THISEIO

Unter dem letzten Zirpen der Grillen steige ich den Hang des Areopags wieder hinunter zum Stadtviertel Thiseio. Die tief stehende Sonne ergießt sich wie ätherische Lava zwischen die Pinien und entflammt Gräser und Felsen. Kurioserweise sind die Straßen Thiseios heute benannt nach jenen alten Königen der Bronzezeit: Aktaios, dem ersten König überhaupt, der über die Felsen der Küste herrschte; Amphiktyon, dem Nachfolger Kekrops’; Demophon und Akamas, den Söhnen des Theseus; den Herakliden, die Attika für die Dorier hatten erobern wollen; und dem Geschlecht des Neleus, das bis zur Opferung Kondros’, des letzten Monarchen, dafür kämpfte, dass Attika ionisch blieb.

Es mag durchaus normal erscheinen, dass nur spärliche Informationen aus diesem fernen zweiten Jahrtausend vor Christus zu uns gedrungen sind, und diese auch nur im Gewand der Legende, doch es ist erstaunlich, dass die Quellen zu jenen Jahren, in denen die Demokratie erblühte, ebenfalls sehr fragmentarisch sind. Die Pentekontaetie (479–431 v. Chr.), die fünfzig Jahre zwischen dem Rückzug der Perser und dem Beginn des Peloponnesischen Krieges – zwischen dem großen Unternehmen, das die Griechen einte, und dem, das sie entzweite –, ist paradoxerweise die am wenigsten bekannte Periode in der Geschichte des antiken Athen. Denn damals entstand überhaupt erst so etwas wie Geschichtsschreibung. Thukydides, der Athener Schüler Herodots, der damals die große Aufgabe in Angriff nahm, den Menschen als Motor der Geschichte darzustellen, beklagt sich, dass die wenigen Geschichtsschreiber vor ihm diese Periode vernachlässigt und sich lieber Fragen zu der Zeit vor und während der Perserkriege gewidmet hätten; und dass der Einzige, der darüber geschrieben habe, Hellanikos von Lesbos in seinen Atthis, nur kurz darauf eingegangen und in den Zeitangaben ungenau gewesen sei. Was wir – einmal abgesehen von Inschriften – über diese Epoche wissen, stammt aus dem Werk Thukydides’. Erwähnt wird es auch in den Schriften Diodors und in einigen Biografien Plutarchs und Cornelius Nepos’, doch ist das, was wir dort erfahren, eher nebulös, durchwirkt von weißen Flecken und verleumderischen Stimmen.

Die Dunkelheit bricht herein, das Gittertor zum Gelände der klassischen Agora ist bereits geschlossen, also setze ich mich auf die Terrasse eines Cafés, das ausgerechnet – aus weiß Gott welchem Zufall – Athenaion Politeia heißt.

Athenaion Politeia (»Der Staat der Athener«)19 ist die wichtigste Quelle, um uns eine Vorstellung von der antiken Demokratie Athens zu machen. Es handelt sich vermutlich um ein Vorwort Aristoteles’ zu einem Gemeinschaftswerk seines Lyzeums, in dem laut Diogenes Laertios die politische Ordnung von einhundertachtundfünfzig Städten analysiert wurde. Wir können gar nicht genug bedauern, dass diese monumentale Arbeit verlorengegangen ist. Andererseits ist es eben nun mal so, dass unser Wissen über die Demokratie – wie über das antike Griechenland überhaupt – sich aus Fragmenten speist, die dem Vergessen entrissen wurden. Eine Keramikscherbe, einige Steine, gefunden unter den Ruinen eines Hauses, ein Torso, dem Kopf und Arme fehlen, ein paar Buchstaben, gemeißelt in einen Marmorblock, der gerade noch lesbare Schriftzug auf einem zerbrechlichen Stück Papyrus …

Von der Athenaion Politeia, dem Eckpfeiler der Erinnerung an die Demokratie, waren lange nur einzelne, von antiken Autoren zitierte Passagen bekannt, doch dann fand man vor gut einem Jahrhundert unter dem Sand des antiken Arsinoe zwei Papyrusblätter, die uns die Elegie des Solon bescherten; und in der Grabungsstätte von Oxyrhynchos, auf der Rückseite der Abrechnung eines ägyptischen Kleinbauern, in einer von vier Schreibern angefertigten Kopie, den fast vollständigen Text von Der Staat der Athener. Ein Glücksfall.

Unter dem nahezu vollen Mond wartet die Agora. Morgen.

DIE KLASSISCHE AGORA

»Eilt her zum Tanz, Olympier, her schickt Anmut, gepriesne, ihr Götter, die den oft Umschrittenen, den opferduftreichen Nabel der Stadt im heiligen Athen ihr aufsucht, und den an Kunst reichen, weltberühmten: den Markt! Veilchengebundene Kränze empfangt, frühlingsgepflückter Lieder Klänge!«20

Die Agora von Athen hat an diesem leuchtenden Morgen die gleiche Färbung wie in den Versen Pindars, vielleicht weil sie nach vielen Wendungen des Zufalls zu einem Garten geworden ist; zu einem merkwürdigen Garten, übersät mit Steinen und antiken Marmorstücken, die der Boden wieder aus seinem Schoß entlassen hat wie blanke Knochen und die nun zwischen efeuumrankten Oleander-, Oliven-, Lorbeer- und Bananenbäumen liegen.

Um die Demokratie zu erneuern, muss man zu ihren Anfängen zurückkehren. Wenn dort oben, auf dem Hügel der Pnyx, ihr wahrer Ursprung liegt – die Volksversammlung –, befanden sich ihre Organe und Symbole fast alle hier unten, in der Agora. Ich betrete das Gelände durch ein offenes Gittertor gegenüber dem Café Athenaion Politeia, heute ein Seiteneingang, damals jedoch der Haupteingang für die Fremden, die vom Meer her kamen, den kleinen Hang des Kolonos Agoraios erklommen und zu ihren Füßen die Agora von Athen erblickten.

Gelegentlich weht inmitten der Hitze eine frische Brise herbei, die aus einer schattigen Ecke geflüchtet scheint. Ein schmaler Pfad zwischen den Sträuchern gibt den Blick auf Stellen frei, wo fein gearbeitete Graburnen stehen: weiße, feminine Lekythen mit ihren zarten kegelförmigen Hälsen und melancholischen Abschiedsszenen. Verstreut zwischen der Myrte wirken sie wie die Verse einer antiken Elegie. Zu beiden Seiten des Weges finden sich auch Grabsteine, deren Namen nach wie vor lesbar sind. Inachos, Sohn des Satyros und der Heracleota. Apollonides, Sohn des Menodoros und der Deradiota. Diodora, Tochter des Zenon von Anaphlistos, Gattin des Rhadamantes von Anaphlistos. Wie keine andere Stadt hat Athen seine Geschichte in Stein gemeißelt. Hier auf der klassischen Agora wurden über siebentausendfünfhundert Inschriften gefunden: Grabstelen, Votivtexte, Statuensockel, Gesetze, Dekrete, Verträge, Gründungsakte, Inventare heiliger Gegenstände … Die meisten griechischen Texte, die aus der Antike zu uns gedrungen sind, wurden geschrieben von Athenern oder von Menschen, die zu dieser Stadt eine Beziehung hatten. Mag dieses Gedächtnis noch so fragmentarisch sein, so gibt es doch keinen Ort, den literarische Quellen stärker beleuchten als eben jene Agora von Athen.

Agora kommt von ἀγείρω (agéirō), »sich versammeln«. Und tatsächlich war dieser bewusst freigelassene Ort im Herzen der Stadt dafür gedacht, einem der höchsten Güter, die dem Menschen beschert sind, Raum zu geben: der Möglichkeit, sich zu begegnen und zu versammeln. Sich zu begegnen, um sich kennenzulernen, um gemeinsam Fragen zu erörtern, um Handlungen abzustecken, um den allgemeinen Zusammenhalt zu stärken. Allein in den Jahren, als Perikles auf dem Höhepunkt seiner Macht war, begegneten sich auf diesem Platz Aischylos, Sophokles, Euripides, Aristophanes, Herodot, Thukydides, Phidias, Iktinos, Kallikrates, Meton, Aspasia, Anaxagoras, Protagoras, Gorgias, Hippias, Antiphon … und Sokrates. Wenn das mal nichts ist! Mit seinen Säulengängen, Geschäften, Altären, Brunnen und der Tribüne war dieser Ort – ein Vorläufer der römischen Foren und der säulenumsäumten Plätze des Mittelalters und der Renaissance – stets, schon seiner Etymologie nach, ein politischer Raum. Daher rührt es uns auch an, dass die Agora in Zeiten der Demokratie als ein Heiligtum galt: ein Temenos. An seinen Außenseiten, dort, wo Steine die Grenzen markierten, standen Gefäße mit gesegnetem Wasser, um sich einer ritualen Waschung zu unterziehen, bevor man eintrat, und um an diejenigen zu erinnern, deren Hände unrein waren – weil sie die Verteidigung der Polis vernachlässigt hatten, weil sie ihre Alten misshandelt hatten oder weil sie gegen die Interessen des Gemeinwohls verstoßen hatten –, denn sie waren vom politischen Leben ausgeschlossen, ihnen war der Zutritt zu diesem Ort verwehrt. Dies sollte uns zu denken geben. Dort unten, im Rund der Tholos, zur Linken einer kleinen Holzbrücke, liegt noch der marmorne Stein, der die Grenze der Agora für diejenigen markiert, die von der Pnyx her kamen: ὅρος εἰμι τῆς ἀγορᾶς (hóros eimì tês agorâs) (»Ich bin die Grenze der Agora.«), ist dort zu lesen.

Wie funktionierte die antike Demokratie? Welche Institutionen besaß sie? Welche Teilhabe hatte das Volk? Welche Werte bildeten ihre Grundlage? So unglaublich es erscheinen mag, es gibt nur einen Weg, dies herauszufinden: Man muss geduldig die überlieferten Worte und diese überall verstreuten Steine zusammenfügen.

Beginnen wir gleich hier, am Fuß des Kolonos Agoraios. Heute endet hier, an der nördlichen Seite, das archäologische Gelände der Agora an einer langen Mauer, die es von Bahngleisen trennt; die klassische Agora jedoch ging unter den und jenseits der Schienen weiter. Als man 1890 mit dem Bau dieser Linie begann, um Athen mit Piräus zu verbinden, kamen unter den abgerissenen Häusern alte Steine hervor, riesige, noch anonyme Quader traten für einige Tage aus der Vergangenheit ans Licht, nur um schnell wieder begraben zu werden. So auch der Altar der Zwölf Götter oder das Heiligtum der Grazien und des Volkes. Literarische Quellen und Inschriften gaben diesen Resten nach und nach einen Namen.