Kitabı oku: «Schüchterne Gestalten», sayfa 3
„Schon kalt.“ Remsen saß bereits wieder an seinem Schreibtisch, als sie zurückkam und hatte seinen Kaffee inzwischen ausgetrunken.
„Und Sie verbrennen sich noch mal die Zunge.“ Jutta Kundoban kannte Remsen und seine Art, auf Verschleiß zu leben. Sie ging da doch sorgsamer mit ihrem Körper um.
Dafür schwang er sich aus seinem Sessel an die Wandtafel und bemühte sich, die Fläche von allerlei alten Notizen und Fotokopien freizumachen.
„Dann mal los: Was haben wir?“ Remsen nahm gleich mal die Rolle eines Oberlehrers, Moderators und Ermittlungsleiters, alles gleichzeitig, ein.
„Ein Unfall der keiner war. Aber damit fing alles an. Eine Tote, die offensichtlich nicht beim Unfall gestorben ist; also ermordet wurde. Die Unfallursache ist mysteriös, denn irgendwer hat den Hirsch auf die Straße gelegt, die Straße in beide Richtungen und dann noch zur richtigen Zeit abgesperrt.“ Jutta zeigte auf ihre Notizen. „Dr. Ansbaum äußerte die Ansicht, dass sie eine Osteuropäerin sein könnte“.
„Und das kann Dr. Ansbaum einfach so erkennen?“
Remsen bemühte sich, das Gesagte mitzuschreiben und sich damit ein Bild zu machen. Mit minimalem Gestaltungstalent.
Remsen dachte laut nach: „Wissen wir von ihr noch mehr? War sie Mitarbeitern bei CodeWriter? Oder eine Bekannte, Partnerin oder so? Geliebte des Toten? Wer kann sie sein.“
„Nichts dergleichen. Vielleicht bekommt Benjamin bei der Frau Weilham noch was raus. Oder ihr Mann taucht bald mal auf.“
„Hat der Nöthe den denn nicht erreichen können? Seine Frau muss doch die mobile Nummer haben.“ Remsen wollte mal wieder alles auf einmal erfahren.
„Wahrscheinlich nicht, denn dann wüssten wir schon was. Wir müssen wohl warten, bis Weilham sen. aus dem Nirwana wieder auftaucht.“ Jutta Kundoban schaute wieder auf ihre Zettel.
„Das Unfallauto, wenn man so sagen kann, ist zugelassen auf eine Firma CodeWriter. Die machen irgendwas mit Software, entwickeln welche für Sicherheits- und Überwachungsfirmen und erledigen Auftragsarbeiten für Forschungsinstitute. Geschäftsführer der CodeWriter sind Georg Weilham und Karl Hausmann. Im elektronischen Bundesanzeiger war zu lesen, dass die zuletzt veröffentlichten Abschlüsse ganz ordentlich waren. Viel verstehe ich davon nicht.“
Das Bild an der Tafel wurde langsam aussagekräftiger. „Hausmann macht Urlaub und scheint nicht erreichbar zu sein und Weilham sen. ist mal kurz abgetaucht. Ich schätze hinter der Grenze, um seine Potenz auszutesten. Nur ´ne Vermutung, keinen Kommentar bitte.“
Typisch Remsen, typisch Mann. Kundoban lächelte in sich rein; vielleicht hat er noch nicht mal Unrecht.
Remsen befragte sein Gedächtnis und malte weiter an der Tafel.
Jetzt war wieder Kundoban dran: „Sein Sohn, vermutlich ist er das, ist auch bei CodeWriter und ist laut der Homepage dort Account Manager. Was macht man da?“
„Soweit ich das weiß, ist das der Verbindungsmann zu den Kunden, die regelmäßig besucht werden, damit keiner unzufrieden wird und sich vernachlässigt fühlt. Sind alle sensibel heutzutage. Vielleicht muss er sich auch um neue Kunden kümmern. Zumindest könnte es sein, dass er genau deshalb gestern unterwegs, vielleicht sogar im Ausland war.“
Das klang logisch für Remsen und auch Kundoban hatte nichts dagegen zu sagen, also malte Remsen sein Bild weiter.
„Das würde auch erklären, dass die unbekannte Tote eine Osteuropäerin sein könnte.“
Remsen hob die Hand: „Moment, noch ist nicht klar, ob der Tote wirklich der Junior der Weilham's ist. Dieser Teil ist hoch spekulativ. Und das mit der Osteuropäerin auch.“
„Weiß ich; ab jetzt deuten wir mangels Fakten.“ Das mochte Jutta Kundoban eigentlich nicht, könnte aber ganz hilfreich sein, sich auf diese Art und Weise die nächsten Schritte zurechtzulegen.
„Ja, okay; aber nur bis wir mehr wissen.“ Remsen war es durchaus ganz recht; vielleicht ergeben sich für die weiteren Ermittlungen ganz brauchbare Überlegungen.
„Zurück zum Unfall. Das Ganze erscheint mir sehr professionell und mit großem Aufwand gemacht zu sein. Offensichtlich hat sich jemand den Wagen von CodeWriter gezielt ausgesucht. Wenn also die Straße zum exakten Zeitpunkt gesperrt und der Hirsch für den Unfall angerichtet wurde, dann musste der Wagen überwacht worden sein.“
Remsen freute sich, dass seine junge Kollegin einen so scharfsinnigen Verstand hatte. Der Gedanke war nicht von der Hand zu weisen.
Elvis Costello – ;Accidents Will Happen‘, fiel Remsen da nur rein. Halb murmelte er es vor sich hin.
„Was meinen Sie? Hab leider nichts verstanden.“ Jutta Kundoban war ganz neugierig, Remsens Gedanken zu verstehen.
„Unfälle passieren eben, sang Elvis Costello mal. Irgendwann um 78/79. Das dürfte nicht eines Ihrer Kinderlieder gewesen sein, nehme ich mal an.“
„Hab verstanden – Sie und Ihre Musik. Ich sollte mal wieder mit einer Flasche Wein zu Ihnen kommen und dann in Ihrer Sammlung stöbern. Sie wissen ja, ausnahmslos Musik vor meiner Zeit hören wir dann, okay?“.
Remsen war inzwischen schon weiter: „Wie macht man das am besten, so eine Verfolgung? Mit einem Peilsender. Oder mit Verfolgung.“ Remsen dachte nach und wählte die Nummer von Reiken.
„Prüft mal bitte, ob am Auto ein GPS-Tracker oder so etwas zu finden ist.“
„Jan, haben wir schon untersucht, da ist nichts. Auf jeden Fall schauen wir uns das Auto noch mal an. Vielleicht haben wir ja was übersehen. Ich melde mich, wenn ich mehr weiß.“ Reiken unterbrach die Verbindung.
„Hallo, Frau Kundoban.“ Er zog seine Ansprache gestikulierend in die Länge und winkte mit der Hand. Entweder war sie etwas weggetreten und schlief mit offenen Augen oder aber sie war gedanklich mit sich allein.
„Nein, meine Einschätzung von professionell nehme ich zurück. Schauen Sie mal, wie lange wir gebraucht haben, um festzustellen, dass es überhaupt kein Unfall war; dass der Hirsch schon lange vorher tot war und die Tote hinter dem Fahrersitz dort eigentlich gar nicht hin gehörte. Mag sein, die Vorbereitung und die Idee waren sicher aufwendig, aber die Ausführung eher dilettantisch.“
Das war es also, über was sie gerade nachdachte. Aber sie hatte Recht, dachte sich Remsen. Außerdem hätte ein Profi den Toten im Wald verschwinden lassen. Passt alles nicht so recht zusammen.
„Stimmt, Sie haben Recht. Das ergibt ein uneinheitliches Täterprofil, wenn man davon überhaupt reden kann. Und jede Menge Arbeit. Wir brauchen jetzt einen Anfang, sonst stochern wir ewig in Hypothesen rum.“
Remsen sah auf die Uhr und stellte fest, dass eine halbe Stunde ohne Kaffee echt anstrengend war. „Auch noch einen? Kaffee meine ich.“
Kundoban schüttelte mit dem Kopf und verschwand auf dem Klo. Remsen marschierte zur Zentrale am Eingang und ließ sich einen Becher Kaffee geben. Den genoss er vor der Tür bei frischer Luft. Das Rauchen hatte er schon längst aufgegeben, aber ein paar Minuten alleine können Blockaden lösen. Auch ohne Glimmstängel hielt er an diesem geliebten Ritual fest.
„Wir müssen uns mit CodeWriter beschäftigen. Alles rausbekommen was die tun, mit wem die Geschäfte machen; welche natürlich auch und mit wem die zusammenarbeiten. Alles!“ Remsen schrieb an seiner Tafel wieder mit. „Wurden die erpresst? Hatten sie Feinde? Wenn ja wen?“
Einen Namen kreiste er ein: „Georg Weilham, mit dem müssen wir zuerst anfangen. Haben wir von Nöthe schon was gehört? Trinkt der immer noch bei der Weilham Kaffee?“
So langsam war Remsen nicht nur auf Betriebstemperatur, sondern weit darüber hinaus.
„Jutta, sie kümmern sich mal um alles rund um CodeWriter. Wir brauchen so schnell wie möglich ein komplettes Bild von der Firma. Und von Weilham. Von beiden natürlich. Und von Hausmann auch. Nehmen Sie alle, die verfügbar sind und treiben Sie mir den Hausmann auf. Auch wenn der auf den Amazonas rumschippert, ich brauche ihn am Telefon. Ich fahre jetzt zu Weilham und sehe mich dort mal um.“
Remsen fand den Plan ganz brauchbar und griff nach seinem Mantel. Auf dem Weg zu den Weilham‘s wird er noch mal mit Ansbaum und Reiken telefonieren. Vielleicht haben die inzwischen neue, brauchbare Anhaltspunkte. Und seine Truppe musste sofort aufgestockt werden. Darum muss er sich auch noch kümmern und seinen Chef anrufen. Wenigstens auf die Kundoban ist Verlass; den Vorschlag zum Vinylabend wird er annehmen. Warum auch immer – er grinste bei der Vorstellung.
Die Tür ging auf und sein Kollege Ulrich stand im Büro. „Dietering hat angerufen. Ich soll dich unterstützen Jan. Mach dir nichts draus, du wirst es überleben. Ich hoffe, du hast schon eine heiße Spur.“ Nein, das war keine Frage; mehr eine Feststellung, eine Hoffnung vielleicht.
„Alles was hier heiß ist, ist die bestialische Brühe vorne von der Zentrale.“
Remsen hatte bis soeben noch das Gefühl, dass der Fall bei ihm in den besten Händen war. Dass aber der Sepp, sein Chef, die Absicht verfolgte, die Ermittlungen zu behindern, und ihm den Hansi aufgehalst hat, machte seine Hoffnungen zunichte.
Ein letzter Versuch von Remsen sollte helfen, das Schlimmste zu verhindern: „Was ist denn mit dem Raubmordfall von der Raststätte? Habt Ihr da schon einen Täter?“
„Nein, sind nah dran. Dietering meinte aber, dass Unfall und die zwei Morde heute Nacht mehr Aufmerksamkeit in den Medien erzeugen werden und ich hier mehr gebraucht werde. An der Sache mit dem Überfall an der Raststätte wird weiter recherchiert; soll die Regionalliga machen.“
Remsen schätzt Kriminalrat Karl Dietering durchaus. Mehr als Mensch, weniger als Chef. Nicht, dass sie beide erfolglos zusammenarbeiten, aber beide wissen, was sie voneinander haben. Und wann es besser ist, sich aus dem Weg zu gehen.
Dietering war als Westimport schon länger in Vesberg und machte sich als Besserwessi einen eher unrühmlichen Namen. Erst nach einigen Querelen mit den Einheimischen hatte er sich doch durchsetzen können und genoss inzwischen sogar einen guten Ruf. Als Remsen vor einigen Jahren von Hamburg hierher nach Vesberg kam, gab es einigen Streit untereinander, den Remsen mochte sein übertriebenes bayerisches Auftreten von Beginn an nicht. Aus dieser Zeit stammt der heimliche Spitzname Sepp. Außerdem nahm Dietering Remsen als eine Art Konkurrent war, was Remsen allerdings nie war und vorhatte. Das ist jetzt alles Schnee von gestern.
Dietering brauchte nicht mehr lange bis zu seiner Pensionierung. Er wollte sich von den Alleingängen Remsens nicht kurz vor Schluss der öffentlichen Kritik aussetzen. Remsen, der gerne mal die Vorschriften großzügig auslegt, wandelte fast schon traumwandlerisch an der Grenze des gerade noch Erlaubten. Das mochte Dietering überhaupt nicht. Wenngleich – die nicht zu leugnenden Ermittlungserfolge, welche Remsen inzwischen aufweisen konnte, kommen ja auch ihm zugute.
Der Trick, auf den Dietering immer verfällt, ist zwar gerade nicht schön, schützt dann doch vor unliebsamen Erklärungen gegenüber dem Polizeipräsidenten und der Presse. Außerdem hatte es Kriminalrat Dietering inzwischen satt, sich immer schützend vor Remsen stellen zu müssen. Seine Geheimwaffe und damit sein Trick ist Ulrich, Kriminaloberkommissar. Mit ihm an der Seite fühlt sich Remsen eingeengt, kontrolliert, ja vielleicht sogar bevormundet. Die Doppelspitzennummer ist bestimmt nicht fair, geht jedoch für Dietering völlig in Ordnung. Für Remsen umso weniger.
Ulrich wusste recht genau, dass Remsen ihn maximal kollegial schätzt – mehr aber auch nicht. Remsen. Beide sind komplett unterschiedlich. Während Ulrich schon vor der Vereinigung bei der Polizei war und sich staatskonform arrangiert hat, ist Remsen derlei Anpassung völlig fremd. Schon in Hamburg legte er gekonnt Regeln für sich aus und ignorierte Anweisungen seiner Chefs konsequent. Soweit es eben ging. Hansi, wie ihn Remsen kurz nannte, war äußerst korrekt und vergab damit reichlich Chancen in den Ermittlungen. Das wusste Ulrich sicherlich, war aber für ihn gesehen subjektiv noch immer besser als das drohende Damoklesschwert einer Suspendierung. Diese Angst hatte Remsen so nicht, machte er doch nur seinen Job, intensiv, manchmal schmutzig, immer legal und belegbar. Also, wo war das Problem? Für Remsen gab es keines. Punkt.
Im Laufe der Zusammenarbeit entwickelte sich eine eigenartige Spannung. Diese drückte sich in Reibereien zwischen beiden aus; sehr oft von Ulrich initiiert, der regelmäßig versuchte, Remsen zu disziplinieren. Der perfektionierte allerdings als Anti- und sogar Abwehrreaktion seine Form der Alleingänge, dass Ulrich oft das Nachsehen hatte oder viel zu spät über den Ermittlungsverlauf informiert wurde. Information ist Macht; das erkannte Remsen schon lange als seine Maxime und so arbeitete er auch; vor allem wenn sein Hansi mit an Bord war.
Remsen beabsichtigte auch heute nicht, sich von Hanns-Peter aufhalten zu lassen. Seinen Drang zur Frau Weilham zufahren, unterstrich er mit der Bemerkung: „Die Kollegin Kundoban ist bestens informiert und wird dich über alles in Kenntnis setzen. Ich muss jetzt los.“
Und raus war er.
Jetzt auch noch der Hansi. Kann denn kein Fall mal ohne diese Spaßbremse ablaufen? Remsen bog noch schnell zur Toilette ab, da die ganz praktisch auf dem Weg zum Hinterausgang lag. Erleichtert hielt er noch kurz an der Zentrale an und fragte nach neuen Informationen von Nöthe oder der Spurensicherung.
„Und aus dem Keller?“ Der Wachhabende verstand, dass Remsen die Pathologie meinte, schüttelte aber den Kopf und erinnerte Remsen daran, dass dieser sofort informiert wird, wenn in der Zentrale Informationen auflaufen.
Na bestens, dachte sich noch Remsen, als er die Tür am Hintereingang zum Parkplatz aufdrückte. Eigentlich meinte er die gute Organisation der Zentrale, auf die er sich verlassen konnte. Es könnte aber auch auf das Abbild auf Remsens Augen passen. Jedenfalls saß der Schreck richtig tief, als er Ulrich an seinem Auto stehen sah.
„Keine Widerrede Jan, ich komme mit. Unterwegs kannst du mich aus allererster Hand informieren. Die Kollegin hast du ja mit Arbeit komplett eingedeckt.“
Die Körperhaltung von Ulrich ließ keinen Zweifel aufkommen: Ich fahre hier mit, ob im schwarzen Ungeheuer oder im blauen Streifentaxi hinterher.
Remsen resignierte innerlich und erinnerte sich an den weisen Ratschlag: Nicht jede Schlacht muss geschlagen werden. Immerhin hat auch er eine Geheimwaffe, nämlich seinen unübertroffenen Sound im Auto. Dazu noch seinen, na ja nicht mehrheitsfähigen Musikgeschmack. Thin Lizzy mit „Bad Repuation“ könnten helfen.
Hanns-Peter Ulrich ist Kriminaloberkommissar, aber nicht sein Chef. Beide werden sie immer wieder von Dietering zusammen losgeschickt. Ulrich, der hier zu Hause ist, die Leute kennt und meist schon im Voraus ahnt, warum sie so oder so denken und handeln, genießt sicher seinen Heimvorteil. Remsen, mit großer Erfahrung aus vielen Jahren Hamburger Ermittlungsarbeit, kennt sich mit vielen Formen des Verbrechens aus, insbesondere mit internationaler organisierter Kriminalität. Davon gab es in Hamburg leider jede Menge und Remsen geht davon aus, dass das weniger geworden ist. Ulrich respektiert ihn ganz sicherlich, jedoch sind beide gerne auch zwei Pole, die sich aneinander reiben oder wenn es übel kommt sprichwörtlich polarisieren. Zu unterschiedlich sind beide, wenngleich trotz allem die Arbeit miteinander nicht die schlechteste ist.
„Gut, gut, wenn es sein muss, dann steige ein.“ Remsen startete den Buick, gab die Adresse in das Navigationssystem ein und verließ den Hof.
So langsam wurden sie wach. Der Job kostete jede Menge Nerven und war nicht so leicht zu erledigen. Obwohl, sie werden immer wieder zu Aufträgen ähnlicher Art gerufen. Aber hier in Deutschland ist es sehr gefährlich. Anders als zu Hause in Moldawien ist die Polizei hier gut ausgestattet und vor allem unbestechlich. Die Gefahr, entdeckt zu werden, ist nicht zu unterschätzen.
Sie machten keinen Fehler. Nein, sie waren richtig gut. Der Hirsch wurde wie vorhergesagt zur richtigen Zeit geliefert und die Straßensperren scheinen funktioniert zu haben. Ein Anruf würde Gewissheit verschaffen, ob alles tatsächlich funktionierte. Das würde allerdings gegen die Anweisung sprechen, in Deutschland jemals ein Telefon einzuschalten. Ansonsten wäre die Ortung möglich und die gesamte Geschichte könnte auffliegen. Der Auftrag hieß eindeutig: Am Sonnabend noch bei Tageslicht mit den vorbereiten Autos Deutschland verlassen. Einzeln und auf unterschiedlichen Routen. Jeder von Ihnen sollte einen eigenen Grenzübergang wählen. Aussehen sollen sie wie Deutsche, also keinen Schnauzbart haben, sauber, rasiert und in typisch deutscher Kleidung die Grenze passieren. In den Autos lagen Pässe, extra für jeden von ihnen. Nichts darf schief gehen, bis zum Schluss. Alles war penibel durchgeplant. Erst wenn alle wieder zurück in Moldawien sind und keiner hochging, fließt der zweite Teil der Vereinbarung. Das Honorar. So war es ausgemacht.
„Los, hoch. Wir müssen uns fertig machen und weg von hier.“
Seine beiden Mitstreiter schliefen noch oder waren gerade dabei, wach zu werden. „Wir haben noch maximal eine Stunde, dann müssen wir hier raus sein. Bevor es dunkel wird, müssen wir über die Grenze in Polen sein. Also macht jetzt.“
Sie erhielten als Unterschlupf nach ihrem Aufträgen Schlüssel für ein kleines Häuschen in der Nähe von Vesberg von ihrem Auftraggeber. Dort durften sie weder Licht anmachen noch heizen. Kein Anzeichen, dass das Häuschen, eher eine Hütte bewohnt war, war die Abmachung. Gelegentlich gehen Hundebesitzer mit ihren Vierbeinern tagsüber eine Runde um den nahe gelegenen See. Außerdem ist die Hütte Teil einer Gartenanlage. Zwar geht da im November kaum noch jemand hin, aber man kann ja nie wissen.
Inzwischen war alle drei wach, wuschen und rasierten sich – sie sollten einen gepflegten Eindruck machen, falls es doch zu einer Kontrolle kommt. Der Grenzschutz schickte in unmittelbarer Umgebung der Grenze schon länger mehr Zivilfahrzeuge als früher in die Schleierfahndung. Das war die Information des Auftraggebers. Sie mussten auf der Hut sein, um weder hier in der Gartenanlage noch auf dem Weg zur Grenze irgendwelche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Mit großer Sicherheit ist die Fahndung nach dem Unfall bereits gestern Nacht angelaufen. Und wenn im Wald Teil II ihres Werks auch noch entdeckt wird, dann darf man von erhöhter Präsenz der Polizei, überall ausgehen. Eigentlich verlangte er als Anführer von den Auftraggebern, erst einen Tag später zu verschwinden. Das wäre wohl viel zu heikel geworden. Die Auftraggeber wollten die drei so schnell wie möglich wieder los sein. Jetzt sind wir die heiße Kartoffel, mal wieder. Er war sicher, die nächsten zwei Stunden werden vielleicht sein Leben und das seiner Kumpels hier verändern. Hoffen wollte er es nicht.
Nach dem Essen begann die Observierung des Umfelds des Gartenhäuschens. Dafür deponierte der Auftraggeber oder wer auch immer ein richtig gutes Fernglas in der Hütte. Zum Glück ist dieser Sonnabend so, wie man einen Tag im November erwarten durfte: grau, trübe und regnerisch. Das kann helfen, um hier ungesehen wegzukommen.
Gut zwanzig Minuten brauchten sie, um die Gewissheit zu haben, dass sie unbeobachtet das erste Auto erreichen. Und es sah gut aus, denn nirgends war jemand zu sehen. Der Erste konnte es versuchen.
Als Spaziergänger angezogen ging er aus dem Garten und spazierte den Weg entlang, entgegen der Richtung zum Auto. Dieses stand nicht einsam auf einem Parkplatz, sondern war etwas weiter weg, in der Nähe des Flusses, an einer gut befahrenen Straße geparkt. Dort standen jede Menge Baufahrzeuge, kleine Autos, Pritschenwagen und sogar einige Wohnmobile. Wer sollte da schon auffallen, wenn jemand zu seinem Auto geht und sich reinsetzt.
Ausgemacht war, dass nach knapp 10 Minuten der Zweite folgte, jedoch einen anderen Weg nimmt. Sollte der irgendetwas Auffälliges bemerken, muss er über einen Seitenweg wieder umdrehen und zur Hütte zurückkommen. Kein Risiko war ihnen ausdrücklich eingeschärft worden.
Jetzt war er dran. Er schloss das Gartenhaus ab und deponierte den Schlüssel am vereinbarten Ort. So unauffällig wie möglich durchquerte er den Garten und die Anlage. Eine Sackgasse noch und dann erreichte er auf der Uferstraße.
Teil I der Flucht ist gelaufen, dachte er sich noch, als er in Sichtweite des Autos kam. Oh Scheiße, da steht ein zweites Auto seitlich hinter ihrem Fluchtwagen und blinkt. Er verlangsamte seinen Schritt, um sich das Auto genauer anzusehen; besonders die Insassen. Zwei Typen, kurz geschorenes Haar und offensichtlich nicht übergewichtig; durchtrainiert. Zivilstreife?
Gefahr!
Alarm!
Er nahm den kleinen Weg als Abkürzung, bog von der Uferstraße wieder ab in die Gartenanlage. In aller Ruhe, äußerlich. Denn in ihm kursierten die Gedanken: Was machen, wenn die uns schnappen? War es überhaupt eine Streife? Zurück?
Nein jetzt nicht gleich. Erst mal ab in die sichere Hütte.
Sammeln!
Der Plan sah für diesen Fall vor, es nach maximal zehn Minuten nochmals zu versuchen. Er zitterte am ganzen Körper. Ihm fehlte der Mut. Aber er musste, denn die Auftraggeber waren schlau und verteilten die Fluchtinformationen auf alle drei. Minimiertes Risiko, wie sie es nannten. So hatte er keine Ahnung, wo die anderen Autos standen.
Er nahm allen Mut zusammen und versuchte innerlich ganz ruhig zu bleiben. Scheiße, schon wieder Leute in der Nähe des Gartens. Ein altes Pärchen. Trotzdem, er musste warten, bis die außer Sichtweite wagen.
Nichts riskieren, bloß nicht auffallen.
Weiter!
Er nahm den entgegengesetzten Weg, sodass die alten Leutchen ihn nicht so schnell sehen konnten. Dafür war diese Richtung zum Auto etwas weiter. Egal, jetzt Augen zu und durch.
Es lief glatt. Nichts Aufregendes mehr unterwegs, kein Spaziergänger, kein Mensch weit und breit. Erleichtert bog er auf die Straße zum Auto ein. Hier fiel er nicht mehr so auf. Jemand, der auf dem Weg zum Auto ist, ist nicht auffällig. Normalerweise nicht.
Die letzte Kurve noch, dann würde er gleich das Auto sehen. Hoffentlich ist die andere Karre inzwischen weg, dachte er sich, als er in Sichtweite des geparkten Autos kam.
Entsetzen in seinen Augen: Das Auto war weg. Ihr Fluchtauto war nicht mehr da! Hilflos sah er sich um. So ein Mist, wo sind die anderen beiden hin? Wie komme ich jetzt hier weg?
Nein, nein, nein!
Verdammter Mist!
Das geht nicht gut aus. Er rannte los; vielleicht stehen sie etwas weiter vorne und warteten auf ihn. So würde er es machen. Ihm war jetzt jede Tarnung egal. Er musste das Auto finden, egal wie.
Auf Höhe der Stelle, wo das Auto vorher geparkt war, blieb er abrupt stehen. Was war das? In der Parklücke stand jetzt das Auto, welches vorher in zweiter Reihe auf der Straße stand und er als Zivilstreife ansah. Drinnen saß jetzt niemand mehr. Wenn das Zivilbullen waren, dann trieben die sich bestimmt noch hierum.
Los, weiter die Straße runter!
Nach einigen Minuten begann er nicht nur langsamer zu werden, sondern es dämmerte in ihm: Die beiden sind weg!
Jetzt ist er ganz alleine auf sich allein gestellt. Er hatte keine Chance, die beiden irgendwie zu finden oder mit ihnen zu telefonieren.
Wo sind die ihn?
In welche Richtung könnten sie gefahren sein?
Er weiß ja nicht, wo die anderen Fluchtautos stehen und auf ihn warten könnten. Das hier war eigentlich sein Auto gewesen. Und jetzt? Ihm muss was einfallen, damit er so schnell und sicher wie möglich aus Deutschland rauskommt.
Eigentlich war er auf solche Situationen vorbereitet. Damals in Sibirien, als sie noch alle zur Roten Armee eingezogen und zwei Jahre paramilitärisch gedrillt wurden, war das Wetter noch viel schlechter, die Kleidung zwar tauglich, aber alt und ramponiert. Das Essen dort war ohnehin nichts für Rekruten. Schikaniert wurden sie die ganze Zeit.
Also, was soll’s: Schlimmer als damals kann es jetzt auch nicht sein.
Mindestens zweimal war er knapp dem Tod entkommen, Unfälle und Knochenbrüche überstanden. Als Aufklärer waren sie trainiert, in entferntesten Regionen ausgesetzt und über lange Distanzen zurückzufinden. Überleben am Rande des Vorstellbaren war die Regel. Ernähren von selbst gefangenen Tieren. Schlafen in Erdlöchern. Wochenlang nicht entdeckt zu werden und sich trotzdem durchschlagen. Manchmal hat’s nicht geklappt und man wurde gestellt.
Jetzt ist wieder Überleben angesagt. In einem fremden Land. Mit einer Polizei, die ihn sicher sucht. Die Aufgabe könnte nicht größer sein.
Er muss hier raus, einfach nur raus. Raus aus Deutschland.
Georg Weilham saß gedankenverloren in seinem Auto und befand sich auf dem Weg nach Hause. Sonnabends ist sein Tag. Er brauchte diesen Freiraum. Schon seit Jahren arbeitete er an der Grenze seiner Leistungskraft. Seine Ärzte forderten ihn mehrmals und eindringlich auf, etwas kürzer zu treten. Sollen sie doch reden, hatte er sich immer gedacht. Bis zu dem Zeitpunkt, als gleich nach dem Jahreswechsel ein Schwächeanfall ihn für längere Zeit aus dem Verkehr zog. Es begann mit Panikattacken, schon länger davor. Ihm wurde immer mal wieder schwindlig. Bekam kalte nasse Hände, Herzrasen und Atemnot. Obwohl er schon vor Jahren zu rauchen aufgehörte und er versuchte, seinen täglichen Stress zu reduzieren, ließen diese Symptome einfach nicht nach.
Anfangs sagte er keinem etwas. Seiner Frau nicht, seinem Sohn nicht, seinem Geschäftspartner gleich gar nicht. Carl wird es schon einzuordnen wissen; dessen war er sich gewiss.
Dann ging er doch zu seinem Hausarzt, der gleich allerlei Tests mit ihm machte. Und Medikamente ihm verschrieb. Er musste zu Internisten und Kardiologen; erhielt Diagnosen, die ihn mal positiv stimmten, mal depressiv machten.
Im Januar dann war er nach einem überaus langen Tag im Büro auf dem Weg zum Auto…
Irgendwie war die Seuche damals in der Firma zu Hause. Zum Jahreswechsel waren zwei gute Entwickler zum Konkurrenten gewechselt. Obwohl, Konkurrent sind die eigentlich nicht. Der Auftrag aus dem Innenministerium ließ auf sich warten. Der stellte so etwas wie eine Lebensversicherung CodeWriter dar; Karl hat ihn immer wieder vertröstet. Und Neugeschäft war nicht in Sicht. Kurzum: Die Zukunft seiner Firma, seines Traums, seiner Altersvorsorge war in nicht unerheblicher Gefahr. Ohne rechte Perspektive drehen sich die Probleme immer schneller. Komisch, warum tauchen die dann immer gleich in Scharen auf? Aus Missverständnissen wurden Probleme, aus Problemen wurden Konflikte. Streit wurde immer mehr zur Norm in der Firma.
Mit Karl konnte er ja reden. Ein gemeinsamer Abend im Pub, beide waren leidenschaftliche Guinness Trinker, half für kurze Zeit. Karl und er funktionierten einfach nicht mehr synchron. Über das berüchtigte siebente Jahr waren sie längst hinaus; jedoch stagnierten sie in der Entwicklung. Karl wie er wissen recht genau, dass Stillstand in der Informatik mit Rückschritt gleichzusetzen ist. Woanders wohl auch, aber das interessierte ihn nicht. Er war Informatiker, schon früh der Logik einer CPU verfallen und hat sich zu einem leidenschaftlichen Entwickler, inzwischen zum Generalisten entwickelt. Selbst die Wirren der Vereinigung konnten seiner Entwicklung nur kurz etwas anhaben.
Er nutzte gleich nach dem Abitur die Chance, um nach dem Pflichtdienst bei der [...], nee, das Kürzel von damals hatte er aus seinem Wortschatz gestrichen, also beim Bund wie man heute sagt, Technische Informatik zu studieren. Das bekam er ganz gut hin, denn er interessierte sich vor allem für die Entwicklungsseminare und verstand die Infrastruktur von Rechnern eher als viele seiner Mitstudenten. Gleich danach fand er damals im einzigen EDV-Konzern hier in Vesberg eine Anstellung. Er hing sich rein, forschte, programmierte, konstruierte und wurde für viele seiner Kollegen schnell zum gefragten Kollegen.
Weilham fühlte sich in seiner kleinen Werkstatt, die eigentlich ein großes Büro für viele EDV’ler war, richtig wohl. Wäre da nicht die Staatsmacht gewesen, die vor höheren Aufgaben eine Bedingung gesetzt hat: Eintritt in die Partei. Das kam für ihn niemals in Frage. Wie hasste er die Gleichmachung, die Unterordnung seiner Informatik gegenüber der Politik, seiner Entwicklung dem des Wohlergehens einer Diktatur. Für ihn war sie menschenfeindlich, hemmend, abstoßend. Ja, er eckte laufend an, ließ sich nicht disziplinieren und anketten. Er, ein Weilham vom Schlag eines Vesbergers, die wievielte Generation auch immer, war von seinen Vorstellungen vom Leben überzeugt und blieb stur.
Basta!
Zum Glück für ihn fegte die Revolution hier in Ostdeutschland die Diktatoren weg; wahrscheinlich nach Russland, Nordkorea oder auf dem Mond. Es war ihm egal, denn es begann seine Zeit der Entfaltung.
Die sollte nur kurz anhalten.
Denn eines Tages saß er vor einem Personalchef, der von so komischen Sachen wie Entlassung sprach. Und dazu in einem Dialekt sprach, mit dem er sich überhaupt nicht anfreunden konnte. Wahrscheinlich mal wieder so ein Westimport; typischer Klugscheißer. Davon gab es damals in Vesberg viele, zu viele, wie er überzeugt war.
Weilham fühlte sich getroffen, schwer beleidigt und wäre zum Terroristen geworden; hätte man ihn gefragt. Es war aber keiner da, der ihn entsprechende Angebote gemacht hätte, sondern nur die gelangweilten Mitarbeiter vom Arbeitsamt, die ihm Hoffnung machten, an die sie selbst nicht glaubten. Er bekam von ihnen immer wieder Geschenke in Form von Qualifizierungen. Diesen Unsinn sich anzuhören nahm er als Folter wahr. Die Schlaumeier meinten, uns was erzählen zu müssen. Nur weil sie ausgestattet mit einer Buschzulage extra die weite Reise bis hier nach Vesberg gemacht haben.
Dünnbrettbohrer!
So langsam begann er, seine Sinne neu zu schärfen. Zu justieren, redete er sich immer ein. In ihm wuchs eine Idee heran, eine Geschäftsidee, mit der er Geld verdienen könnte. Vom Arbeitsamt und sonst wo her holte er sich Informationen und studierte den Hürdenlauf einer Firmengründung. Für ihn war das eine komplett fremde Welt, in der er sich einfach nicht reindenken konnte.