Kitabı oku: «Über Herbert den Greisen und Leo den Weisen», sayfa 3
»Neue deutsche Mentalität«
Für Marcuse stellt die »deutsche Mentalität«, die er 1942 konstatiert, eine politische Kategorie dar, die sich auf die uneingeschränkte Politisierung aller gesellschaftlichen Sphären im nationalsozialistischen System bezieht. Zwischen privaten und öffentlichen Bereichen verlieren jede Grenzmarkierungen ihren Sinn. Erziehung, Intimsphäre, Sexualität, Geburt, Familie finden ihre Bedeutung in der NS-Ideologie, für die Volksgemeinschaft. Einhergehend mit dieser Aufhebung sei auch eine normative Rechtfertigung verschwunden, sowohl in der Politik, aber auch im Handeln der einzelnen Menschen – eine »psychologische Neutralität« habe sich über jede humanistische Verhaltensweise gelegt. So »neutral«, dass menschliches Leiden nicht mehr emphatisch wahrgenommen wurde.
Marcuse schreibt: »Die Deutschen erweisen sich gegenwärtig an gänzlich anderen Werten und Maßstäben, und sie sprechen eine Sprache, die sich von den Ausdrucksformen der westlichen Zivilisation wie auch von denen der einstigen deutschen Kultur grundlegend unterscheidet. Um eine wirksame psychologische und ideologische Offensive gegen den Nationalsozialismus lancieren zu können, müssen wir die neue Mentalität und die neue Sprache eingehend untersuchen.«18
In seiner Einleitung zu den Feindanalysen verdeutlicht der Frankfurter Soziologe Detlev Claussen den besonderen Zugang der Analysen Marcuses:
»Die Naziideologie wird weder mit der Realität verwechselt noch wird sie mit Mitteln der klassischen Ideologiekritik bearbeitet; es wird versucht, ihre soziale Funktion zu bestimmen. Deswegen sucht Marcuse auch nach neuen Kategorien: In einer Fußnote schlägt er ›Haltung‹ als Terminus für Mentalität vor. Weder bringt der Nationalsozialismus ein theoretisches Bewußtsein hervor, das in Praxis umgesetzt wird, noch produziert er überhaupt ein an Wahrheit orientiertes Bewußtsein.«19
Die Schwächen der Weimarer Verfassung
Deutlich wird, dass sich die »deutsche Volksgemeinschaft« weder aus einem irrgeleiteten Glauben noch einem verblendeten Führerheroismus für die Nazis entschieden hat, sondern es war eine rationale, am Pragmatismus orientierte Entscheidung. Politisch legale Vorteilsnahme durch Vorurteilsbestätigung. Dafür war man bereit, Freiheit gegen Sicherheit zu tauschen. Nachdem die »Gefährder« dieser Sicherheit wie politisch Oppositionelle, engagierte Gewerkschafter und christliche Mahner inhaftiert waren, verabschiedete sich, u. a. mit dem Versprechen auf Vollbeschäftigung und Heroismus, auch die breite Masse der Arbeiterschaft von allen sozialistischen Utopien einer solidarischen Welt. Auf das unterwürfige, nie stark ausgeprägte Selbstbewusstsein des Bürgertums und dessen brüchiges Verhältnis zur Weimarer Demokratie sowie auf seine eigenen Enttäuschungen gegenüber einem Neuanfang und dem Scheitern der Novemberrevolution 1918 weist Marcuse in späteren Äußerungen immer wieder hin. Über den aufkommenden Antisemitismus finden sich dagegen nur wenige Stellungnahmen bei Marcuse. Explizit findet sich dies in jenen Jahren bei Leo Löwenthal, zum Beispiel in Briefen schon 1918 während seiner Militärzeit in Hanau, oder auch in seiner Zeit in Heidelberg, als er dort 1927 mit Frieda Fromm-Reichmann und Erich Fromm eng befreundet war. In seinen Ferienzielen auf den ostfriesischen Inseln, so erinnerte sich Löwenthal, hingen schon ab Mitte der 1920er Jahre die Hinweise »Juden unerwünscht«, so auf Borkum und Norderney.
Löwenthals 1946 verfasster Artikel Individuum und Terror20, der im Zusammenhang mit seiner Arbeit beim OWI steht, ist in weiten Teilen vor dem Hintergrund der Antisemitismusstudien aus der zweiten Hälfte der 40er Jahre zu verstehen. Als die grausamen Einzelheiten der Tötungsmaschinerie der Nazis sichtbar wurden, sah die Welt, dass der nationalsozialistische Terror Menschen tatsächlich als »leblose Objekte« behandelt hatte. Menschen sind zur Ware geworden, zu einem Verbrauchsgut. Aus den Schilderungen der Überlebenden, die Löwenthal im Auftrag des OWI interviewt, erfährt er, dass die konkreten Individuen zu anonymen Nummern degradiert worden waren, die dann als »nützliche« und »unnütze« Ware in der Vernichtungsmaschinerie verschwanden. »Wer keine Nummer bekam, war Ausschussware und wurde vernichtet«, schreibt Löwenthal in seinem erschütternden Text.21
Im Namen der »inneren Feinde«, die sich als Teil einer gigantischen jüdischen Weltverschwörung im »gesunden deutschen Volkskörper« eingenistet hatten, diskreditierte die nationalsozialistische Propaganda Prinzipien wie soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Wahlrecht, Gleichheit vor dem Gesetz und Garantien eines gerechten juristischen Verfahrens, die Pressefreiheit und damit auch Ideen einer demokratisch verfassten Gesellschaft, wie sie ansatzweise in der Weimarer Verfassung zu finden waren. Die propagierte Bedrohung durch die inneren und äußeren Feinde war die Schweißnaht zwischen dem, was die Nazis den Massen in Aussicht stellten, sowohl materiell als auch psychologisch, und den Demokratiedefiziten der Weimarer Verfassung. Dem Tempo der technischen-industriellen Dynamik folgte in Deutschland kein entsprechender gesellschaftlicher Veränderungsprozess, der feudale, aristokratische Überbleibsel und gewichtige Partikularismen beseitigt hätte. Marcuse sieht diese Entwicklung als eine »typisch deutsche Form der Technokratie« – die gesellschaftliche Anpassung an die Großindustrie, die »eine Transformation der Moral in Technologie zur Folge hat«.
Ich komme zu meinem letzten Punkt, den ich auch für die gegenwärtige Analyse zahlreicher aktueller Gesellschaftsentwicklungen als bedeutend ansehe: Für Marcuse bestand die Leistung der Nazis gerade darin, die Ebene zwischen Ideologie und gesellschaftlicher Wirklichkeit so zu verzahnen, dass sich im Verhalten der Menschen eine Art nüchterner Opportunismus als »aufrechte Haltung« verfestigte, getragen von einem scheinbar individuellen materiellen Eigeninteresse und einer die Gesellschaft prägenden, aber verschleierten irrationalen Rationalität, die sich in den Köpfen als heilsbringende Mythologie einbrannte: »Die extreme Sachlichkeit, mit der die Deutschen demokratische Freiheiten gegen wirtschaftliche Sicherheit eintauschten, wurde von der nationalsozialistischen Mythologie nicht bekämpft, sondern gefördert. Paradoxerweise macht nämlich die Erziehung zu zynischer Sachlichkeit den Geist der Mythologie aus. In ihren Leitbegriffen ersetzt sie die gesellschaftlichen Verhältnisse durch ›natürliche‹, scheinbar konkretere und anschaulichere Begriffe […]. Volk und Rasse werden zu ›Tatsachen‹ erklärt, denn die durch Herkunft und Ort bestimmte Geburt ist eine Tatsache, der gegenüber Klasse und Menschheit scheinbar nur abstrakte Ideen sind.«22
Bevor ich mit einem Zitat Marcuses enden werde, möchte ich Jürgen Habermas zu Wort kommen lassen. Ich sehe seine Anmerkungen in engem Zusammenhang der Veranstaltungen, die über »Demokratie leben!« auch hier in Koblenz stattfinden: »Im Bündnis mit einer pessimistischen Anthropologie gewöhnt uns der Neoliberalismus täglich mehr an einen neuen Weltzustand, in dem soziale Ungleichheit und Exklusion wieder als Naturtatsachen gelten. Der Wortlaut unserer Verfassungen legt eine ganz andere Betrachtungsweise nahe. Brauchen wir vielleicht doch eine renovierte Sprache, damit diese normative Sicht der Dinge gegenüber Zwängen zur Anpassung an funktionale Imperative nicht in Vergessenheit gerät?«23
Da ich niemals ein Referat zu Herbert Marcuse abschließe, ohne seinen träumerischen Optimismus zur Sprache zu bringen, folgt ein letztes Zitat aus seinem kleinen Beitrag Ist eine freie Gesellschaft gegenwärtig möglich? Verfasst wurde er mitten in der brutalen Vernichtungspolitik 1940: »Handelt es sich dabei [die Grundlagen der Freiheit; PEJ] nicht lediglich um subjektive Werturteile? Sie beruhen auf einer Annahme, die sich nie beweisen lassen wird, nämlich der, dass die Menschen frei sein sollten. Dieses ›sollten‹ ist zwar, mit positivistischen Kriterien gemessen, keine wissenschaftliche Behauptung, aber es ist die Voraussetzung allen Denkens und die Bedingung der Wissenschaft selbst. […] Der Ort der Wahrheit ist das Denken […].«24
1 Adorno u. a. (1950), S. 10.
2 Vgl. Bauman (2003).
3 Adorno u. a. (1969), Bd. 2, S. 209.
4 Löwenthal (2021), S. 26.
5 In sozialer Hinsicht bedeutet das heute, dass der Zugang zum gesellschaftlichen Leben, zum politisch gestaltbaren Raum und zur politischen Öffentlichkeit annähernd nur noch ökonomisch privilegierten Gruppen, Global Playern und/oder deren politischen Marionetten möglich ist. Der neoliberale Wahn, würden sich alle sozusagen »moralisch neutral« nach einem ökonomisch rationalen Nutzenkalkül verhalten, dann ginge es allen gut, verkennt die Bedeutung normativer Grundlagen oder, wie es Axel Honneth in seiner Anerkennungstheorie beschreibt: die Formen gesellschaftlicher Missachtung als Ursache eines gewaltigen Legitimitätsdefizits moderner Gesellschaften.
6 Gerade in den Krisenzeiten nach dem Ersten und vor dem Zweiten Weltkrieg verkündeten von Heidegger über Ernst Jünger bis Oswald Spengler viele Intellektuelle »den Untergang des Abendlandes« oder die Zerstörung der westlichen Zivilisation. Der »Zivilisationsbruch« (Dan Diner (1988)) und die »Zerstörung des moralischen Bewusstseins« (K. O. Apel (1988)) ereilte Europa allerdings in einem anderen Sinne: mit der barbarischen Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten.
7 Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den norwegischen Mörder Anders Breivik. Die »Bedrohung« des scheinbaren Untergangs des westlich-christlichen Europas stellen nach ihm »die Muslime« dar, aber daran, dass es so weit kam, sind die »toleranten Multikulturalisten« und die Kulturmarxisten wie die Vertreter der Kritischen Theorie, besonders auch Herbert Marcuse mit seiner »sexuellen Befreiung«, schuld. Die Kritische Theorie, namentlich Adorno und Marcuse, nennt er in seinem Pamphlet. Darauf wollte er mit seiner verbrecherischen Bluttat aufmerksam machen.
8 Arendt, Hannah (1943/1986), S. 7.
9 Vgl. Marcuse, Herbert (1998/2007).
10 Marcuse (1998/2007), S. 158.
11 Vgl. Jansen (1998/2007).
12 Marcuse (1998), S. 11.
13 Die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die zwischen 1995 und 2004 zu sehen war, dokumentiert die aktive Rolle weiter Teile der Wehrmachtsoldaten in dem Vernichtungsprozess und führte damals zu Aktionen rechter Gruppen. Die Zahl der Soldaten ist zitiert nach dem Offizier und Militärhistoriker Rüdiger Overmans.
14 Vgl. Adorno (1959/1963), S 125–146. Dem Beitrag liegt eine Rede zugrunde, die Adorno im Herbst 1959 vor dem Koordinierungsrat für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Wiesbaden gehalten hat.
15 Adorno (1981), S. 26.
16 Memmi (1987), S. 164.
17 Vgl. Adorno (1955/1977), S. 121–324, S. 276.
18 Marcuse (1998/2007), S. 42 ff. Genau das taten nicht nur Marcuse, sondern auch Franz Neumann und Otto Kirchheimer im OSS und Leo Löwenthal im OWI. Angeregt durch die Publikation der Feindanalysen untersuchen die weiterführenden und detailreicheren Publikationen von Müller, Tim B. (2010): Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg und Laudani, Raffaele (2016): Im Kampf gegen Nazideutschland: Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943–1949 weitere Memoranden und Texte der Frankfurter im OSS. Diese neuen Dokumente lagen in den Archiven in den USA.
19 Claussen, Detlev (1998/2007), S. 17.
20 Vgl. Löwenthal (1946/1982), S. 161–174.
21 Löwenthal (1946/1982), S. 168.
22 Marcuse (1998/2007), S. 42.
23 Habermas (1998), S. 239.
24 Marcuse (1998/2007), S. 169.
Die absurde Rationalität des Fortschritts
Herbert Marcuses weitsichtige Technologiekritik
Peter-Erwin Jansen
Prolog aus Der Krieg mit den Molchen1
»[…] Und ist Zivilisation etwas anderes als die Fähigkeit, Dinge zu gebrauchen, die andere ausgedacht haben? Selbst wenn den Molchen, nehmen wir an, eigene Gedanken fehlen, können sie recht gut eine Wissenschaft haben. Sie haben zwar keine Musik oder Literatur, aber sie kommen vorzüglich ohne sie aus. Und die Menschen beginnen sich der Ansicht zuzuneigen, daß das von den Salamandern eigentlich fabelhaft modern ist. Siehe da, schon kann der Mensch von den Molchen mancherlei lernen – kein Wunder: Sind denn die Molche nicht unerhört erfolgreich? Und woran sollen sich die Menschen ein Beispiel nehmen, wenn nicht am Erfolg? Noch nie in der Geschichte der Menschheit ist so viel erzeugt, gebaut und verdient worden wie in dieser großen Zeit. Es läßt sich nicht leugnen, mit den Molchen ist ein ungeheurer Fortschritt in die Welt gekommen und ein Ideal, das ›Qualität‹ heißt. ›Wir, die Menschen des Molchzeitalters‹, sagt man mit berechtigtem Stolz. Da kann sich das überlebte Menschenzeitalter mit seiner langsamen, läppischen, nutzlosen Tändelei, die sich Kultur, Kunst, reine Wissenschaft oder wie sonst noch nannte, verkriechen! Die echten, bewußten Menschen des Molchzeitalters werden ihre Zeit nicht mehr mit Grübeleien über das Wesen der Dinge vergeuden, sie werden allein mit deren Anzahl und Massenerzeugung genug zu tun haben. Die ganze Zukunft der Welt liegt darin, Erzeugung und Konsum ständig zu erhöhen, und deshalb muß es noch mehr Molche geben, damit sie noch mehr erzeugen, noch mehr fressen. […] Was fehlt also noch, damit das ›glückliche neue Zeitalter‹ allgemeiner Zufriedenheit und Prosperität wirklich eintritt? […]«2
Verehrtes Publikum, herzlichen Dank an Frank Kämpfer, der vorschlug, mich an dem Projekt Echo 68 mit einem Beitrag zu Überlegungen um die Arbeiten von Herbert Marcuse zu beteiligen. Ich sage bewusst: mich hier nicht nur mit einem Beitrag zu Marcuses Rolle während der 68er Studentenrevolte zu engagieren. Die Reduzierung dieses kritischen Gesellschaftstheoretikers auf die Rolle des Gurus der Revolte, des dritten Ms nach Marx und Mao ist eine krude Verkürzung des philosophischen Denkens Marcuses. Einer derjenigen, die diese spektakuläre Alliteration sarkastisch deutete, war Marcuses langjähriger Freund Leo Löwenthal, neben Adorno und Horkheimer, einer der Begründer kritischer Gesellschaftstheorie während der 1930er Jahre. Später gelabelt als Frankfurter Schule. Der weise Freund Leo schrieb dem greisen Freund Herbert – eine Anspielung auf die zwei Jahre, die Löwenthal jünger war als Marcuse – kurz nach Marcuses Teilnahme an dem spektakulären Londoner Kongress Dialectics of Liberation3 im August 1967:
»Lieber Herbert, die Bezeichnung ›Messias‹ in Deinem lieben Brief vom 10. August fügt Dir nun ein weiteres ›M‹ hinzu. In einer deutschen Zeitung sah ich einen Artikel, der über die neue ›M-Tradition‹ berichtete, nämlich Marx, Mao und Marcuse! Das macht mich zutiefst ehrfürchtig.« Marcuse hatte in seinem Brief erwähnt, er sei in London wie ein »Messias« empfangen worden. Mit einem kritischen Seitenhieb gegenüber den Protagonisten der Bewegung fährt Löwenthal fort: »Nebenbei bemerkt, anhand der Presseberichte stelle ich fest, daß Du die gleichen Gefühle gegenüber unseren jungen Freunden in Deutschland hast wie ich, die wegen all der Bäume weltumspannender Ideologien den Wald eines qualitativen Lebens nicht sehen«.
Nun genug mit 68 – egal, ob Mythos, Chiffre oder Revolte! Die Barrikadenkämpfe sind gefochten, die politischen Forderungen sind angekommen, die Protagonisten haben ihre Funktionsstellen; manche sind wieder draußen, altersbedingt. Keine Neuauflage also nach fünfzig Jahren! Keine Konkurrenzen mehr zwischen K-Gruppen, Spontis, Ökokämpfern, Friedensaktivisten. Mit einem Augenzwinkern sei Marcuses Kritik an der Neuen Linken von 1974 zitiert. Den Zerfallsprozess der Neuen Linken vor Augen, aber getragen von einem altersstarsinnigen Optimismus schreibt der 76-Jährige: »Die Neue Linke ist nicht gescheitert; gescheitert sind ihre aus der Politik geflohenen Anhänger.«4
In den politischen Institutionen herrscht entweder störrische Ruhe oder apokalyptische Beunruhigung. Der Kapitalismus und diejenigen, die davon profitieren, sehen die hiesige Gesellschaft bedroht und verteidigen ihn mit allen Mitteln. Der drohende »Untergang des Abendlandes« birgt im wahrsten Sinne des Wortes Sprengstoff.
Doch in der kapitalistischen Hängematte lässt sich prima nach vorn schauen: »Wir leben und sterben rational und produktiv. Wir wissen, dass Zerstörung der Preis des Fortschritts ist wie der Tod der Preis des Lebens, dass Versagung und Mühe Vorbedingungen für Genuss und Freude sind, dass die Geschäfte weitergehen müssen und die Alternativen utopisch sind. Diese Ideologie gehört zum bestehenden Gesellschaftsapparat; sie ist für sein beständiges Funktionieren erforderlich und ein Teil seiner Rationalität«5: einer irrationalen Rationalität. Auf diesen Begriff, der in den Werken Marcuses immer wieder angesprochen wird und im Laufe seiner Publikationen eine interessante Interpretationsverschiebung erfährt, werde ich im Laufe des Vortrages zurückkommen. Nun sind sie alle tot: Marx ist tot – nicht in diesem Jahr, er lebt, hat seinen zweihundertsten Geburtstag. Mao ist tot – nicht so ganz, die Mao-Bibel verkauft sich noch gut und am 26. Dezember 2018 wurde er vor 125 Jahren geboren –, Marcuse ist tot – nicht so ganz, er wäre in diesem Jahr, am 19. Juli, 120 Jahre alt geworden. Und seit Nietzsche wissen wir: Der Messias kann nicht mehr kommen, denn Gott, der ihn schickte, ist auch tot.
Was bleibt mir hier? Ich rette mich mit dem Spruch: Totgesagte leben länger, wenn auch nicht physisch, so doch in einigen Gedanken zur fortgeschrittenen Industriegesellschaft, die Herbert Marcuse vor mehr als fünfzig Jahren durchdacht, analysiert und damit späteren Generationen kritische Denkwerkzeuge mit auf den Weg gegeben hat. Vieles von dem ist durch die Selbstinszenierung nicht weniger 68er Helden und ihrer immer wieder auftauchenden Gegenspieler sowie der Jahrestagfetischisten verschüttet worden. Eine Falle, die auch bei Marcuse zuschnappte: Die Funktionalisierung zum politischen Übervater der Bewegung überschattet bis heute viele seiner kritischen Analysen und philosophischen Überlegungen.
Dialektiker der Aufklärung
Denn er ist von Haus aus Philosoph, auch wenn er 1922 mit Der deutsche Künstlerroman in Literaturwissenschaften an der Universität Freiburg promoviert. Danach kehrt Dr. Marcuse in seine Geburtsstadt Berlin zurück und führt ein Antiquariat mit einem wöchentlichen Diskussionszirkel. Ab 1927 studiert er erneut in Freiburg u. a. bei Edmund Husserl, Karl Jaspers und Martin Heidegger. Bei Letztgenanntem beabsichtigte er zu habilitieren. Das Verfahren scheitert, auch aufgrund von Heideggers Sympathien mit den Nationalsozialisten und dessen antisemitischen Anspielungen. Die Emigration erfolgt 1934 über Genf nach New York. Während Marcuses erster Deutschlandreise nach dem Zweiten Weltkrieg besucht er 1947 seinen ehemaligen Philosophieprofessor in Todtnauberg. Nach einem Briefwechsel über Heideggers Verstrickung ins NS-System bricht der Kontakt 1948 völlig ab. Bei Heidegger hatte Marcuse die Klassiker der griechischen Antike gelesen und sich erstmals mit dem Begriff der techné auseinandergesetzt. Mit Kant, Schiller, Hegel und Marx kannte er sich blendend aus.
Schauen wir uns die fünfmalige zehnjährige Wiederkehr des Immergleichen nach 68 an, so scheint Horkheimers und Adornos These aus dem Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung nicht ganz falsch zu sein: »Kultur schlägt heute alles mit Ähnlichkeit«6. Nivellement hat Hochbetrieb, nicht nur bei den Erzählungen vieler Alt-68er, sondern auch im Identifizieren von Schuldigen, die schnell für ein mittlerweile undurchsichtiges Geflecht von weltpolitischen Problemen ausgemacht werden. Ganz im Geiste der Dialektik der Aufklärung findet sich in den Werken Marcuses nach dem Zivilisationsbruch von Auschwitz (Dan Diner) jener kritische Stachel, der das euphorische Kant’sche und der Aufklärung geschuldete Diktum, der Mensch könne unter zur Hilfenahme seiner Vernunft sich »aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« befreien, scharf hinterfragt. Die Antwort der Kritischen Theorie auf das Scheitern dieses aufklärerischen Vernunftglaubens, das Versprechen einer rationalen, auf Mythos- und Herrschaftsfreiheit basierenden Gesellschaft, welches in den Konzentrationslagern endete, findet in der »Dialektik der Aufklärung« ihren sperrigen Ausdruck. Diesem Geiste sind auch Marcuses Arbeiten verpflichtet.
Schon in den 1940er Jahren erstellten Dossiers für das Office of Strategic Services (OSS), das in einer Forschungsgemeinschaft Hunderte von Wissenschaftlern aus Europa in Washington zusammenführte, um Wissen über das nationalsozialistische Deutschland zu sammeln, identifiziert Marcuse die für den technischen Erfolg notwendigen und in sich logischen Handlungsabläufe, die effizient und wirkungsvoll sein sollen, aber in ihrem Gesamtergebnis zerstörerisch wirken, als eine »rationale Irrationalität«. »Eine Rationalität, die alles an Kriterien von Effizienz, Erfolg und Nützlichkeit misst«7, folge nur einem pragmatischen Zweck: die Mittel erfolgreich einzusetzen. Letztlich griff im NS-System alles gut ineinander: vom Lösen der Fahrscheine für die Deportationszüge bis zu den Gaskammern, von der politischen Ideologie bis zu den Eroberungskriegen des Militärs. »Technokratie« nannte Marcuse diese Verflochtenheit von Politik und Großindustrie in dieser Zeit.
Die Katastrophen des zwanzigsten und 21. Jahrhunderts bestätigen die Aktualität dieser Kritik. Kriege, Konzentrationslager, Atomwaffen und aktuell globale Umweltkrisen bedrohen das Aufklärungsprojekt, das einmal mit der Idee einer vernünftig organisierten und freien Gesellschaft verbunden war. Dennoch klammern sich die Verantwortlichen in Politik und Ökonomie an eine quantitative Rationalität, an eine instrumentelle Vernunft (Horkheimer), die sich dem Primat der Verwertbarkeit beugt und sich vor den scheinbar alternativlosen Sachzwängen des Kapitalismus tief verneigt. Und die nationale Brille sitzt auch wieder fest auf der Nase.
Schauen wir kurz auf den Begriff Rationalisierung, der von Max Weber entwickelt wurde. Für ihn stellt Rationalisierung ein systematisches Ordnungsprinzip, ein Steuerungsinstrument für den Einsatz von Ressourcen sowie die Anwendung von Handlungsprinzipien und Wissensbeständen auf soziale Prozesse dar. Weber nahm an, dass Organisationen in den modernen Gesellschaften des »rationalen Betriebskapitalismus« (Dirk Kaesler)8 eine strenge Regulierung von oben erfordern. Das sinnhafte, rein zweckrationale Handeln, nachdem sich die Menschen richten, bliebe so vor Störungen wie irrationalen Affekten »gestählt«9. Diese Sicht wird von Marcuse kritisiert und Rationalisierung als reines Berechnungs- und Kontrollinstrument gedeutet, das für den Erhalt des Kapitalismus notwendig wurde und selbst die Werteeinstellungen der Menschen erfasst. Marcuse spricht von einer Transformation von Moral- und Wertvorstellungen in Technologie.10 Der menschliche Arbeitsprozess, der die Mühen des Reichs der Notwendigkeit erleichtern soll, wird im beginnenden Kapitalismus der Operationalisierung der Maschine unterworfen. Diese bestimmt den Takt des Arbeitsprozesses und ihr gleichen sich die menschlichen Verhaltensweisen an. Ein Motiv, das in Charlie Chaplins Moderne Welten mit genialem Witz filmisch umgesetzt wurde.
Die historischen Ereignisse haben jenen ungebrochenen Fortschrittsglauben, der eng an die technische Entwicklung gekoppelt war, sei er nun damals kommunistisch mit der Elektrifizierung der Eisenbahn oder heute markt- und neoliberal mit den Dieselfahrzeugen unterwegs, ad absurdum geführt. Immanuel Kants Optimismus, der Gebrauch der öffentlichen Vernunft könne helfen, Missstände in einer von Vernunft bestimmten, argumentativen Auseinandersetzung transparent zu thematisieren, ist längst getrübt. Doch das Ideal bleibt: Die öffentliche Debatte zwischen freien Individuen in einer demokratisch verfassten Gesellschaft ist immer noch ein Imperativ der kritischen Vernunft. Der Maßstab des Gelingens dieser Debatte bleibt der Idee der Freiheit, der Solidarität und den Menschenrechten verpflichtet.
Mittlerweile hat sich der Streit um Meinungsfreiheit in der politischen Positionierung und im Kulturbetrieb voraufklärerisch radikalisiert. Das ist auch Resultat der Möglichkeiten moderner Informationstechnologie und sozialer Netzwerke, die nicht selten im Schutz der Anonymität und in einer Art autopoetischen Manipulationslernen Usermeinungen als Tatsachen verbreiten. Mit Fake News und schnellen Tweets wird gezielt Desorientierung gestiftet, die bald als frei flottierende und irritierende Wahrheiten einen konkurrierenden Informationshorizont erschaffen.11