Kitabı oku: «Über Herbert den Greisen und Leo den Weisen», sayfa 4
Eine wilde Kakophonie zieht durchs Land
Nun treibt das Echo aus 68 seltene Stilblüten. Jungminister rufen die »konservative Revolution« aus. Nach fünfzig Jahren müsse zu Ende sein, was einst die Dutschkes, Teufels, Roths, Sanders, Fischers, Cohn-Bendits und die an der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule orientierten Wissenschaftler während ihrer Wanderjahre durch die Institutionen an linker Politik hinterlassen haben. Schluss mit den »Meinungsverkündern, selbst ernannten Volkserziehern und lautstarken Sprachrohren einer linken Minderheit«, so Alexander Dobrindt. Bei AfD-Chef Jörg Meuthen ist die Sprache deftiger. Ende mit dem »rot-grün versifften Deutschland«.
Eine Kakophonie von lautstarken Halbstarken ertönt mal wieder durchs Heimatland: Die 68er Bewegung habe die Republik fest im Griff, betreibe »Gesinnungsprüfung« in den Medien, habe einen »Gesinnungskorridor« errichtet, durch die alle Meinungen durchgezwungen würden, Flüchtlinge seien schuld am Rentenloch, an der Wohnungsknappheit, an Hartz IV und der Begriff »Schutzsuchende« verharmlose den politischen »Warnbegriff Flüchtling«. Das linke »moralische Narrativ« brandmarke einen national geprägten Egoismus als schlecht, stelle diese Menschen gleich in eine rechte Ecke und die Nazis entstünden erst, weil die Dominanz der links-liberalen Medien die kritischen Positionen von rechts zensierten, selbst zivilgesellschaftliche Organisationen seien Ergebnis einer anti-nationalen »Lobbypolitik«, die einen selbstkasteienden Gedenkterror betreibe, so einige unzensierte öffentliche Aussagen des Schriftstellers Uwe Tellkamp. Gerade öffentlich gesagt, kommt hinterher, das dürfe man gar nicht und nirgends sagen. So wird dann angeprangert, dass dieses Land unter strenger Zensur der 68er stehe. Schauen wir uns die Länder an, die Meinungsfreiheit verwehren, wo Journalisten ermordet wurden, weil sie Missstände, Korruption, Misshandlungen, Morde aufdecken. 2017 in Malta Daphne Caruana Galizia, in der Slowakei Ján Kuciak und Freundin Martina Kušnírová und alleine in Mexiko sechs Journalisten. Laut Reporter ohne Grenzen wurden im letzten Jahr 65 Journalisten und Blogger getötet, weil sie kritisch über die Politik in ihren Ländern berichteten oder dazu recherchierten12 und ihnen eine freie Berichterstattung verwehrt wurde.
In seiner Rede am 8. März in Dresden prangert der bedrohte Uwe Tellkamp vehement die Einschränkung der Meinungsfreiheit in der hiesigen Gesellschaft an. Hat es denn keine Entwicklung in der Informationstechnologie gegeben, die er selbst nutzt? Des Schriftstellers freie Meinung, untermauert von Sensationsheadlines, konnte er gefahrlos ohne jede Störung oder Zwischenrufe in aller Bedächtigkeit ausführen. Unzensiert findet sie sich im Netz, für alle zugänglich. Doch eigene Ängste verallgemeinern und Ängste schüren, erklärt nichts. Diffuse Ängste zu personalisieren, damit man weiß, wer der Feind ist, stellt bloß eine entlastende Variante politischer Vereinfachung dar. Im Zusammenhang mit propagierten Ängsten vor Veränderung, Neuem, Unsortiertem, Fremden schreibt Leo Löwenthal in seiner Arbeit Prophets of Deceit von 1950: »Die gefährlichste Abart des Fremden ist in den Augen des Agitators der Flüchtling«.13
Löwenthal und Marcuse waren Flüchtlinge, als Juden und kritische Intellektuelle aus dem Kreis der Frankfurter Schule wurden sie von den Nazis 1933 zur Flucht und ins Exil gezwungen. Hannah Arendt, die ebenfalls vor den Nationalsozialisten in den Staaten Schutz fand, schreibt in ihrem 1943 verfassten Aufsatz Wir Flüchtlinge: »Als Flüchtling hatte bislang gegolten, wer aufgrund seiner Taten oder seiner politischen Anschauungen gezwungen war, Zuflucht zu suchen. Es stimmt, auch wir mussten Zuflucht suchen, aber wir hatten vorher nichts begangen, und die meisten unter uns hegten nicht einmal im Traum irgendwelche radikalen politischen Auffassungen. Mit uns hat sich die Bedeutung des Begriffs ›Flüchtling‹ gewandelt. ›Flüchtlinge‹ sind heutzutage jene unter uns, die das Pech hatten, mittellos in einem Land neu anzukommen, und auf die Hilfe der Flüchtlingskomitees angewiesen waren.«14
Sowohl in den angsttreibenden Statements freier Bürger als auch bei den zahlreichen Erinnerungsmeetings in den revolutionären Alten-WGs bleibt unbeachtet, was der 2012 verstorbene Philosoph und Marx-Kenner Alfred Schmidt, für selbst-tätiges Denken als unabdingbar ansah. Es ist die Anstrengung des Begriffs (Hegel) oder wie der oben schon erwähnte Kant in seinem wunderbaren Aufsatz Was ist Aufklärung? bemerkt: Den eigenen Verstand zu nutzen, hieße, diesen nicht von Dummheit, Faulheit, Bequemlichkeit und Ängsten überwältigen zu lassen.
Michel Foucault brachte zu Beginn der 1970er Jahre den Terminus technicus »Archäologie« in die sozialphilosophische Diskussion. Diese stellt eine Forschungsmethode dar, die Beschränkungen von Freiheit und die Blockaden von individuellen und gesellschaftlichen Handlungsoptionen aus einer Macht- und Disziplinierungsperspektive heraus untersucht. Obwohl Marcuses methodisches Vorgehen eher der dialektischen Methode Hegels folgt, finden sich Parallelen zu Foucaults Analysen. »Der Eindimensionale Mensch wird durchweg zwischen zwei einander widersprechenden Hypothesen schwanken: 1. dass die fortgeschrittene Industriegesellschaft imstande ist, eine qualitative Änderung für die absehbare Zukunft zu unterbinden; 2. dass Kräfte und Tendenzen vorhanden sind, die diese Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen können. […] Die erste Tendenz ist die herrschende, und alle Vorbedingungen eines Umschwungs, die es geben mag, werden benutzt, ihn zu verhindern.«15
Die neuen Technologien – Fortschritt?
Soziale Kontrollen und eine geplante Obsoleszenz, also gezielt eingebaute Verschleißfunktionen in den Konsumgütern, graben sich mit verfeinerten und »autodidaktischen« Technologien immer verdeckter in den Alltag ein. Die subtilen Anwendungen verbannen gesellschaftliche Alternativen in die unterirdischen Gänge der Geschichte (Walter Benjamin). Sie auszugraben, freizulegen, zu überprüfen, neue zu erarbeiten, die aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen auf den Begriff zu bringen, um Auskunft darüber zu erhalten, wer oder was denn die Schatten in der Höhle unserer Wohlstandsfluchtburgen verursacht, das ist nicht einfacher geworden, aber umso dringender. Niemand soll heute aus der Höhle entkommen. Sie ist die virtuelle Wirklichkeit, die leicht zu steuern ist und in der sich unbekümmert leben lässt. Diese Unbekümmertheit bröckelt. Aber anstatt zu fragen, was der Grund dafür ist, ist längst ausgemacht, wer daran schuld ist.
Die Menschen rücken in den neuen Welten näher zusammen. Das ist auch Folge eines globalen Kapitalismus, von dem der reiche Norden aufgrund seines ungezügelten Fortschrittsglaubens, seines Machbarkeitswahns, seines Wachstumsfetischismus, seiner Ausbeutung, seiner Zerstörung, seines Konsumzwangs profitiert. Bleibt uns noch Zeit, die Realitäten in dieser schnelllebigen Welt zu sortieren, die im Zeitalter des Digitalismus, des Web 4.0 in rasendem Tempo neu geschaffen werden?
Der in Jena lehrende Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa greift in seinem Band Beschleunigung und Entfremdung16 eine lange Tradition auf, die zahlreiche vergangene Philosophien schon zu erklären versuchten: Wie verändert sich durch beschleunigte technische Entwicklungen die Bedeutung von Raum und Zeit als Ordnungskategorien menschlicher Wahrnehmung und gesellschaftlichen Zusammenlebens? Mit dem Terminus »technische Beschleunigung« identifiziert Rosa die rasanten Eingriffe in die Lebenswelten unseres Zeitalters, die sich besonders durch die modernen Logistik- und Kommunikationsprozesse bemerkbar machen. Für Kant waren Raum und Zeit a priori – also vor aller Erfahrung – die transzendental notwendigen Bedingungen, die alle unsere Vorstellungen von der gegenständlichen Welt begleiten sollten. Heute werden die Bedeutung des Raumes und die Erfahrung im und mit Räumen für die menschliche Wahrnehmung und Orientierung von einem digitalisierten Zeitraffer an den Rand gedrängt. Rosa schreibt: »Im Zeitalter der Globalisierung und der Ortlosigkeit des Internets wird Zeit mehr und mehr so verstanden, dass sie den Raum komprimiert oder gar vernichtet.«17
Die Möglichkeiten, Arbeitsabläufe heute schneller zu verrichten als zum Beispiel vor dreißig Jahren, müssten doch zu freien Zeitkapazitäten ohne Arbeitsstress für den Menschen führen, neue Perspektiven im Reich der Freiheit eröffnen. Stattdessen werden Arbeitsabläufe, Privatleben und Freizeitverrichtungen in ein Zeitkorsett gezwängt, das immer weiter zugeschnürt wird. Anstatt freier atmen zu können, bleibt uns die abgasgetränkte Luft weg.
Im Arbeitsprozess nimmt der Zeitdruck auf die Individuen nicht ab, sondern er verstärkt sich. Karl Marx hatte schon 1857 in den Grundrissen auf dieses Phänomen hingewiesen und es als eine Folge der Ausweitung des Weltmarktes interpretiert. »Während das Kapital einerseits danach streben muss, jede örtliche Schranke des Verkehrs i. e. Austauschs niederzureißen, die ganze Erde als seinen Markt zu erobern, strebt es andererseits danach, den Raum zu vernichten durch die Zeit; das heißt die Zeit, die die Bewegung von einem Ort zum anderen kostet, auf ein Minimum zu reduzieren. Je entwickelter das Kapital, je ausgedehnter der Markt, auf dem es zirkuliert, der die räumliche Bahn seiner Zirkulation bildet, desto mehr strebt es zugleich nach größerer räumlicher Ausdehnung des Marktes und nach größerer Vernichtung des Raums durch die Zeit.«18
Vergewissern wir uns die Situationen, Bilder, Ereignisse, Umweltkatastrophen, denen sich Menschen weltweit im Namen des sogenannten ökonomischen Fortschritts ausgesetzt sehen, dann ist Hannah Arendts oben zitierter Blick auf Menschen, die in Zukunft gezwungen sind, ihren Ort zu verlassen, ein sehr aktueller. Die »unterentwickelten« Gebiete werden ihrer wertvollen Ressourcen beraubt, die Natur zerstört – alles im Namen des Fortschritts. »Die institutionalisierte Zerstörung [schließt] die allgemeine Vergiftung und Verschmutzung unserer Umwelt [mit ein].«19
Brennstoffe, Erze, Holz, seltene Erden, selbst vor existenznotwendigen Ressourcen wie Wasser, Nahrung und Klima machen die neoliberalen, kapitalistischen reichen Länder des Nordens und die dominierenden Global Player nicht halt. Im Norden ist der Wohlstand gesichert. Ein sozialer Wandel, gar eine grundlegende Veränderung zugunsten der armen Länder des Südens, nicht in Sicht. Pessimistisch bemerkt Marcuse im Eindimensionalen Menschen: »Die Unterbindung des sozialen Wandels ist vielleicht die hervorstechendste Leistung der fortgeschrittenen Industriegesellschaft […]«.20 Es ist der ungebrochene Wachstumsglaube, der die reichen Gesellschaften zusammenschweißt. Im Namen einer technologischen Machbarkeitsreligion werden die sogenannten rückständigen Länder mit modernem Technologietransfer missioniert. Der Mensch schafft es nicht bis zum »Homo Deus« – bestenfalls die Maschinenmenschen, die er kreiert.
Viele, aber längst nicht alle, profitieren von den technischen Innovationen: nicht nur die Global Player der Netztechnologie und deren Betreiber wie Mark Zuckerberg (Facebook), Jeff Bezos (Amazon), Larry Page (Google), Peter Thiel (Paypal), auch die Regierungen in den Industriestaaten, einheimische Unternehmen, Angestellte, Arbeiterschaft, Autofahrer, Handynutzer, Urlauber – und wir wissen genau auf wessen Kosten.
»In der Überflussgesellschaft kommt der Kapitalismus zu sich selbst. […] Diese Gesellschaft ist insofern obszön, als sie einen erstickenden Überfluss an Waren produziert und schamlos zur Schau stellt, während sie draußen ihre Opfer der Lebenschancen beraubt […].«21
In dem lesenswerten Beitrag von Adrian Lobe Amerika ist abgebrannt, wir leben jetzt in Google-Land22 wird der millionenschwere Investor Tim Draper zitiert: »Ich würde einen Google-Staat sehr begrüßen.« Alles, was heute Staaten mehr schlecht als recht für ihre Bürger an Leistung erbringen, das könne längst die Suchmaschine Google leisten. Die Datenmengen und Datenbanken wissen über die Bedürfnisse der Menschen viel besser Bescheid als der Staat, ja, als diese selbst. Zu Recht verweist Lobe auf eine 1967 verfasste Arbeit23 von Paul Baran, einem guten Freund Marcuses und Löwenthals. Er stellt dort die Prognose auf, dass wir auf ein Zeitalter zusteuern, in dem »die Informationsverarbeitung und Nutzung in demselben Masse verfügbar werden, wie wenn jemand Strom kauft«. Die Datenkunden von Facebook und DHL machen es uns vor.
Mit der Entwicklung des technischen Fortschritts in den nächsten Jahrzehnten lesen sich Yuval Noah Hararis Aussichten in seinem umfassenden und imposanten Buch Homo Deus erschreckend realistisch: »Liberale Gewohnheiten wie demokratische Wahlen werden obsolet werden, denn Google wird in der Lage sein, sogar meine politischen Überzeugungen besser zu repräsentieren als ich selbst.«24 Eine Studie zum Facebook-Algorithmus kommt gar zu dem Ergebnis, dass bei dreihundert Likes »der Facebook-Algorithmus Ihre Meinungen und Wünsche besser vorhersagen kann als Ihr Mann oder Ihre Frau«.25
Die Dataisten kommen
Mittlerweile wird der noch vor einem Jahrzehnt gefeierten Euphorie über die informationstechnische Demokratisierung mit verhaltener Skepsis und Kritik begegnet. Was machen die Dataisten von Facebook mit neunzig Millionen und mehr Daten? Wird daraus politisches Steuerungswissen? Manipulieren sie menschliche Bedürfnisse? Produzieren sie bloß Konsumwünsche, die bereits Teil unserer ersten Natur geworden sind? Die Suche nach dem Urlaubsziel wird übersetzt in Algorithmen, die bald besser wissen, wohin die Reise gehen soll. Aus dem handelnden, mündigen Konsumenten wird plötzlich ein entmündigtes Produkt. Nicht mehr das Konsumbedürfnis, wie auch immer es bisher zustande kam, sondern das Produktbedürfnis bestimmt den Erwerb eines Konsumgutes. Die Produkte werden mit Bewusstsein ausgestattet, der Konsument wird zum bewusstlosen Objekt.
»Die immer neu geschaffenen und sogleich darauf unerfüllten Bedürfnisse, etwa nach einer Facebook-Funktion, die Nearby Friends anzeigt, nach internetfähigen Uhren, nach neuen, smarten Apps, lassen vergessen, dass mit der schwindenden Privatsphäre auch die Freiheit und Individualität verloren gehen. Wir sind Virtuosen des Virtuellen – Meister der Bewusstlosigkeit. […] Die Warenpluralität mit imperativem Konsumappell transportiert eine glückliche Botschaft: Wir haben keinen Grund zur Klage […].«26
Facebook trifft keine Schuld, sondern die User machen sich selbst gläsern, weil die Rationalität des Kapitalismus es erforderlich macht. Einfach abschalten könnte helfen – aber ist das noch möglich?
Anhänger des Dataismus drehen den Erwerb von Wissen und die Reflexion über mögliche Erkenntnisse daraus einfach um. Big Data sammelt menschliches Wissen. Big Data wird befähigt zu gestalten, politische Entscheidungen zu treffen, von denen wir in einer Tausendstelsekunde später überzeugt sind, wir hätten diese selbst getroffen. Hararis düstere Prognose: Die Welt rings um die Menschen herum verändere sich so, dass sie nicht mehr verstünden, »wie und warum das alles« geschehe.
Als Frankfurter darf auch in Köln Goethe zitiert werden:
»[…] Ach, ich merk es! Wehe! wehe!
Hab ich doch das Wort vergessen!
Ach, das Wort, worauf am Ende
Er das wird, was er gewesen.
Ach, er läuft und bringt behende!
Wärst du doch der alte Besen!
[…] O, du Ausgeburt der Hölle!
Soll das ganze Haus ersaufen?
Seh ich über jede Schwelle
Doch schon Wasserströme laufen.
Ein verruchter Besen,
Der nicht hören will!
Stock, der du gewesen,
Steh doch wieder still!«
Alten Hexenmeister sind neue gefolgt, die nicht mehr auf die Worte der Zauberlehrlinge hören. Es mag sein, dass die Worte schon veraltet sind, bevor sie verstanden werden können. Und an wen sind sie gerichtet? An Alexa?
Das globale Datensystem muss sich weiterentwickeln. Es ist das intrinsische Prinzip des Dataismus, wie der Konsum und das Wachstum das des Kapitalismus. Gesellschaftliches Nachdenken findet keine Zeit. Millionen neuer Daten bieten wieder neue Ergebnisse, neue Produkte, neue Wege an. Es sind Highways ohne Limit. Künstliche Intelligenz, die lernend entsteht, braucht den Speed Dataismus. »Manche Menschen versetzt diese Entwicklung tatsächlich in Angst und Schrecken, aber Tatsache ist auch, dass Millionen Menschen sie bereitwillig akzeptieren«27, so Harari.
Die qualitativen Erfolge der Zivilisation weichen den quantitativen und operationalisierbaren Forderungen des Neo-Kapitalismus. »In der gegenwärtigen Periode erscheinen die technologischen Kontrollen als die Verkörperung der Vernunft, selbst zugunsten aller sozialen Gruppen und Interessen – in solchem Maße, dass aller Widerspruch irrational erscheint und aller Widerstand unmöglich.«28
Eindimensionalität ohne Alternative?
Besonders im Eindimensionalen Menschen entwickelt Marcuse Argumente, die in der angewandten modernen Technik nicht mehr das Instrument der Herrschenden, sondern die Gestalt gewordene Herrschaft selbst erblickt. Die »Neutralität der Technik«, wie sie Jürgen Habermas in Technik und Wissenschaft als Ideologie29 interpretiert hat, ist für Marcuse längst parteiisch geworden. »Heute verewigt und erweitert sich die Herrschaft nicht nur mittels der Technologie, sondern als Technologie, und diese liefert der expansiven politischen Macht, die alle Kulturbereiche in sich aufnimmt, die große Legitimation.«30 Habermas interpretiert in seinen frühen Werken Wissenschaft und Technik im Wesentlichen als indifferent gegenüber gesellschaftlichen Interessen und gegenüber ideologischer Funktionalisierung. Er folgt damit weitgehend Webers Deutung, die ich vorher knapp angesprochen habe. Im Sinne von Rationalisierungsprozessen der Moderne werden Technik und Wissenschaft als Systeme in Absehung ihrer Inhalte und Verwertungsinteressen interpretiert. Aber, so kritisiert Marcuse, sobald diese im Kontext der historisch-gesellschaftlichen Realität analysiert würden, falle der neutrale Schleier der Technik. Die Fragen lauten dann: Wer fordert, entwickelt technische Innovation? Wem nutzt und wer verwendet die Technik zu welchem Zweck während welcher historischen Konstellation? Eine »neutrale Technik« stellt für Marcuse eine »falsche Abstraktion« dar, die von den wirklichen gesellschaftlichen und machtdominierten Prozessen im Kapitalismus absieht. »Technik als solche kann nicht von dem Gebrauch gelöst werden, die von ihr gemacht wird; die technologische Gesellschaft ist ein Herrschaftssystem, das bereits im Begriff und Aufbau der Techniken am Werke ist.«31
Hier sei auf eine doppelte Verwendung des anfangs erwähnten Begriffs »rationale Irrationalität« hingewiesen. Sie ist der gesellschaftlichen Entwicklung und dem Abstand von fast 25 Jahren geschuldet. In den 1940er Jahren kritisiert Marcuse mit dieser Formulierung einzelne effiziente und erfolgreiche Handlungsabläufe, die ein gesamtes System, begleitet von Gewalt und Terror, am Laufen halten. Was aber den Gesamtprozess als irrational, der menschlichen Vernunft und Vorstellungskraft entzogen, erscheinen lässt, sind seine barbarischen Folgen. Marcuse hatte die Handlungsabläufe des NS-Systems vor Augen, das in all seinen einzelnen Schritten gut funktionierte und dann in der Barbarei der Tötungsmaschinerie endete.
In den Arbeiten der Sechzigerjahre, in seiner Kritik an der kapitalistischen Konsumgesellschaft und verwalteten Welt hält Marcuse an dem Begriff der »rationalen Irrationalität« zwar fest: »[…] die rationalen Fähigkeiten verbergen die Irrationalität des Ganzen«32, aber die nun entstandene Eindimensionalität wirke bis in die Triebstruktur und beeinflusse die Bedürfnisbefriedigung der Menschen.
»Soziale Kontrollen [erzwingen] das überwältigende Bedürfnis nach Produktion und Konsumtion von unnützen Dingen; … [eine] freie Auswahl zwischen gleichwertigen Marken und nichtigem Zubehör bei grundsätzlichem Konsumzwang.«33 Aus der rationalen Irrationalität entsteht in der Überfluss- und Konsumgesellschaft eine irrationale Rationalität. Diese Verschiebung, so könnte man Marcuse interpretieren, besteht darin, dass die »wahren (Existenz-) Bedürfnisse zu falschen (Konsum-)Bedürfnissen« geworden sind. Die Befriedigung der künstlich erzeugten (Konsum-)Bedürfnisse und der Folgen wird irrational, erweist sich aber für das kapitalistische System im Ganzen als rational. »Die Menschen erkennen sich in ihren Waren wieder; sie finden ihre Seele im Auto, ihrem Hi-Fi-Empfänger, ihrem Küchengerät.«34
Heute sind es andere Waren, die zur ersten Natur des Menschen geworden sind. Aber in der Werbung von Bora, dem Hersteller der Abzugshaube nach unten, stimmt das auch noch für Küchengeräte: »Freiheit für ihre Küche […] Eine Revolution […] Bora.«35 Für die Freiheit der Produkte! Befreien wir endlich menschliche Organe aus den ethischen Verbotszwängen. Auf den freien Markt mit den menschlichen Nieren, kostengünstig aus den Ländern des Südens! Erhöhen wir die Organangebote, dann fällt der Preis im Norden – wir retten Leben. Eine rationale Logik!
Der Grad menschlicher Freiheit ist in Marcuses Denken – und hier folgt er Karl Marx – eng verknüpft mit dem Stand der Naturbeherrschung, in dessen Dienst die Technik zu stehen hat. Wo er Marx aber untreu wird, ist der Moment, in dem technischer Fortschritt Teil der marxistischen Ideologie wird und nicht mehr im Dienste des Menschen steht, nicht als »Mittel der Befriedung des Existenzkampfes« dient, sondern sich als »technisch-wissenschaftlicher Apparat der Kontrolle, Steuerung, Manipulation, als Apparat der Unfreiheit«36 erweist. »Die Archetypen des Grauens wie der Freude, des Krieges wie des Friedens verlieren ihren katastrophalen Charakter. Ihr Erscheinen im täglichen Leben der Individuen ist nicht mehr das von irrationalen Kräften – ihre modernen Ersatzgötter sind Elemente technischer Herrschaft und ihr unterworfen.«37
Prognosen, die in die digitale und von künstlicher Intelligenz dominierte Zukunft weisen, kommen vielleicht bald ganz ohne den Homo sapiens aus. Für Ilija Trojanow erweisen sich Menschen bereits als überflüssig, für Yuval Harari werden sie nutzlos. Wenn es die Molche doch noch schaffen, dann haben die Menschen immerhin noch eine Aufgabe: Sie werden den Molchen dienen.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.