Kitabı oku: «Ostfriesische Verhältnisse», sayfa 3
5.
Auch Stahnke seufzte, sobald er den Laden verlassen hatte, und atmete tief durch. Viel hatte er an diesem Vormittag ja noch nicht zustande bekommen, musste er sich eingestehen, trotzdem fühlte er sich bereits erschöpft. Er wurde eben nicht jünger. ›Wir können das nicht mehr so!‹, pflegte sein Dienststellenleiter Manninga regelmäßig zu mahnen, wenn es wieder einmal besonders stressig zuging. Davon konnte jetzt und hier noch überhaupt keine Rede sein, dennoch hatte der Hauptkommissar das Gefühl, dass sein Vorgesetzter auf Dauer recht behielt.
Das ärgerte ihn und trieb ihm das Blut in die Wangen. Schon war der Anflug von Müdigkeit wieder verflogen. So geht das also, schmunzelte Stahnke und blickte auf die Uhr. Das Gespräch mit Eickhoff senior stand an; wenn der sich an die versprochenen neunzig Minuten hielt, käme der Hauptkommissar gerade zurecht, wenn er sich jetzt auf den Weg in die Polizeiinspektion am Hafenkopf machte. Andererseits hatte sich Eickhoff eine Pufferzeit von weiteren dreißig Minuten ausbedungen. Also konnte Stahnke durchaus vorher noch einen Kaffee trinken gehen. Sollte sein Gesprächspartner früher eintreffen, musste der sich eben gedulden. Das tat ihm bestimmt ganz gut.
Zum Tarax waren es nur ein paar Schritte – auch noch in die richtige Richtung. Lange hatte das alte Taraxacum leer gestanden, nachdem der frühere Besitzer erst pleite gegangen und dann verstorben war. Viele Leeraner hatten diesen Zustand wortreich bedauert, hatte diese Buchhandlung mit angegliedertem Café und Restaurant doch früher als Hort der höheren Kultur in der kleinen Händlerstadt an Ems und Leda gegolten. Doch offensichtlich hatten sich diese vielen Bedaurer nicht häufig genug von der Kultur und ihrem Hort anlocken lassen. Von guten Worten allein aber konnte kein Laden überleben.
Die jetzigen Tarax-Besitzer hatten das alte Konzept in neuem Gewand wieder aufleben lassen. Jetzt stand alles unter dem Motto Krimi, und der Laden hieß denn auch entsprechend Tatort Taraxacum. Diese Tatsache bereitete Stahnke ebenso leichtes Unbehagen wie die Deko von Geschäft und Restaurant, die aus allerhand Uniformmützen und anderen Polizei-Utensilien, Hackebeilen und Thriller-Plakaten bestand. Der Hauptkommissar hielt nichts von Kriminalromanen, dazu nahm er seinen Beruf viel zu ernst. Und außerhalb der Dienstzeit schaltete er gerne ab, da mochte er nicht ständig an seinen Broterwerb erinnert werden.
Andererseits war er jetzt gerade im Dienst, auch in einer Kaffeepause, da würde das Umfeld ja passen, überlegte er. Außerdem klagte er auf hohem Niveau, denn eigentlich mochte er den urgemütlichen Laden, Krimis hin oder her.
Die beiden abgestoßenen Stufen, die hölzerne, braun gemaserte Tür, der hohe Verkaufsraum mit den vielen hölzernen und gusseisernen Säulen, all das hatte eine besondere, eindrucksvolle und doch heimelige Ausstrahlung. Die unzähligen Bücher und der andere Krimi-affine Kram auf den Regalbrettern und den Tischen interessierten ihn weniger. Ihn drängte es nach hinten, ins Café.
Andererseits gab es vorne links ebenfalls einen kleinen Tisch mit vier Stühlen, der den Vorteil hatte, dass man von dort aus das Treiben auf Rathaus- und Brunnenstraße im Auge behalten konnte. Warum auch immer. Stahnke zögerte.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Er hatte die junge Frau gar nicht kommen hören. Unversehens tauchte sie von rechts in seinem Gesichtsfeld auf, mittelgroß, sehr schlank, mit hinten hochgestecktem, dunkelblond gesträhntem Haar. Eine große, dunkelrandige Brille kontrastierte stark zu ihrer hellen Haut und gab ihr einen intellektuellen Touch. Für eine Buchhändlerin vermutlich Dienstvorschrift, überlegte der Hauptkommissar.
»Ach ja, nee, ich überlege nur … könnte ich hier vorne auch einen Kaffee bekommen?«
»Aber natürlich. Dafür steht dieser Tisch ja hier.« Sie lächelte, ohne eine Spur von Spott in Miene und Ton. »Ich kann gerne für Sie bestellen, ist ja gerade nichts los hier. Was für einen Kaffee möchten Sie denn? Milchkaffee, Cappuccino, Espresso?«
»Ganz normalen Kaffee bitte.« Stahnke angelte nach einer Stuhllehne.
»Tasse oder Becher?« Die Frau zückte Block und Stift.
»Becher.« Himmel, was wollte die wohl als Nächstes wissen? Er war hier doch nicht bei Starbucks!
Die Buchhändlerin aber nickte nur, drehte sich um und ging gemessenen Schrittes nach hinten, Richtung Restaurant.
Stahnkes Blick folgte ihr bis zum Durchgang. Sie war dunkel gekleidet, ihr Top hatte Dreiviertel-Ärmel. Was war das da an ihrem rechten Arm? Ein Tattoo anscheinend, irgendetwas Blaues, sah aus wie ein Kopf. Ein Kopf mit Hörnern. Warum um Himmels willen ließ sich eine junge Frau so etwas in die Haut stechen? In solch milchweiße, zarte Haut noch dazu? Der Hauptkommissar konnte der grassierenden Tätowier-Mode überhaupt nichts abgewinnen. Mode kam, um wieder zu gehen, das war doch ihr Hauptzweck, vielleicht sogar ihr einziger. Was aber machte eine Tätowierte, wenn diese Mode mal out war?
Ach, da gab es ja diesen Schlager. »Bye bye Arschgeweih, ich geb dich zum Lasern frei.« Aua! Aber der Reim war nicht schlecht.
Draußen auf der Straße war immer noch wenig los. Rein geschäftlich schien der Tag noch in der Vorbereitungsphase zu sein. Der Betreiber des Wohntheaters dekorierte Antiquitäten und Second-Hand-Kram auf dem Bürgersteig, der Dönermann schleppte Kartons in seinen Grill im Eckhaus. War das überhaupt der Grill-Betreiber? Stahnke hatte den Mann anders in Erinnerung: stämmiger, dunkler, immer ein bisschen schmierig. Der hier machte einen sehr adretten Eindruck. Na, vielleicht nur ein Lieferant. Anderseits hatte er einen Schlüssel.
»Ihr Kaffee.« Die Buchhändlerin hatte sich wieder so lautlos angeschlichen, dass Stahnke leicht zusammenzuckte. Sie stellte den dampfenden Becher vor ihm ab, drehte den Henkel in Griffrichtung, drapierte Dosenmilch und Folien-Keks übertrieben sorgfältig. »Sonst noch einen Wunsch?«
»Nein danke, alles gut.« Der Hauptkommissar erwiderte ihren Blick, wunderte sich über das viele Weiß rund um die Iris. Ein starrer Blick? Oder ein herausfordernder?
Mit der Andeutung eines Lächelns wandte sich die junge Frau um und verschwand hinter dem Kassentisch hindurch im Büro. Wiederum ohne einen Laut.
Ganz so jung, wie ich zuerst dachte, ist sie wohl nicht, dachte Stahnke, das ein oder andere Fältchen hat sie schon, so rund um die Augen. Wie alt mag sie sein – Ende zwanzig, Anfang dreißig? Oder schon Mitte? Wie auch immer, auf jeden Fall ist sie viel zu jung.
Er stutzte. Zu jung wofür? Was sollte denn solch ein Gedanke? Wo kam der her? Er hatte doch überhaupt keine Absichten, er hatte doch …
Sina. Aha, daher wehte der Wind. Wieder spürte er diese altbekannten Stiche. Und als er den ersten Schluck Kaffee heruntergestürzt hatte, spürte er auch wieder dieses Brennen im Magen. Klar konnte es vom zu heißen Kaffee kommen. Aber das wusste er besser.
Jahrelang hatte er sich diese unkontrollierbaren Eifersuchts-Attacken übel genommen. Musste er sich denn sein Glück mit dieser wunderbaren jungen Frau mutwillig selber vermiesen? Natürlich war es eine Amour fou, eine Beziehung, die aus dem gesellschaftlich akzeptierten Rahmen fiel. Er hasste diese hochgezogenen Augenbrauen angesichts der gut zwanzig Jahre Altersunterschied zwischen ihm und seiner Freundin ebenso sehr wie das fette Lachen seiner Macho-Kollegen und deren anerkennendes Schulterklopfen: »Mensch, Stahnke, du musst ja verborgene Qualitäten haben, dass du so ein junges Blut unter Vertrag halten kannst! Hätte gar nicht gedacht, dass du so ein Hengst bist!« Drecksäcke. Manchmal hätte dieser Hengst am liebsten kräftig ausgekeilt.
Aber andererseits schmeichelte ihm solch klebrige Macho-Anerkennung doch auch, obwohl er es sich nicht eingestehen mochte. Und obwohl die Prämissen dieses Lobes auch überhaupt nicht stimmten. Von wegen erfrischender Brunnen der Jugend, in den er nach Belieben eintauchen konnte! Nicht er war die lenkende Kraft in dieser Beziehung. Weit gefehlt! Für Stahnke war Sina die, von der er lernte, an der er sich orientierte. Um mit ihr Schritt zu halten, musste er sich ständig selber ins Hinterteil treten. Und das tat ihm gut.
Der Jungbrunnen natürlich auch. Und das Eintauchen.
Trotzdem, diese Intervalle von Eifersucht und Misstrauen konnte er einfach nicht unterdrücken. Und egal, gegen wen sie sich richteten – letztlich richteten sie sich doch immer gegen ihn selbst. Weil er deutlich spürte, dass er es war, der hier nicht passte. Der nicht genügte. Da konnte er sich so oft in den Hintern treten, bis der blau anlief, dieses Gefühl bekam er damit nicht weg.
Und solche Gefühle, solche Zweifel färben irgendwann ab, schlagen durch auf die Realität. Verfluchte Dialektik! Selbsterfüllende Prophezeiung nannte man das wohl auch. Oder, blumiger ausdrückt: Zweifel und Misstrauen sind Äxte am Baum der Liebe.
Ich glaub, es hackt, dachte Stahnke. Vielmehr, ich weiß es. Und der da hackt, das bin ich.
Er stürzte den Rest seines Kaffees hinunter. Heiß war der nicht mehr, aber es brannte dennoch.
Wie oft hatte es so gebrannt, wenn er an Sina und ihr freundschaftliches Verhältnis zu ihrem Ex-Freund, dem Journalisten Marian Godehau, gedacht hatte! Dabei hatte Sina diesen Burschen längst weit hinter sich gelassen, fand ihn zwar immer noch unterhaltsam und nett, aber viel zu kindisch. Trotzdem hatte Stahnke sich immer wieder eingebildet, zwischen den beiden etwas wahrzunehmen, das sich zu einem Keil zwischen ihm selbst und ihr entwickeln mochte. Pure Einbildung, gespeist aus dem Schuldbewusstsein Marian gegenüber, dem er seinerzeit die Freundin ausgespannt hatte – was wiederum eine Sichtweise war, mit der er Sina auf gar keinen Fall kommen durfte. »So denken keine Männer, so denken nur Männchen«, würde sie sagen. Und dass sie in Sachen Beziehung immer noch selbst die Entscheidungen träfe.
Oh ja, das traf absolut zu. Hatte er vielleicht davor so große Angst?
Die Tür wurde geöffnet; zwei Paare betraten den Laden. Das eine ging gleich durch nach hinten ins Café, das andere steuerte den Tresen an. Offenbar ging es um vorbestellte Bücher, die schnell gefunden und bezahlt waren. Danach ging auch das zweite Pärchen weiter ins Restaurant.
Stahnke blickte auf die Uhr: schon nach zwölf, die Küche hatte geöffnet. Er musste dringend zu seiner Dienststelle aufbrechen. Die halbstündige Auszeit war bereits vorüber.
Er wollte sich erheben, aber blanke Unlust hielt ihn zurück. Dieser blasierte, arrogante Eickhoff! Musste er sich den wirklich antun? Neue Erkenntnisse waren von einer Unterhaltung mit dem sowieso nicht zu erwarten, jedenfalls nicht, solange er überhaupt nicht wusste, wonach er eigentlich fragen sollte. Auf reine Verdächtigungen und Unterstellungen gegenüber irgendwelchen Rivalen und Konkurrenten der Eickhoff-Familie jedenfalls konnte er gerne verzichten.
Er zückte sein Handy. Zögerte kurz, gab sich dann aber einen Ruck. Dies war ja schließlich keine Mordermittlung!
»Kramer? Ist Eickhoff senior schon da?«
»Allerdings.« Der Oberkommissar klang genervt. »Seit einer Viertelstunde schon. Wartet nebenan. Wenn man das warten nennen kann! Alle zwei Minuten steht er bei mir auf der Matte.«
»Dann behalte ihn das nächste Mal einfach da«, sagte Stahnke. »Übernimm du doch Eickhoffs Befragung, ja? Ich bin hier in der Altstadt zugange. Dafür brauche ich noch ein bisschen.«
»Wofür? Etwa Kaffee trinken im Taraxacum?« Kramer klang gereizt. »Was soll ich den Typen überhaupt fragen?«
»Lass dir was einfallen. Du kennst den Fall doch ebenso gut wie ich.« Oder ebenso schlecht, setzte der Hauptkommissar in Gedanken hinzu. Dann schnippte er mit den Fingern. »Und übrigens, Tarax stimmt, aber von wegen Kaffee! Der Laden gehört doch neuerdings diesem Christiansen, du weißt schon, dem Obelix von Asterix. Die beiden haben bekanntlich zusammen die Tat beobachtet, mehr oder weniger. Also, Christiansen muss ich auch noch befragen.«
»So.« Kramer war ein Meister der Untertöne, der jedermann der faulen Ausrede bezichtigen konnte, ohne dass es nachweisbar gewesen wäre. »Neuerdings ist übrigens stark untertrieben, Christiansen gehört das Haus schon seit drei Jahren. Und übrigens, was ist mit der WG? Wenn schon, dann kannst du dir die ja auch gleich vorknöpfen.«
»WG? Was für eine WG?« Stahnke hatte die Frage kaum gestellt, da fiel es ihm wieder ein. »Ach so, die anrüchige Wohngemeinschaft, in der der junge Eickhoff verkehrt haben soll.« Er richtete seinen Blick zur Decke. Jenseits der fetten Balken mussten sie hausen, die wilden Gesellen, die auf den jungen Mann aus reichem Hause solch eine Anziehungskraft ausübten. Vor allem wohl die Gesellinnen. »Na klar, ein Besuch da oben steht auch auf meiner Agenda.«
Der Hauptkommissar beäugte die Deckenbalken noch einmal gründlich: Nein, sie bogen sich nicht. So sehr er auch log.
Kramer holte Luft, kam aber nicht mehr dazu, eine weitere Spitze abzufeuern. Eickhoff seniors laut polternde Stimme fuhr ihm dazwischen. Offenbar stand der mal wieder auf Kramers Matte.
»Na denn, viel Erfolg!«, säuselte der Hauptkommissar und beendete eilig das Gespräch.
Draußen vor dem Fenster quietschten Reifen. Der Fahrer eines tiefergelegten BMWs hatte es offenbar auch sehr eilig. Während der Wagen laut röhrend um die Kurve driftete, erhaschte Stahnke den flüchtigen Eindruck eines jungen, unbewegten Männergesichts hinter der Frontscheibe. Das einzig Lebendige an diesem Gesicht schien die große, verspiegelte Sonnenbrille zu sein, in deren Gläsern sich die Hausfassade krümmte.
Ein Grüppchen kleiner, braunhäutiger Männer wäre dem Kamikaze-Piloten beinahe vor den Spoiler gelaufen. Im letzten Moment hatten sie am Bordstein gestoppt und schimpften dem Raser jetzt hinterher. Touristen, schätzte Stahnke. Bis vor kurzem hätte er sie trotz der umgehängten Kameras noch für Seeleute gehalten, die an einem Rettungslehrgang auf der Emssturm teilnahmen. Das langjährige Ausbildungsschiff aber hatte inzwischen den Leeraner Hafen verlassen. Die Handelsschifffahrt steckte in der Krise, wieder einmal. Da rechnete sich derartige Ausbildung nicht mehr.
Dahlmanns Worte fielen Stahnke wieder ein. So, Eickhoffs jüngerer Bruder war also Reeder? Na, da hatte der wohl aufs falsche Pferd gesetzt. Auf ihn musste der Kaufmann also nicht mehr lange eifersüchtig sein.
Vor ein paar Tagen hatte in der Zeitung gestanden, was mit der alten Emssturm geschehen sollte. Angeblich wurde sie in die Türkei geschleppt, zum Abwracken. Schade drum! Das mehr als fünfundsiebzig Meter lange ehemalige Fischereiforschungsschiff mit seiner hoch aufragenden Back hatte dem Hafen von Leer rein optisch gut zu Gesicht gestanden.
»Noch einen Kaffee?« Wieder stand die Buchhändlerin so unvermittelt neben ihm wie aus den braunen Fliesen gewachsen.
»Nein danke, aber Sie könnten mir vielleicht eine Frage beantworten«, erwiderte Stahnke, der diesmal nicht zusammengezuckt war.
»Aber gerne, wenn ich kann.« Die junge Frau verschränkte ihre Finger und hob erwartungsvoll die Brauen, den Blick ihrer weit aufgerissenen Augen fest an ihren Gast geheftet.
Was soll das, dachte der Hauptkommissar irritiert, will die mich veräppeln? »Ich würde gerne Ihren Chef sprechen, den Herrn Christiansen«, sagte er. »Ist er vielleicht im Büro?«
»Nein, tut mir leid.« Auch ihr bedauernder Tonfall schrammte hart an der Parodie vorbei. »Herr Christiansen ist vor einer Stunde nach Aurich gefahren. Wir erwarten ihn erst kurz vor Ladenschluss zurück. Die Kasse macht er ja immer gerne selber.« Sie legte eine Hand auf ihren Mund, als wollte sie diese halb vertrauliche Information noch im Nachhinein am Entfleuchen hindern.
»Das ist bedauerlich. Nach Aurich, ja?« Sollte er nach dem Grund fragen? Noch hatte er sich ja nicht einmal vorgestellt.
»Er schaut sich dort Immobilien an. Möglicherweise will er demnächst eine Filiale aufmachen.« Wieder legte sie ihre schlanken Finger an die Lippen: »Das muss nicht unbedingt jeder wissen, jedenfalls noch nicht. Aber Sie sagen das ja sicher nicht weiter, nicht wahr, Herr Kommissar?«
So so, sie wusste also, wer er war! War er in Leer etwa schon derart bekannt? Unwillkürlich glitt sein Blick von ihrem Gesicht über Finger und Hand auf das blaue Tattoo auf ihrem Unterarm. Jetzt zuckte er doch ein wenig zusammen, denn die gehörnte Fratze sah unglaublich diabolisch aus, direkt unheimlich. Auf einem schmalen Banner darunter stand etwas geschrieben. Etwa ein Fluch?
Sie nahm die Hand herunter, ehe Stahnke die Worte entziffern konnte. »Soll ich Herrn Christiansen vielleicht etwas bestellen, wenn er wieder zurück ist?«
Der Hauptkommissar schüttelte den Kopf. »Danke, nicht nötig, ich rufe ihn dann selbst an. Aber sagen Sie, die Wohnung dort oben, da wohnen doch mehrere junge Leute – ob ich dort vielleicht jemanden antreffen kann?«
Ihre Augen wurden schmal. »Keine Ahnung«, versetzte sie knapp. »Letzte Nacht ist dort wohl jemand zu Hause gewesen, wie ich hörte, aber jetzt – das weiß ich nicht.«
»Wie Sie hörten? Von wem denn?«
»Von einem Krimi-Autor, der gestern Abend hier im Laden eine Lesung abgehalten hat. So was machen wir öfter mal, auch kleine Konzerte. Die Künstler übernachten dann immer in der kleinen Wohnung, die nach hinten raus geht und ansonsten leer steht. Als der Autor heute Vormittag abgereist ist, meinte er, vorne sei wohl mächtig Party gewesen letzte Nacht. Erst weit nach Mitternacht habe er schlafen können, und selbst dann habe er noch geträumt, jemand hätte ihm auf dem Kopf herumgetrampelt.«
»So wild, ja?« Da wäre der kleine Oliver Eickhoff bestimmt gerne dabei gewesen, setzte Stahnke in Gedanken hinzu. Typisch Bürgertum, nach außen immer etepetete, aber dann das Verdrängte umso wilder ausleben! Schade für ihn, dass ihn der Zustand seines Hinterteils vom Mitfeiern abgehalten hatte.
Wieder flog die Ladentür auf; die Altstadt hatte sich deutlich belebt, die Kunden gaben sich die Klinke in die Hand. Die Buchhändlerin machte eine Geste des Bedauerns: »Ich glaube, ich werde gebraucht. Wenn ich dann nichts mehr für Sie tun kann …«
»Danke, alles klar.« Der Hauptkommissar entließ sie mit einem freundlichen Nicken. Schon war die junge Frau Richtung Kassentresen verschwunden.
Stahnke erhob sich, trug seine leere Tasse nach hinten ins Restaurant, wo noch mehr Betrieb herrschte als vorne im Laden, zahlte und verließ das Gebäude durch die Seitentür, die hinaus auf die Terrasse führte. Die Oktobersonne war inzwischen hinter den Wolken und dem klotzigen Rathausneubau zum Vorschein gekommen und bestrahlte die Außentische, von denen viele besetzt waren, obwohl es eigentlich schon zu frisch war, um draußen zu sitzen.
Eine schmale Gasse verband die Terrasse mit der Rathausstraße; dorthin wandte sich der Hauptkommissar, denn da, etwa auf halber Strecke, lag auch der Eingang zur vorderen Wohnung über dem Tatort Taraxacum. Unter der Klingel hing ein Pappschild mit den Namen der Bewohner. Ursprünglich mochten es vier oder fünf gewesen sein. Seither aber waren mehrere durchgestrichen und andere, teils kaum leserlich, dazugekritzelt worden, so dass schwer zu erkennen war, wer hier aktuell eigentlich lebte. Von der ursprünglichen WG schien nur noch ein einziger Name erhalten zu sein: Frederik Jaschinsky.
Stahnke presste seinen Daumen auf den Klingelknopf. Oben im Haus ertönte ein Gong, gerade eben noch hörbar. Sonst geschah nichts. Der Hauptkommissar gongte noch ein zweites und ein drittes Mal, ohne Erfolg. Na gut, dachte er. Dann eben später; wegen der Befragung des Tatzeugen Christiansen musste er ohnehin noch einmal wiederkommen. Vielleicht konnte er diesen Besuch ja mit einem weiteren Kaffee verbinden.
Das Gesicht der jungen Buchhändlerin kam ihm in den Sinn. Ebenso die blaue Fratze auf ihrem Arm. Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Dann schaute er auf die Uhr: Mit etwas Glück hatte Kramer das Gespräch mit Eickhoff senior schon erledigt, dann konnten sie beide in Ruhe Mittag essen gehen und das weitere Vorgehen besprechen. Was er selbst tun würde, wusste er schon: sich mal ein bisschen mit der Familie Eickhoff befassen. Wer so dazugehörte, was die so trieben. Nicht nur wegen Dahlmanns Bemerkung vorhin; Karl-Friedrich Eickhoff persönlich hatte ihn auf diesen Gedanken gebracht, durch seine Behauptung, das Attentat auf seinen Sohn hätte sich in Wahrheit gegen die ganze Familie gerichtet. Da gehörte es sich doch, mal nachzuforschen, welche Gründe es dafür geben mochte.
Ob Eickhoff senior das mit seinen Worten hatte erreichen wollen? Sicher nicht. Stahnke lächelte vor sich hin. Gerade deshalb, dachte er. Gerade deshalb.