Kitabı oku: «Zorn und Zärtlichkeit», sayfa 5
7.
Als Stahnke zu Kramer hinüberging, stand Dr. Mergner bei ihm, die weißen Haare unternehmungslustig gesträubt, in der Hand einen Stoß zusammengehefteter Kopien. »Fertig!«, verkündete er stolz. »Na, war das schnelle Arbeit?«
Der Hauptkommissar zuckte die Achseln. »Mal gucken. Wenn’s uns schlauer macht, war’s schnell. Wenn nicht, dann hat es noch zu lange gedauert.«
Mergner schickte Stahnke einen vernichtenden Blick, der allerdings durch seine dicken Brillengläser einiges an Sprengkraft verlor. Dann wandte er sich demonstrativ wieder Kramer zu. »Zunächst einmal steht die Todesursache jetzt eindeutig fest«, referierte er. »Die Obduktion hat ergeben, dass der Mann ertrunken ist.«
Stahnke schnaubte. »Kunststück! Wenn man eine Leiche in einer wassergefüllten Kiste findet, dann ist es ja wohl kein Wunder, wenn die Lunge voll Wasser ist.«
»Das habe ich nicht gesagt«, korrigierte Mergner scharf. »Im Gegenteil. Natürlich hatte der Tote keine wassergefüllten Lungen. Vielmehr waren sie voll mit sogenanntem Schaumpilz, also feinen Blasen aus Schleim und Luft, vermischt mit etwas Wasser. Wie es eben typisch ist für einen Ertrunkenen.« Wieder so ein giftiger Blick auf Stahnke: »Das sollten Sie aber wirklich wissen.«
Stahnke spürte aufsteigende Hitze im Nacken. Klar, eigentlich wusste er das auch. Hatte auch schon einschlägige Befunde in der Hand gehalten, in denen von ballonierten Lungen die Rede war, Lungen, die gebläht waren von diesem Schaum und in die man Dellen drücken konnte, weil sie ihre Elastizität verloren hatten. Er mochte gar nicht daran denken, wie es zuging, wenn während des Ertrinkens solcher Schaum entstand.
Nachdem Mergner aber Stahnkes Erinnerung nun einmal auf die Sprünge geholfen hatte, fielen dem gleich noch ein paar Details mehr ein. »Wie sieht es denn mit dem Magen des Toten aus? War da Wasser drin?«
Der Mediziner runzelte die Stirn und blinzelte über seine Brillengläser hinweg. »In der Tat, ja«, antwortete er verblüfft. »Das könnte jedoch …«
»… auch postmortal dorthin gelangt sein«, unterbrach Stahnke. »Ist bekannt. Und was ist mit dem Dünndarm?«
»Ebenfalls Wasser«, erwiderte Mergner und nickte anerkennend. »Womit wir einen eindeutigen Beweis für Tod durch Ertrinken hätten.«
»Wurde das Wasser analysiert?«
»Was denken Sie denn? Natürlich! Es ist mit dem Wasser in der Kiste identisch. Beziehungsweise mit dem Wasser, das diesen Keller halb geflutet hatte. Wobei es sich um hiesiges Leitungswasser ohne signifikante Beimischungen handelt. Als Beweis, dass der Betreffende nicht anderweitig ertränkt wurde, würde ich das aber gelten lassen.«
Stahnke begann breit zu grinsen. »Aber, aber, Herr Doktor! Jetzt fangen Sie ja doch an, unsere Arbeit zu machen. Erst bewerten Sie Indizien und befördern sie zu Beweisen – und dann machen Sie aus Ertrinken plötzlich Ertränken! Kann es sein, dass Sie irgendwo einen Trumpf stecken haben, den Sie eigentlich noch ausspielen wollten?«
Jetzt war es an Mergner, zart zu erröten. »Tja, äh … Sie wissen ja, diese Schwellungen am Hinterkopf des Toten. Ich wollte da ganz sichergehen. Aber es steht zweifelsfrei fest, dass dem Mann diese Verletzung vor seinem Tod zugefügt worden ist. Und dass die Schläge hart genug waren, um ihm das Bewusstsein zu rauben.«
Stahnke wechselte einen stummen Blick mit Kramer. Von gewaltsamer Tötung waren sie ohnehin schon ausgegangen, das ganze Arrangement dort in diesem Kellergewölbe, die gefesselten Hände und Füße ließen gar keine andere Schlussfolgerung zu. Jetzt schied wohl die Möglichkeit eines Unfalls aus, etwa bei einem schiefgegangenen Waterboarding. Wenn dem Ertränken dieses alten Mannes tatsächlich eine peinliche Befragung vorausgegangen war, dann hatten die Täter diese wohl als beendet erachtet. Entweder, weil sie die Hoffnung aufgegeben hatten, an Informationen zu kommen – oder weil sie schon alles erfahren hatten, was sie wissen wollten. Womit ihr Opfer verzichtbar geworden wäre. Fester Schlag auf den Kopf, noch einer zur Sicherheit, Klappe zu. Mit anderen Worten: Mord.
»Wie lange ist die Tat in etwa her?«, erkundigte sich Kramer.
»Zwischen sechsunddreißig und achtundvierzig Stunden vor dem Auffinden«, erwiderte Mergner prompt. »Das Leitungswasser war kalt, die Kellerluft ebenfalls, das hat den Zersetzungsprozess verlangsamt. Haben wir beides in Rechnung gestellt.«
Der Tatzeitpunkt war demnach weder auf einen Wochentag noch auf eine Tageszeit genau zu bestimmen. Vor allem Letzteres fand der Hauptkommissar ärgerlich.
»Was ist mit dieser Silikondichtung?«, fragte er. »Wie alt ist die eigentlich?«
»Nicht sehr alt«, warf Kramer ein. »Sogar fast frisch, Lösungsmittel teilweise noch nicht ausgegast, also nicht ganz durchgehärtet. Die Masse dürfte erst kurz vor dem Tod unseres Unbekannten aufgebracht worden sein.«
Stahnke runzelte die Stirn. »Und zu genau diesem Zweck vermutlich«, ergänzte er. »Warum nur dieser Aufwand?«
Kramer zuckte die Achseln.
»Bleibt die Frage aller Fragen.« Der Hauptkommissar wandte sich wieder Mergner zu. »Nämlich die, mit wem wir es hier zu tun haben.«
Mergner nickte. »Richtig. Weshalb wir der Leiche auch erstklassige Fingerabdrücke abgenommen haben, was ich einmal lobend erwähnen möchte, denn aufgrund der fortgeschrittenen Waschhaut des Toten war das keine kleine Herausforderung.« Beifallheischend huschte sein Blick zwischen Stahnke und Kramer hin und her. Die aber hielten sich mit Anerkennung zurück, ahnend, was folgen würde. Der Mediziner seufzte. »Hat aber leider nichts genützt. Der Tote ist nicht in unserer Kartei. Auch beim Bundeskriminalamt wurde alles abgerufen und verglichen, aber ohne positiven Befund.«
Stahnke rieb sich die Augen; obwohl sie noch am Anfang vermutlich langwieriger Ermittlungen standen, fühlte er sich bereits müde. Der Jüngste war er wahrlich nicht mehr. »Da die Befragung der Nachbarn ebenfalls negativ verlaufen ist, stehen wir in puncto Identifikation also nach wie vor bei null«, knurrte er.
»Und die DNA?«, fragte Kramer
»Diese Hoffnung bleibt uns noch«, entgegnete der Doktor.
Stahnke brauchte eine Sekunde, ehe er begriff. »Wie! Soll das heißen, der genetische Fingerabdruck wurde noch nicht abgeglichen?«
»Na hören Sie mal!« Mergners zerzauste Haare schienen sich im Zorn noch mehr zu sträuben. »Wofür halten Sie mich? Für einen Zauberer?« Irritiert hielt er inne, denn Stahnkes verkniffene Miene gab ihm Rätsel auf. Wie hätte der Gerichtsmediziner auch wissen können, dass sein Gegenüber ihn in Gedanken gerade eben genau mit einem Hexenmeister verglichen hatte und sich das Lachen jetzt nur mit Mühe verbeißen konnte?
»So schnell ist das LKA nun einmal nicht«, assistierte Kramer dem Doktor. »Das wissen wir doch zur Genüge.«
»Nach Hannover haben Sie die Proben zur Analyse geschickt?« Stahnke schüttelte den Kopf. »Das darf doch nicht wahr sein! Gegen das Landeskriminalamt sind Schnecken die reinsten Rennpferde. Die lassen uns doch warten, bis wir schwarz werden.«
»Nicht in Mordsachen«, widersprach Mergner. »Machen Sie mir die Kollegen dort nicht schlechter, als sie sind. Die wissen auch Prioritäten zu setzen.«
»Tja, wenn die Bildzeitung drängelt und ein Skandal droht! Dann vielleicht.« So leicht war der Hauptkommissar nicht zu besänftigen. »Haben Sie die Sendung denn wenigstens entsprechend gekennzeichnet?«
Mergner schluckte und schwieg.
Stahnke stöhnte. »Los, Mann, sorgen Sie mir dafür, dass eine zweite Probe in ein privates Labor gegeben wird, mit Eilvermerk. Wir müssen hier endlich von der Stelle kommen.«
Der Mediziner schnappte nach Luft. »Ohne offizielle Anordnung? Und wer zahlt das? Soll ich die Rechnung gleich an Sie persönlich schicken lassen?«
Stahnke wandte sich Kramer zu. »Ruf Manninga an, sag, dass der Laborbefund eilt und dass wir grünes Licht brauchen. Schönen Gruß. Ach ja, und wenn du ihn schon an der Strippe hast: Er soll doch bitte auch in Hannover Druck machen. Doppelt hält besser. Mal gucken, wer am Ende das Rennen macht.« Er drehte sich zurück, legte Mergner einen Arm um die Schultern, schob ihn wie beiläufig zur Tür: »Schönen Dank so weit, dann sehen wir mal zu, dass es weitergeht, wir beide, nicht wahr?«
Etwas später tauchte Kramer vor Stahnkes Schreibtisch auf. »Läuft alles, so wie gewünscht«, teilte er mit, knapp und effizient wie immer. Dann verharrte er stumm, bis der Hauptkommissar sich bequemte, den Blick zu heben. »Dass die Anzahl deiner Freunde gerade um einen halben geschrumpft ist, weißt du ja wohl, oder?«
»Ein halber Freund? Was kann man damit schon anfangen.« Stahnkes Schmunzeln fiel dünn aus. »Schöntuerei bringt keine Resultate, und Resultate sind das Einzige, was mich interessiert. Das war doch schon immer so.«
Der Oberkommissar nickte. »Stimmt, du hattest hier noch nie viele Freunde.«
Stahnke zuckte die Achseln. »Sollen sie ruhig auf mich schimpfen, solange sie in der Sache funktionieren. Hauptsache … wir haben Erfolg.«
Kramer blickte ernst auf seinen Vorgesetzten herab. Dass der sich erst im letzten Moment besonnen hatte und vom »Ich« zum »Wir« gewechselt war, war ihm nicht entgangen. »Die Zeiten haben sich geändert«, sagte er leise. »Vielleicht sind demnächst auch halbe Freunde verdammt wichtig.«
Stahnke hielt Kramers Blick nicht stand. Er senkte den Kopf, wischte ein paar imaginäre Krümel von seinem Schreibtisch und erwiderte schroff: »Hör auf zu unken. Sag mir lieber, wie wir weiter vorgehen. Geben wir das Foto des Toten nun an die Presse oder nicht?«
Das Bild war ganz manierlich geworden; das markante Antlitz war nicht auf den ersten Blick als das einer Leiche zu erkennen.
»Wenn der Mann hier aus der Gegend stammt, müsste ihn jemand erkennen«, sagte Kramer. »Andererseits hat die Vermisstenstelle keine Anzeige vorliegen, die auf unseren Toten passt. Also könnte er auch ganz woanders herstammen. Dann bringt die regionale Veröffentlichung nichts. Aber der Täter weiß dann, dass wir die Leiche gefunden haben, was von Nachteil sein könnte.«
»Theoretisch ja; praktisch wüsste ich nicht, welcher Nachteil das sein sollte, da wir ja noch nicht einmal einen Anfangsverdacht haben«, erwiderte Stahnke. »Andererseits sollten wir vielleicht doch den DNA-Abgleich abwarten.«
»Den haben wir hoffentlich morgen, so oder so«, sagte Kramer.
»Morgen also. Bis dahin warten wir noch ab.« Immerhin eine Entscheidung, dachte Stahnke. Wenn schon kein Ergebnis.
8.
Niemand hatte den Riesen kommen sehen. Plötzlich war er da wie aus dem Boden gewachsen.
Der Kohlenhändler sah ihn als Erster. Hackes hatte das lose Ende des Taus, das er den beiden Gefesselten um die Leiber geschlungen hatte, schon zu Janssen ins Boot gereicht, und der war gerade dabei, einen Palstek hineinzuknüpfen und es an der eisernen Heckklampe der Motorbarkasse zu befestigen. Jeder seiner Handgriffe wurde erwartungsvoll beäugt. Das Pochen des Bootsdiesels beschleunigte sich. Gleich würde die Barkasse ablegen, die Leine würde sich unter dem Zug straffen und den beiden Männern den Boden unter den Füßen wegreißen. Sicherlich würde ihnen die Kante der Kaimauer noch einen harten Schlag verpassen, ehe das Boot sie unter Wasser zog. Der Zug der Leine würde sie anschließend wieder an die Oberfläche befördern, wo sie verzweifelt nach Luft schnappen würden, ehe es wieder abwärts ging, wieder und wieder. Am Ende würden sie quälend langsam ertrinken, ertränkt von einer Mörderhorde, die heute früh noch eine Ansammlung ganz gewöhnlicher rheiderländer Ostfriesen gewesen war. Letzter Gruß von Jemgum, der Perle des Rheiderlandes, schoss es Erika durch den Kopf. Zum ersten Mal in ihrem Leben schämte sie sich ihrer Heimat.
Aber sie schämte sich auch ihrer selbst. Warum schrie sie nicht, warum rief sie nicht »Halt, ihr Mörder!«? Weil sie wie gelähmt war vor Angst. Weil niemand sonst es tat. Und warum tat es wohl niemand? Weil kein anderer es tat? Ja, dachte Erika, wahrscheinlich funktioniert es so.
Es funktionierte wirklich gut.
Aber dann war der Riese plötzlich da. Hoch ragte er auf vor Hackes, dem Kohlenhändler, der den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm ins Gesicht zu sehen. Ein finsterer Blick Fleischhauers trieb den Nazi einen Schritt zurück. Der Riese riss ihm das Tau aus den Händen, ruckte am losen Ende. Janssen, der die Palstek-Schlaufe gerade über die Klampe streifen wollte, griff ins Leere.
Ein Raunen ging durch die Gaffermeute. Was fiel dem Schuster ein, sich mit den Nazis anzulegen, mit der ersten und inzwischen längst einzigen Gewalt im Staate? Was gingen ihn diese Juden an, dass er sein Leben für sie riskierte? Denn sein Leben, so viel stand fest, hatte er verwirkt. Jeder, der den Nazis Widerstand leistete, starb. Das glaubte, das wusste jeder. Entweder er starb an Ort und Stelle, oder er verschwand und blieb verschwunden.
Fleischhauer trug seine blaue Arbeitsschürze über seiner Alltagskluft. Für Markt und Müßiggang schien er keinen Sinn oder keine Zeit zu haben. Die Hemdsärmel hatte er hochgekrempelt, und auf seinen Unterarmen traten Muskeln hervor, dicker als das Tau, das er in seinen Händen hielt. Kein Wunder, dass dem Kohlenhändler das Herz in die Hose gerutscht ist, dachte Erika.
Der erste Schreck aber war schnell überwunden. Die Nazis hatten zwar lange keinen Widerstand mehr erlebt, aber sie erinnerten sich schnell daran, wie man welchen brach. Die erste Regel hieß Überzahl, und die war hier eindeutig gegeben. Zudem trugen einige der Uniformierten Pistolen, während der Schuster allein und unbewaffnet war. Beste Voraussetzungen also, um mutig zu werden.
Janssen sprang aus der Barkasse, die rechte Hand an der Pistolentasche. Von Trunkenheit war nichts mehr zu bemerken. »Wer bist du denn?«, brüllte er Fleischhauer an. »Was bist du denn für einer? Judenfreund, was? Willst deinen Freunden wohl Gesellschaft leisten?« Er beugte sich vor und starrte den Schuster drohend an, verfehlte jedoch die beabsichtigte Wirkung, weil auch er, obgleich größer gewachsen als der Kohlenhändler, zu dem Riesen aufblicken musste. Auch aus einem anderen Grund wirkten seine Worte eher komisch. Fleischhauer und Janssen waren beide in Jemgum aufgewachsen, und jeder wusste, dass der heutige SS-Mann seine Schuhe und Stiefel seit Jahr und Tag beim selben Schuster reparieren ließ wie alle anderen auch. Ihn zu fragen, wer er denn sei, löste trotz der herrschenden Anspannung ein paar Gluckser in der Menge aus.
Erika war nicht nach Lachen zumute. So also geht es zu in den Moorlagern, dachte sie und stellte sich vor, wie Janssen und seine Komplizen ihren Großvater auf diese Weise angingen, um ihn einzuschüchtern und gefügig zu machen. Und was danach wohl noch alles kam. In diesen Lagern gab es ja keine Zeugen, niemanden, der berichten konnte, wie es dort zuging. Nur Täter und Opfer. Die Täter hielten dicht, um sich nicht selber reinzureißen. Und die Opfer …
Das Mädchen schaute zu den beiden gefesselten Juden. Auch sie starrten den tapferen Schuster an, wie alle anderen auch. Auf ihren Gesichtern war keine Hoffnung zu erkennen, schon gar keine Freude über die unerwartete Hilfe. Erika sah nur Traurigkeit. Als hätte sich die Zahl der Opfer gerade um eins erhöht.
Die Nazis hatten sich jetzt alle von ihrem Schock erholt, machten Front gegen Fleischhauer, griffen nach dem Seil, versuchten es dem Schuster wieder zu entwinden. Der Riese hielt eisern fest, musste aber zurückweichen. Janssen tänzelte ein paar Schritte seitwärts, versuchte in Fleischhauers Rücken zu gelangen. Es sah schlecht aus für den mutigen Mann.
Fritz stieß einen eigenartigen Laut aus, wie ein getretenes Kätzchen. Niemand achtete darauf. Niemand außer Erika. Er schluchzt, dachte sie. Ihr Blick streifte wieder die Gesichter der Gefesselten. Und traf genau auf den des Mannes mit den Ärmelschonern. Jedenfalls glaubte sie das einen Moment lang. Tatsächlich aber schaute der Mann zu Fritz, der direkt vor ihr stand. Sie sah den Mann seine Stirn runzeln und leicht, fast unmerkbar den Kopf schütteln.
Und Fritz verstummte.
»Was soll das denn werden hier? Düvel noch mal, seid ihr denn jetzt ganz und gar van d’ Padd of?« Eine neue Stimme zerteilte den Tumult, der sich gerade aufs Neue erheben wollte. Eine trainierte, befehlsgewohnte Stimme, deren Besitzer durch die Gaffermeute pflügte und auf die Gruppe zuhielt, die den Kreis um Fleischhauer schon fast geschlossen hatte. Heinz Lüchte war es, der Dorfgendarm, allem Anschein nach direkt vom Küchensofa hochgeschreckt, auf dem er gewöhnlich seinen Mittagsschlaf hielt, denn sein spärliches Haar hing ihm wirr um den Kopf, und seine Finger hatten noch damit zu tun, die letzten Jackenknöpfe über dem Bauch zu schließen. Lüchte war ein bekennender Nazi, mindestens ebenso glühend wie der Kohlenhändler, und Erika stöhnte innerlich auf. Wie schlimm sollte es denn noch kommen?
Lüchte stieß Janssen beiseite, ignorierte dessen empörten Protest und stellte sich neben Fleischhauer. »Zurück«, sagte er leise, aber unerwartet bestimmt. »Alle zurück. Das Tau loslassen. Sofort.«
Fleischhauer wechselte einen Blick mit dem Gendarm, dann ließ er los. Als Erster. Wie geschickt das war, ging Erika erst nach und nach auf. Formal war der Ortspolizist nach wie vor die höchste Autorität am Platz, auch wenn er seine Befehle längst von der Partei bekam, deren Repräsentanten ihm hier gegenüberstanden. Diese Partei jedoch verkündete Gehorsam gegenüber der Obrigkeit als eines der obersten Prinzipien. Der Schuster hatte, scheinbar brav, Folge geleistet. Wer sich jetzt etwa weigerte, setzte sich ins Unrecht, und zwar in aller Öffentlichkeit.
Der Kohlenhändler löste seinen Griff, hob mit übertriebener Geste die Hände halbhoch, Flächen nach vorn. Die anderen folgten seinem Beispiel. Das Tau fiel zu Boden.
»So, und jetzt macht die beiden hier los.« Lüchte strich sich die Haare glatt, war jetzt eindeutig Herr der Lage. »Schluss mit dem Blödsinn. Hier ist Deutschland, hier herrschen Recht und Ordnung. Wenn hier jeder machen würde, wozu er gerade Lust hat, wo kämen wir dann hin!« Er stemmte seine Fäuste in die Hüften und wandte sich halb der Nazigruppe, halb den Zuschauern zu: »Was wir von den Juden zu halten haben, wissen wir, und zwar alle. Die werden kriegen, was sie verdienen, das könnt ihr mir glauben! Da wird der Führer schon für sorgen. Früher oder später. Aber das wird ordentlich geschehen, verstanden? Nach Recht und Gesetz. Nicht wie bei den Hottentotten. Geht das in eure Köpfe?!«
Erika sah die wütenden Mienen, aber sie sah auch gesenkte Häupter und verlegene Blicke. Zumindest für den Moment hatte der Gendarm erreicht, was er wollte. Wer die beiden Juden losgebunden hatte, sah Erika nicht. Aber als sie das nächste Mal dorthin blickte, wo sie gestanden hatten, waren die Männer fort. Das Seil lag schlapp am Boden. Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter. »Komm, lass uns nach Hause gehen«, sagte ihre Großmutter leise. Erika nickte. Die Lust auf einen Jahrmarktsbesuch war ihr gründlich vergangen. Fritz und Stinus ebenfalls, wenn auch wohl aus unterschiedlichen Gründen.
Als Erika noch ein letztes Mal zu der Gruppe bei dem großen Auto schaute, blickte sie genau in die wütenden Augen ihres Vaters.
9.
Kühe, ganz viele Kühe. Schwarz-weiß auf grün, fast weiß auf grün, braun-weiß auf grün, braun. Braun war in, braun war im Kommen, oh Baby, Baby. Cooler Checker. Was geht ab, Alda. Beweg dein’ Aasch, Alda.
Laute Stimmen, ärgerlich, wütend, hart. Drängend. Aufdrängend. Wie hieß das noch? Irgendwie anders. Alter, eh. Scheiß doch auf Deutsch, scheiß doch, Alter. Kühe glotzten ihn an. Bewegten ihre Mäuler, glotzten ihn an. Laute Stimmen, wütend, drängend. Kühe brüllten ihn an. Stinksaure Kühe, echt jetzt mal, ey, Alter. Was hatten die denn genommen? Was für Milch gaben die denn wohl, saure? Und was hatten ihn denn wohl Kühe anzubrüllen, jetzt hier, echt mal?
Justin stemmte mühsam seine Augenlider hoch; sie waren verklebt, sein Mund war ausgetrocknet, seine Zunge rollte in der Mundhöhle herum wie mit Sandpapier bespannt. Sollte doch mal nachts bisschen was mehr schlafen, dachte er, ey Alter, dachte er. Und hatte es sofort wieder vergessen. Die lauten, wütenden, harten, drängenden Stimmen waren immer noch da, dröhnten aus seinen Earplugs. HipHop, irgendwas von Bözemann, wieso, vorhin war es doch noch Massiv gewesen? Egal, Mann, Hauptsache Drive, Hauptsache cool. Wütend und aggressiv und voll respektlos war cool. Fresse, Alda, is’ doch alles nur Spaß!
Justin gähnte ausgiebig. Dann zupfte er sich den Soundknopf aus dem rechten Ohr. Aber die laut brüllenden, aggressiven Stimmen wurden dadurch eher noch lauter.
Scheiß Tagesfahrt, dachte Justin, scheiß Schule auf Rädern. Stundenlang nur Gewackel im Doppeldecker und stumpfe Kühe auf der Weide vor dem Fenster und drinnen Gebrüll. Nicht mal richtig schlafen konnte man. Dann fiel ihm auf einmal das Wort ein: aufdringlich. Nur, wozu sollte das gut sein? Justin zuckte die Schultern.
»Was ’n, Alter, machste Sitzpogo?« Hadid plumpste auf den freien Platz neben Justin, grapschte nach dem baumelnden Earplug. »Was’ das denn, Bözemann? Is’ doch Schwachmatenkram, ey! Hör dir lieber Alba Kingz an. Kann ich dir downloaden, wenn du willst, kost’ nix. Oder Bass Sultan Hengzt. Alles doch nur Spaß!« Hadid lachte, es klang hysterisch. Justin zog ihm den Ohrhörer aus der Hand und antwortete nicht, seine Miene unbewegt bis auf die hängende Unterlippe, die jede Bewegung des Busses nachzitterte. Was der Typ sich einbildet, dachte er, hab ich doch alles längst!
Hadid grinste, die krause Tolle über seiner schmalen Stirn wippte. Dann katapultierte er sich aus der Bank, irgendwo anders hin.
Eine verzerrte Stimme krächzte aus den Buslautsprechern, durchdrang das Schülergetöse nur ansatzweise. Fast niemand hörte hin, die Lehrer saßen sowieso alle unten. Irgendwas mit »Gurte anlegen, während der Fahrt nicht die Plätze wechseln« oder so. Plögers Stimme, ach, gepfiffen, auf den hörte ja eh keiner. Knack, aus.
Dann, nach ein paar Sekunden, wieder knack: »Sofort das Kaugummi von der Kamera entfernen, oder ich komm rauf!« Oha, das klang nach Käpt’n Iglo! Justin richtete sich ein wenig auf, linste nach vorne. Aha, natürlich Max. Pulte schon den Gummiqualster von der Linse, schön von der Seite, toter Winkel. Wollte keinen Ärger, der Max. Aber mit Käpt’n Iglo wollte ja keiner Stress. Der war fast so schlimm wie Knoppers, der Sportlehrer, und Knoppers konnte einen richtig fertigmachen. Drei, vier Runden um den Platz, den Alten mit seiner Pferdelunge dabei immer im Nacken, das brauchte echt keiner. Voll krass waren die Typen, echt, ey.
Jetzt ging Max in die Hocke, zog sich seine Hood über den Kopf und tauchte unter der Kamera hindurch zurück auf seinen Platz. Natürlich neben Dunja, war ja klar. Verdammt heiße Schnecke, wenn man auf Ölaugen stand. Wilde schwarze Locken bis über den halben Rücken, Ohrringe wie umgedrehte Weihnachtsbäume, auch sonst geile Optik, aber ihr Mund stand nie still. Justin würde so was rasend machen. Aber eine wie Dunja kam für ihn ja sowieso nicht in Frage.
Trotzdem, geiler Mund.
Knack, wieder der Lautsprecher. Plöger, ihr Geschichtslehrer. »So, liebe Schülerinnen und Schüler, wir erreichen jetzt gleich das Lager Westerbork. Ihr wisst ja Bescheid, Westerbork wurde ursprünglich 1938 von der niederländischen Regierung errichtet, um die vielen Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich, vor allem natürlich Juden, aufzufangen und unterzubringen, denn integrieren wollte man sie auf keinen Fall, schon um das Verhältnis zu Deutschland nicht zu belasten. So galten die Juden als unerwünschte Ausländer.«
»Na logo!«, schrie Hadid dazwischen. »Wo denn auch nicht? Die waren ja nicht dumm, die Holländer, was, Caro?«
Die Angesprochene, eine hübsche, hochgewachsene Blondine, deren Eltern aus Drenthe stammten, lächelte nur, irgendwas zwischen geschmeichelt und peinlich berührt. Einige andere johlten laut und beifällig. Auch Dunja lachte, dass ihre Ohrgehänge schepperten.
»Nach dem Einmarsch am zehnten Mai 1940 übernahmen die Deutschen das Kamp Westerbork«, fuhr Plöger ungerührt fort. Er kriegt unten wohl nur ansatzweise mit, was hier oben im Bus abgeht, dachte Justin. Unten war es ruhiger, da saßen sowieso nur die Braven. »Aus Internierten wurden damit automatisch Gefangene. So gesehen, haben die Holländer den Nazis die Arbeit sehr erleichtert.«
Wieder Beifallsrufe oben im Bus; Hadid beugte sich zu Caro vor und klopfte ihr demonstrativ auf die Schulter. Das wurde der Blonden nun doch zu viel. Ärgerlich schüttelte sie die Hand des Libanesen ab.
»Auch die Familie Frank, deren Haus in Amsterdam wir später noch besichtigen werden, wurde nach ihrer Gefangennahme hierher gebracht«, erzählte der Geschichtslehrer weiter. »Inzwischen war aus dem sogenannten Flüchtlingslager ganz offiziell ein Judendurchgangslager geworden. Durchgang bedeutet Zwischenstation auf dem Weg zu den Vernichtungslagern. Aber das wisst ihr ja hoffentlich noch aus dem Unterricht, hatten wir ja alles schon.« Knack. Gelangweiltes Genöle machte sich breit, während der Bus abstoppte und schwankend auf einen Museumsparkplatz einbog. Knack: »Und kommt natürlich im nächsten Test dran.« Knack. Genervtes Stöhnen mischte sich ins Genöle.
»Scheiß Judentest!« Das kam von ganz hinten. »Nix wie Ärger hat man mit dem blöden Pack.« Ach, Erol. Sollte wohl komisch sein, jedenfalls lachte der Lange selbst, und seine Kumpels stimmten ein, Hadid allen voran. Dunja lachte nicht, das konnte Justin deutlich sehen, denn sie hatte sich umgedreht und starrte nach hinten. Ihre Augen funkeln, stellte Justin fest. Scharf. Aber blaue fand er trotzdem schöner.
Zischend öffneten sich die Türen, die Schüler quollen ins Freie, alle drei neunten Klassen der Leeraner Friesenschule, Fünfzehnjährige überwiegend, aber auch schon Sechzehn-, Siebzehn- und Achtzehnjährige. »Überlagerte« nannte Plöger die Wiederholer. Justin war sechzehn, spät eingeschult, einmal backen geblieben, genau wie Hadid, der war zwar schlauer als er, aber früher genauso faul, tja, war halt so. Wen kümmerte das? Seine Mutter jedenfalls nicht. Vater hatte er eh keinen.
Während draußen schon die Gruppen eingeteilt und Bögen mit Aufgaben verteilt wurden, schob sich Justin noch die Wendeltreppe runter. Eilig hatte er es nicht, Geschichte war noch nie sein Ding gewesen. Musik schon eher, jedenfalls HipHop. Er schob den zweiten Earplug wieder hinein. Ich ficke deine Mutter hier langsam gang und gäbe / dank mir, kein Problem, das war im Handumdrehn / ich sperre Mädchen in meinen Keller ein / sag, was kann man für ein Penner sein / und kick den Neugeborenen die Schädel ein … Krass. Justin musste grinsen. Tja, Bass Sultan Hengzt, solche Leute trauten sich was. Fand er geil, auch wenn er die eigentlich nicht mochte. Komisch eigentlich. Aber auch egal.
Dunja tänzelte auf Plöger zu und schnappte sich eines der letzten Klemmbretter mit Fragebögen, strahlend wie immer. Fingerlang Ehrgeiz, pah. Justin beeilte sich, an ihre Seite zu kommen, quetschte sich zwischen Max und Hadid, rempelte dabei Thang zur Seite, ohne sich zu entschuldigen. Der Schlitzi war eifrig genug, der konnte sich sehr gut selber helfen.
»Immer vier arbeiten zusammen!«, rief Plöger. Justin hörte nichts, sah nur die vier Finger, die sein Lehrer in die Höhe hielt. Na prima, das passte doch. Dunja würde das schon machen, notfalls mit Max’ Hilfe. Er und Hadid mussten nur lässig dabeistehen. Perfekt.
Sie wollen mich hinter schwedischen Gardinen / die Kids sind seelisch labil, ich als Vorbild rede vom Dealen / und habe all diese Mädchen zu Huren gemacht / ich bin das wahre schlechte Vorbild und hab die Juden vergast!
Hinter den anderen her taperte er an Bahngeleisen entlang, stillgelegten offenbar, jedenfalls waren sie verrostet. Einige waren total verbogen, die Enden standen hoch, stachen ins Leere. Sah aus wie der Schrott bei Firma Heeren am Hafen in Leer. Justin glotzte verständnislos. Da war auch ein Prellbock, davor waren Blumen gepflanzt. Hä?
»He, mach gefälligst auch mal mit hier!« Dunja riss ihm die Ohrstöpsel heraus, beide gleichzeitig. Tat richtig ein bisschen weh.
Ärgerlich grunzte Justin auf und stoppte den Player. »Wassn?«
»Pass auf, Frage vier: Wie viele Züge mit deportierten Juden verließen Westerbork zwischen 1942 und 1944 in Richtung Osten?« Dunjas dunkle Augen fixierten ihn ungeduldig.
Justin hob die Schultern. »Keine Ahnung. Eine Million?«
Dunja schlug ihm das Klemmbrett gegen die Brust. »Blödmann. Penn weiter!«
»Hier!« Hadid hatte eine Infotafel entdeckt. »Da steht’s. 65 Züge nach Auschwitz, 19 nach Sobibor, acht nach Bergen-Belsen und sechs nach Theresienstadt. Macht zusammen, äh, 98 Stück. Richtig?«
»Klasse!« Dunja trug die Zahl ein, benutzte dabei Max’ Rücken als Schreibunterlage. »Damit hätten wir auch gleich die Antwort auf Frage vier: Welche Konzentrationslager waren die Ziele? Vier Kästchen, prima, das passt!«
»98 Züge, gar nicht so viele, oder?«, fragte Max.
»Nur aus Holland? So groß ist das Land ja nicht«, erwiderte Hadid. Er reckte den Hals, konnte Caro aber nirgends entdecken. »Komisch, so ’n kleines Land und so große Frauen!«
»In diesen 98 Zügen saßen aber insgesamt über hunderttausend Menschen«, sagte Dunja. »Guck, das war doch Frage zwei. 107 000 genau. Also über tausend pro Zug.« Sie legte nachdenklich den Stift an ihre vollen Lippen und blieb vor einem offenen Waggon stehen. Westerbork – Auschwitz, Auschwitz – Westerbork stand auf einem verwitterten Schild neben der Schiebetür.
»Gesessen haben die da drin wohl eher nicht«, sagte Max leise. »Das ist ein Viehwaggon.«
»Jetzt kapier ich auch das mit den Schienen«, platzte Justin heraus. Und ärgerte sich, weil ihm aufging, dass sein Lehrer mit seinen Fragen genau das hatte erreichen wollen. Zum Glück achteten die anderen gar nicht auf ihn.