Kitabı oku: «Zorn und Zärtlichkeit», sayfa 6

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»Frage fünf: Wie viele der Deportierten haben die KZs überlebt?«, las Dunja vor. »Wieso überlebt? Ich denke, die sind da alle ermordet worden.«

»Die meisten, ja«, warf Max ein. »Und viele auch sofort. Aber viele kamen auch erst in Arbeitslager, mussten schuften, die Männer ersetzen, die als Soldaten in den Fabriken fehlten. Hart arbeiten. Dass sie sich dabei schnell zu Tode arbeiteten, war gewollt und einkalkuliert.« Max rieb sich die Stirn, hob dann den Zeigefinger: »Am Ende hat in den Arbeitslagern einer von fünfhundert überlebt. In den Vernichtungslagern war es nur einer von 75 000.«

»Gewollt und einkalkuliert. Soso.« Auch Hadid hob den Finger, rieb sich die Stirn, äffte seinen Mitschüler nach. »Da haben wir aber recht gut aufgepasst, sehr schön, sehr schön, Herr Plöger junior. Dafür dürfen Sie einmal in Ihres Vaters Sessel pupsen.«

Dunja und Justin lachten gleichzeitig los. Hadid hatte sowohl Max als auch seinen Vater gut getroffen. Das Mädchen aber wurde schnell wieder ernst. »Mensch, hört auf zu geiern, das passt hier doch wohl gar nicht. Die Leute gucken schon.«

»Na und?« Hadid blickte sich provozierend um. Keiner der Besucher, die nicht zu den Leeraner Schülern gehörten, schien auf die Gruppe zu achten. »Wenn schon. Was ist denn mit den Leuten, die von den Juden verfolgt und ermordet werden? Was ist mit Palästina und dem Libanon? Massenmord in Palästina, Holocaust durch die Rabbiner! Macht sich darum etwa einer von euch hier einen Kopf? Nee, die Menschen da sind euch doch völlig egal. Nur um die Juden, da wird andauernd ein Gejammer und Geschrei gemacht, ewig und drei Tage! Ist ja nicht auszuhalten.«

Justin nickte beifällig. »Genau. Und immer stehen wir Deutschen als Täter da. Mann, geht einem das auf die Nerven! Dabei waren die Juden doch selber schuld. Hätten ja nicht immer so gierig sein müssen.«

Max zog seine Stirn in Falten. Dunja schnappte nach Luft. Hadid grinste breit. Justin zuckte die Achseln. Ganz genau wusste er auch nicht, wo er das jetzt herhatte. Das Internet bot ja so allerhand.

»Los, weiter.« Dunja blätterte energisch um, las die nächsten Fragen vor. Justin hörte nicht hin. Felder rötlicher Backsteine nahmen seine Aufmerksamkeit gefangen. Sie standen aufrecht, waren unterschiedlich hoch, und jeder trug einen glänzenden Davidstern auf der oberen Seite. Wenn man genauer hinsah, waren auch Namen und Daten zu erkennen. Konnte es sein, dass jeder dieser Steine für einen Menschen stand, der von hier aus in den Tod geschickt worden war?

Hunderttausend, das war bloß so eine Zahl. Das hier, die Steine, das waren so unglaublich viele. Justin fühlte sich unbehaglich. Er sehnte sich nach seiner Musik, um das ungewohnte Gefühl in seinem Kopf zu betäuben, traute sich aber nicht, die Ohrhörer wieder einzustöpseln. Überall schwirrten Lehrer herum. Jetzt ärgerte er sich doch, dass er sein Haar so kurz hatte schneiden lassen.

Der Fragebogen führte sie vom Freigelände in die Ausstellungsräume. Große, körnige Schwarzweißfotos zeigten Menschen in altertümlicher Kleidung, Erwachsene und Kinder. Begleittexte nannten die unterschiedlichsten Geburtstage. Aber die Todesdaten, die waren irgendwie alle sehr ähnlich.

Haufen von Koffern, die die Leute hatten zurücklassen müssen. Briefe und Karten mit verzweifelten Botschaften, teilweise aus bereits fahrenden Zügen geworfen. Ein Teddy in einem gestreiften Schlafanzug.

Zwischen den Exponaten fühlte Justin sich unbeobachtet. Er stöpselte sich wieder ein und fuhr den Song weiter ab. Menschen sterben jeden Tag auf der Welt / sie haben Pech! / Es ist doch alles nur Spaß, Boy!

Eine eng beschriebene Postkarte ohne Briefmarke drehte sich in einer Glasvitrine, als schwebte sie mit dem Fahrtwind davon. Eine Mädchenstimme sagte: »Mein Gott, was tun mir die Leute leid.«

Justin hörte es nicht. Justin stand wie angewurzelt, die Unterlippe noch weiter herabhängend als sonst, den Blick starr zu Boden gerichtet. In dieser Abteilung gab es Utensilien der Gestapo zu sehen, darunter auch Foltergeräte, zusammen mit Bildern und Texten, die zeigten, wie sie benutzt wurden. Mitten drin eine Kiste, lang und schmal, mit hochgeklapptem Deckel. Justin brauchte nicht erst zu schauen, wie die Nazis sie eingesetzt hatten.

Solch ein Ding hatte er schon einmal gesehen. Im Einsatz.

10.

Auf dem glatten Linoleumboden des hell erleuchteten Labors nahm sich die Kiste ganz anders aus als in dem finsteren Kellergewölbe, wo Stahnke sie zuerst gesehen hatte. Zudem war sie jetzt trocken und enthielt keine Leiche. Trotzdem blieb ein Eindruck von Bedrohlichkeit. Bedrohlich wie ein Sarg eben.

»Die früheren Besitzer des Hauses leben nicht mehr«, referierte Kramer aus seinen Unterlagen. »Es gibt aber Aussagen von Nachbarn, denen zufolge diese Kiste tatsächlich zur Lagerung von Gartengeräten benutzt worden sein soll. Das erklärt die vielen Macken an den Innenseiten und den Sand.«

»Eigentlich unsinnig«, wandte Stahnke ein. »Gartengeräte hängt man doch besser an die Wand, zumal, wenn im Keller so viel Platz ist. Dann muss man nicht lange suchen, wenn man irgendwas braucht. In so einer Kiste liegt doch alles wirr durcheinander, und das, was man gerade benötigt, ist grundsätzlich unten. Außerdem, wenn etwas fehlt, bemerkt man es nicht gleich. Unpraktisch, wenn du mich fragst.«

Kramer blätterte in seinen Unterlagen. »Stimmt«, sagte er. »Allerdings besaßen diese Leute außer dem Garten hier noch eine Parzelle in einem Schrebergarten draußen im Hammrich. In der Kiste wurden die Geräte hin- und hertransportiert.«

»Hm. Na denn.« Stahnke beugte sich vor, musterte das Kisteninnere, die Hände auf dem Rücken verschränkt. »Was haben die lieben Kollegen denn noch so alles herausgefunden?«

»In dem Loch im Deckel hat ein Schlauch gesteckt«, antwortete Kramer. »Abriebspuren lassen den Schluss zu, dass es sich um denselben Gartenschlauch handelt, der im Keller gefunden wurde. Weitere Spuren fanden sich an dem Schlauch leider nicht.«

»Nach der Tat zurückgelassen? Oder schon dort vorgefunden?«

»Vermutlich Letzteres. Das Schlauchende ist auf einen Wasserhahn aufgeschraubt, und Korrosionsspuren weisen darauf hin, dass diese Verschraubung seit Jahren nicht mehr gelöst worden ist.«

Wie mochte das sein, wie mochte es sich anfühlen, gefesselt in einer verschlossenen, engen, dunklen Kiste zu liegen, die sich langsam mit Wasser füllte? War der alte Mann mit der Beule am Kopf bis zum Schluss betäubt gewesen, oder hatte das eiskalte Wasser ihn wieder zu Bewusstsein gebracht, lange genug, um den eigenen Todeskampf voll auszukosten? Stahnke erschauderte.

»Der Klempnermeister hat ausgesagt, der Wasserhahn sei nicht ganz geschlossen gewesen«, fuhr Kramer fort. »Damit ist die Überflutung des Kellers zu erklären. Ob das Absicht war oder ob die Täter gestört wurden und überstürzt flüchteten, ist ungewiss.«

»Wie so vieles«, seufzte Stahnke.

Kramer blätterte. »Auffällig ist, dass der Sand, der sich in der Kiste befand, mit Spuren von Kohlenstaub durchsetzt war. Das betreffende Haus hat eine Gasheizung, keine Kohleöfen. Vermutlich war das früher anders. Wir überprüfen das.«

»Alles gut und schön«, knurrte Stahnke. »Aber wieder nichts, das uns konkret weiterhilft.«

»Eine Sache wäre da noch«, sagte Kramer. Ganz beiläufig, mit stoischer Miene.

Na Gott sei Dank, dachte Stahnke. Dass wir nicht mit völlig leeren Händen dastehen. Und dass auf Kramers Hang zu kleinen Spielchen immer noch Verlass ist. »So«, erwiderte er ebenso gelassen. »Lass mich raten. Ein Fingerabdruck in der Dichtmasse.«

»Genau«, bestätigte Kramer. Falls er enttäuscht darüber war, dass Stahnke seinen dramaturgischen Kniff hatte verpuffen lassen, so ließ er sich auch das nicht anmerken. »Das Silikon ist überall mit dem Finger glattgestrichen worden, der Täter jedoch hat entweder Latexhandschuhe getragen oder aber Kunststofffolie benutzt. Dabei ist er ziemlich sorgfältig vorgegangen.«

»Einen Fehler aber macht jeder«, soufflierte Stahnke, dem es jetzt doch zu langsam ging.

Kramer nickte. »Folie verrutscht, Handschuh aufgescheuert und gerissen – so was in der Art. Am Tatort gefunden haben wir keins von beiden. Dafür aber einen sauberen Zeigefingerabdruck. Genau dort.« Er zeigte auf eine der unteren Kistenecken. Dann blickte er auf. »Merkwürdig, nicht wahr? Da macht sich jemand so viel Mühe – und dann das.«

»Was willst du? Ich beschwere mich jedenfalls nicht«, sagte Stahnke. »Jetzt muss uns dieser Abdruck nur noch weiterbringen.« Er dachte an die Fingerabdrücke des Toten, die sich in keiner Kartei gefunden hatten.

»Abgleich läuft«, sagte Kramer.

Also wieder warten! Stahnke rammte die Fäuste in die Hosentaschen. »Und sonst? Was haben wir noch?«

»Ich habe mir Mergners Bericht noch einmal genauer angesehen«, sagte Kramer. »Er schreibt allerhand zu den alten Narben des Toten. Irgendwie bringe ich das nicht auf einen Nenner. An der Schulter eine vernarbte Schussverletzung, möglicherweise auch Splitterverletzung. Angesichts des vermuteten Alters des Toten, nämlich etwa achtzig Jahre, könnte die aus dem Zweiten Weltkrieg stammen. Auf dem Rücken aber befindet sich noch eine Brandverletzung, Größe etwa DIN A3. Das steht da wirklich! Und dann steht da noch, sie stamme vermutlich von Napalm.«

»Napalm?« Mit diesem Teufelszeug, das sich so gern in menschliche Haut biss und selbst unter Wasser noch weiterbrannte, hatten die Amis in Vietnam ganz Dörfer abgefackelt, samt allen Bewohnern von Greis bis Säugling. Auch im Zweiten Weltkrieg war dieser Kampfstoff schon eingesetzt worden, allerdings unter anderer Bezeichnung.

»Und dann ist da noch diese vernarbte Stelle am rechten Unterarm«, fuhr der Oberkommissar fort. »Keine Verletzung, sondern die Überreste einer Tätowierung. Anscheinend ist dort ein Tattoo zunächst übertätowiert und dann entfernt worden. Mit deutlichen Spuren.«

»Was für ein Motiv war es denn? Kann man noch etwas erkennen?« Vielleicht ja doch ein altes Knast-Tattoo, dachte Stahnke, obwohl der Mann keine Akte bei uns hat. Trotzdem könnten wir mal bei den JVAs rumfragen, wer weiß, wie lange das her ist. Oder der Tote war mal Seemann. Vielleicht Rocker? Nein, falsche Altersgruppe. Obwohl, ausgeschlossen ist gar nichts. Wer in dieser Altersgruppe trug denn früher mal ein Tattoo? KZ-Insassen. Und SS-Leute. Hm. Die volle Bandbreite.

»Über ein Tattoo-Motiv steht hier nichts. Ich hake noch mal bei Mergner nach.« Kramer machte sich eine Notiz. »Dann gibt es noch diese Blasen.«

»Brandblasen?«

»Kutane Blasen an den Fersen, entstanden durch intensive Reibung«, zitierte Kramer. »Offenbar hatte unser Mann neue oder ungewohnte Schuhe getragen. Die Blasen waren geöffnet, die Oberhaut entfernt. Klebespuren von einem Heftpflaster rund um die halbwegs abgeheilten Stellen.«

»Geöffnet? Das soll man doch eigentlich nicht. Das Flüssigkeitspolster in solchen Blasen ist doch der beste Schutz gegen Infektionen. So heißt es wenigstens.«

Kramer zuckte die Achseln. »Tja. Alte Schule eben.«

»Pflasterspuren.« Stahnke rief sich die Bilder vom Tatort ins Gedächtnis. »Die Pflaster selbst trug der Tote nicht mehr, richtig?«

»Richtig. Es heißt ja auch halbwegs abgeheilt.«

»Und in dem Keller lagen die Dinger nicht herum.«

»Sind zumindest nicht aufgelistet.« Wieder blätterte Kramer, aber er schaute gar nicht richtig hin. Vermutlich hatte er solche Details im Kopf. »Woran denkst du?«

Stahnke öffnete den Mund. Hinter ihm platzte eine Tür auf. »Hier sind Sie also!«, schnauzte es schneidend. De Beer stürmte in den Raum, zwei Faxausdrucke in der Hand, das graue Gesicht eine einzige Maske der Empörung. »Wie kommen Sie dazu, eine Gen-Analyse bei einem teuren Privatlabor in Auftrag zu geben, ohne meine Genehmigung einzuholen! Kennen Sie den Dienstweg etwa nicht? Oder glauben Sie, Sie hätten es nicht nötig, sich an Vorschriften zu halten?« Er fuchtelte mit etwas herum, das eine Auftragsbestätigung zu sein schien. Kramer schien für ihn Luft zu sein; der Raubvogelblick des frischgebackenen Kriminalrats war allein auf Stahnke gerichtet.

Verdammt. Natürlich hatten sie eine Erlaubnis eingeholt, aber von Manninga, eben wie gewohnt. De Beer hatten sie dabei übergangen, es war also sein gutes Recht, sich aufzuregen. Also schwieg Stahnke, und Kramer tat es ihm gleich.

De Beer hätte auch gar nicht zugehört. Er präsentierte das andere Papier, schlug klatschend mit dem Handrücken darauf: »Und während Sie lustig Steuergeld vergeuden, hat das LKA seine Arbeit bereits getan! Doppelter Unfug also. Ich sage Ihnen, Herr Stahnke, das wird Folgen haben. Auch Sie haben eine Personalakte! Mal schauen, wie viel da noch hineinpasst. In dieser Sache hören Sie noch von mir, darauf können Sie sich verlassen. Für die Zukunft untersage ich Ihnen solche Alleingänge ausdrücklich. Das ist ein dienstlicher Befehl!« Er ließ das Fax einfach fallen und rauschte aus dem Raum.

Kramer schnappte sich das Papier aus der Luft. Während er es eilig überflog, schlug seine Stirn Falten.

»Nicht gespeichert? Keine Übereinstimmung?«

Kramer schüttelte nur den Kopf.

Verflucht, wieder nichts! Liefen sie denn hier nur in Sackgassen hinein? Und was de Beer über Stahnkes Personalakte gesagt hatte, gab ihm mehr zu denken, als er vor sich selbst zugeben mochte. Jungfräulich und schlank war die nicht mehr, und der Kriminalrat hatte sich ganz bestimmt schon davon überzeugt. Jetzt würde er daran gehen, sie zu mästen, und zwar gründlich. Irgendwann, fürchtete Stahnke, würde ihn dann auch seine gute Aufklärungsbilanz nicht mehr retten.

Zumal er im gegenwärtigen Fall meilenweit von jedweder Lösung entfernt war.

»Wie verfahren wir also jetzt mit dem Foto? Herausgeben an die Presse?«, fragte Kramer.

Stahnke nickte: »Ja. Ruhig an den großen Verteiler.« Dann fügte er, einer Eingebung folgend, noch hinzu: »Außerdem ein Foto von dieser Kiste hier. So wie sie hier steht. Mit einer kurzen Erläuterung.«

Ehe Kramer nachfragen konnte, schlug sein Handy an. Die Titelmelodie von Derrick, schau an, dachte Stahnke, die Serie kannte der noch? Na ja, die Vierzig hatte auch ein Kramer schon hinter sich, obwohl man ihm das nicht ansah. Schon gar nicht jetzt gerade, da ein zufriedenes Lächeln seine Züge glättete.

Der Oberkommissar bedankte sich und schob sein Handy wieder zusammen. »Endlich ein Treffer«, sagte er trocken.

»Der Fingerabdruck?«

»Genau. Es gibt eine Übereinstimmung. Sogar hier bei uns.«

»Und? Haben wir einen Namen?«

Kramer schüttelte den Kopf. »Das leider nicht. Aber es wurde ein identischer Abdruck gesichert, vor einigen Wochen schon. Im Zusammenhang mit einer mutmaßlichen Brandstiftung, eventuell sogar einer kleinen Serie. Ich soll mich mal an den zuständigen Ermittler wenden, sagt der Kollege. Einen gewissen Hauptkommissar Stahnke.«

11.

»Sie haben jetzt mit der neuen Brücke angefangen«, sagte Fritz.

»Ich weiß«, antwortete Erika. Sie streckte beide Beine aus und spürte das Kitzeln der Grashalme an ihren Waden, die sich unter ihrem langen Rock hervorschoben. Ein aufregendes Gefühl, vor allem zusammen mit der Wärme der Sonnenstrahlen auf Gesicht und Unterarmen. Und der Nähe von Fritz.

Sie lagen nebeneinander am Deich, weit genug weg vom Jemgumer Hafen und von neugierigen Blicken, außer denen der Schafe, die sie verständnislos musterten. Ein herrlicher Spätsommertag, fand Erika. Die Ems, die sich träge vorüberwälzte, war wie ein Spiegelbild ihrer müßig dahinfließenden Gedanken. Immer wieder wurde der glatte Wasserspiegel von Böen gekräuselt, als bekäme er eine Gänsehaut. Entspannt und kribbelig zugleich, genau wie sie sich fühlte.

»Angeblich werden sie bald Arbeiter suchen«, fuhr Fritz fort.

Erika stemmte ihren Oberkörper mit den Ellenbogen hoch. »Du willst doch wohl nicht … hör mal, Erdarbeiter! Das ist doch nichts für dich. Und was ist mit der Schule?«

»Die ist sowieso bald vorbei«, murmelte der Junge, einen Grashalm zwischen den Zähnen. »Das eine Jahr noch. Was macht das für einen Unterschied?«

Mit der Gelassenheit war es vorbei. Erika suchte nach Worten. Durfte sie sagen, wie sehr sie sich in dem vergangenen Jahr an Fritz’ Gegenwart gewöhnt hatte? Wie sehr sie ihn vermissen würde? Auf gar keinen Fall durfte sie das. Nicht nur, weil es sich nicht schickte, sondern weil er es unmöglich begreifen konnte. Sie verstand es ja selbst kaum, dieses Gefühl, das just in diesem Moment aufwallte, da sie begriff, dass die Dinge sich ändern würden. Und zwar bald.

Theoretisch war ihr das natürlich längst klar. Nächsten Montag würde sie fünfzehn werden, Fritz war es schon, ebenso wie Stinus. Auch für sie war das, was die Erwachsenen so hochtrabend »Ernst des Lebens« nannten, bedrohlich nahe gerückt. Längst verhandelte sie mit ihrer Mutter, um bloß nicht zu einem Bauern in den Haushalt geschickt zu werden. Die Chancen standen recht gut auf eine Lehre als Verkäuferin, vielleicht sogar in Leer. Immerhin etwas. Angeblich florierten ja die Geschäfte, seit die jüdische Konkurrenz verdrängt worden war.

»Aber warum willst du denn einfacher Arbeiter werden?«, fragte sie weiter. »Du hast doch gute Noten. Hättest aufs Gymnasium gehen können, genau wie ich. Willst du dich nicht wenigstens um eine Lehrstelle bemühen?« Ihr selbst war die Oberschule verwehrt geblieben, weil sie ein Mädchen war; Fritz war schlicht zu arm, seine Familie konnte das Schulgeld nicht aufbringen. Das hatte er ihr einmal erzählt, ohne dass sie gefragt hätte, kurz nach dem Vorfall vergangenes Jahr zur Gallimarktzeit. Sonst gab Fritz nur wenig über sich preis. Eigentlich gar nichts. Das, was sie über ihn wusste, stammte zumeist aus der Schule. Zum Beispiel, dass er sehr gut rechnen konnte. »Du könntest doch ins Büro gehen«, schlug sie vor. »Buchhalter werden oder so. Bei einem Kaufmann oder sogar bei einer Bank.«

Sein Kopf fuhr zu ihr herum. Es war, als habe sich ein Vorhang geöffnet, als sei eine Maske verrutscht, als könnte sie ihm für einen Moment bis tief in seine Seele blicken. Sie erschrak vor dem, was sie da sah. Es war purer Schmerz.

Sie hatten nie darüber gesprochen, was sie letzten Herbst gemeinsam erlebt hatten. Kein einziges Wort. Fritz trug eine schwere Bürde mit sich herum, ein großes Geheimnis, das zu bewahren wichtiger sein musste als alles andere. Erika hatte das damals am Jemgumer Hafen erkannt, im Bruchteil einer Sekunde, aus einem einzigen Blick. Einem Blickwechsel, genauer gesagt, dem zwischen Fritz und diesem Mann, den sie nie zuvor gesehen hatte und der danach spurlos verschwunden war. Erika hatte eine Vermutung, wer dieser Mann war. Eine Vermutung, die sich seither, in langen Stunden des Grübelns, zur Gewissheit verdichtet hatte. Und sie hatte auch begriffen, dass sie Fritz niemals danach fragen durfte, wenn ihr an seiner Freundschaft, überhaupt an ihm etwas lag. Daran hatte sie sich gehalten.

Bis jetzt.

»Du weißt es doch«, flüsterte er. »Das habe ich dir angesehen. Gott, was habe ich Angst ausgestanden damals! Aber du hast nichts gesagt. Dafür danke ich dir.«

Es stimmte also. Er hatte alles bestätigt mit diesen wenigen Worten. Er hatte sich damit in ihre Hand gegeben, rückhaltlos. Jetzt konnte auch sie die Bürde spüren.

Die beiden schauten sich an, so intensiv, wie sie es sich noch nie getraut hatten. Tauchten förmlich ein in des anderen Augen. Sein Vertrauen, ihre Verantwortung, ihrer beider Schicksal, alles in diesem Blick.

»Wir sind deutsche Juden«, sagte er, immer noch leise, als wären sie nicht nur von Deichschafen umgeben. »Vor allem Deutsche. Vater deutsch, Mutter deutsch, ich ebenfalls. Was wusste ich denn von Judentum, als ich klein war! Niemals bin ich in einer Synagoge gewesen. Mein Vater ging nicht zum Beten, sondern zu den Versammlungen der Sozialdemokraten, und meine Mutter zum Literaturzirkel. Als Hitler anfing, gegen Juden zu hetzen, dachten meine Eltern tatsächlich, sie wären gar nicht gemeint. Kann man sich so was vorstellen?« Fritz schüttelte den Kopf, lächelte dabei jedoch mit liebevollem Verständnis. »Mein Onkel war sogar im Kriegerverein. Weltkriegsveteran, Eisernes Kreuz! Vater war damals noch zu jung. Wenn die beiden sich stritten, dann immer über Politik. Onkel Sigismund war nämlich stramm deutschnational.«

Sie starrte mit offenem Mund, so dass er lachen musste. »Ja, kaum vorstellbar, was? Aber so war es. Die meisten Juden in Deutschland fühlten sich längst als Deutsche jüdischen Glaubens, viele auch nur als Deutsche. Bis man uns klargemacht hat, dass wir damit nicht durchkommen. Weil ein Glaube ja eine Rasse ist.«

Erika schloss den Mund, räusperte sich, dachte dann: Jetzt ist es auch egal. »Heißt du eigentlich wirklich Fritz?«, fragte sie.

Er lächelte. »Klar. Fritz für Friedrich. Friedrich August Salomon, um genau zu sein. Friedrich nach meinem Vater, August nach August Bebel, einem der Gründer der SPD. Und Salomon … tja, aus Tradition, nehme ich an.«

»Und wer ist Fleischhauer? Ich meine, ist das auch ein … Onkel von dir?«

»Ich nenne ihn nur so«, erwiderte Fritz. »Onkel Evert. Verwandt bin ich in Wirklichkeit aber nicht mit ihm. Er ist ein Kamerad von Onkel Sigi. Sigismund, meine ich. Die beiden waren zusammen an der Front und haben später über ihre Kriegervereine Fühlung gehalten. Onkel Evert war Onkel Sigi wohl einen Gefallen schuldig. Einen großen. Hat wohl mit dem Krieg zu tun gehabt. Tja, und so kamen meine Eltern und mein richtiger Onkel darauf, mich hier bei ihm unterzubringen.« Er schluckte. »Zu verstecken, genauer gesagt.«

Erika nickte. Der Druck auf die deutschen Juden, der im Olympia-Jahr 1936 etwas gemildert worden war, hatte in letzter Zeit wieder mächtig zugenommen. Die Nürnberger Gesetze von 1935, die die Juden für rassisch minderwertig erklärten und ihnen alles Mögliche verboten, wurden jetzt immer massiver umgesetzt, und man munkelte von noch finstereren Plänen, die von Zwangsaussiedlung bis hin zur vollständigen Ausrottung reichten. Was natürlich reine Bangemacherei war, trotzdem wurde das Leben für Juden in Deutschland immer schwieriger.

»Warum seid ihr denn nicht ins Ausland gegangen?«, fragte Erika. »Das haben doch schon so viele getan.«

»Weil wir Deutsche sind«, sagte Fritz. »Wir sind hier aufgewachsen, wir sprechen diese Sprache, meine Eltern arbeiten hier, verstehst du? Natürlich kennen wir Leute, Freunde von uns, die ausgewandert sind. Wollten in die Schweiz, aber dort bekamen sie kein Visum. Dann nach Amerika, aber die Überfahrt ist sehr teuer, wenn man drüben niemanden hat, der einem die Fahrkarten bezahlt. Schließlich sind sie nach Holland gegangen, nach Amsterdam. Mussten dort noch einmal ganz von vorne anfangen, die Sprache lernen, schlecht bezahlte Arbeit annehmen, in kleinen, feuchten Wohnungen leben. Und weißt du, wie die Holländer sie nennen?«

Erika zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Jöden?«

»Nee. Doofe Deutsche!« Fritz lachte bitter. »Wie du siehst, alle kapieren es, nur die Nazis nicht.«

Erika schüttelte den Kopf. »Wenn es nur allein die Nazis wären! Aber seit die an der Macht sind, drehen doch alle regelrecht durch. Als ob sie nur darauf gewartet hätten, endlich ihren ganzen Hass rauslassen zu dürfen! Mein Vater, Janssen, Stinus, unsere Lehrer, dieser blöde Kohlenhändler, alle! Ob Nazis oder nicht, das erkennt man wohl an der Uniform oder am Parteiabzeichen, aber sonst an gar nichts mehr. Alles nur noch eine einzige braune …« Erschrocken über ihre eigene Wut schlug sie sich die Hand vor den Mund.

»Tu den Leuten nicht Unrecht«, sagte Fritz sanft. »Denk doch nur mal an Lüchte, den Gendarm. Ohne den wäre mein Vater jetzt nicht mehr am Leben. Und dabei ist der Mann sogar in der NSDAP!«

»Toll. Da war er also einmal nicht völlig schlecht, und da sagst du gleich, er wäre gut? Das ist doch nicht dein Ernst. Der hat bestimmt nur Schiss gehabt, dass ein öffentlicher Doppelmord in seinem Zuständigkeitsbereich irgendeine Vorschrift verletzt. Warte nur ab bis zur nächsten Vorschriftenänderung, dann rührt der bestimmt keinen Finger mehr.«

»Mag ja sein, dass du recht hast.« Fritz wandte sich wieder dem Fluss zu, der glitzernd und unbeirrt zwischen den Deichen seine Bahn zog. »Wie auch immer. Jedenfalls ist Vater noch am Leben, und das ist es doch, was zählt.«

Ja, das zählt tatsächlich, dachte Erika. Ihr Großvater lebte auch noch. Jedenfalls hatte Stinus das vor ein paar Tagen behauptet. Janssen hatte wieder einmal Nachricht gebracht und seinen Schnaps bekommen. Maulig sei er gewesen, hätte mehr haben wollen, berichtete Stinus. Es würde immer gefährlicher, außerdem sei es im Moorlager schon aufgefallen, dass der alte Ziegler plötzlich den Kopf nicht mehr hängen ließ, seit er wusste, dass es seinen Leuten draußen gut ging und dass sie ihn nicht vergessen hatten. Eine gute Nachricht, und gefährlich dazu. Woher sollte sie das Geld für noch mehr Schnaps für Janssen nehmen?

Großvaters Überleben war ihr wichtig, so wie das seines Vaters für Fritz. Was war sie bereit, dafür zu ertragen?

Hinter ihnen blökte ein Schaf, erhielt mehrstimmige Antwort. Schafe, dachte Erika. Mit denen kann man alles machen. Die folgten ihrem Schäfer überall hin und waren auch noch dankbar dafür, wenn die Hunde sie trieben. Bis hin zum Schlachter. Immer brav, immer sanft, machten keinen Ärger, bis zum Schluss. Fritz war genau so ein Schaf. War noch froh, wenn man ihn nur schor, statt ihm das Fell über die Ohren zu ziehen. Schafe! Und die anderen? Schweine. Fraßen alles, was man ihnen vorsetzte. Suhlten sich im eigenen Dreck. Grunzten, dass man sein eigenes Wort nicht verstand, wurden fett und fetter, und wenn man nicht aufpasste, bissen sie einen.

Dabei fiel ihr etwas ein. »Hast du das mit den Schweinen gehört? Was da bei der Beerdigung passiert ist?«

»Seit wann werden Schweine beerdigt? Höchstens im Magen. Sogar in meinem, obwohl Schwein eigentlich nicht koscher ist.« Fritz zuckte im Liegen mit den Schultern, ohne sich umzudrehen. »Meine Eltern haben sich darum aber nie gekümmert. Ich auch nicht. Sonst könnte ich bestimmt nicht bei den Fleischhauers leben. Obwohl, so viel Fleisch gibt es bei denen gar nicht …«

»Blödsinn«, unterbrach Erika ungeduldig. »Ich meine, als die Jemgumer Juden eine Beerdigung veranstalten wollten. Einen Trauerzug hinaus zum jüdischen Friedhof, der liegt doch da im Westen.«

»Woher soll ich das wissen? So was sagt mir ja keiner. Weil hier keiner weiß, was ich bin. Außer dir. Hoffe ich wenigstens.«

»Jedenfalls durften die Juden mit dem Leichenwagen nicht den guten gepflasterten Dukelweg benutzen. Reine Schikane natürlich, denn der Speckfenneweg, der parallel läuft, ist unbefestigt und dauernd verdreckt, weil dort Vieh getrieben wird. Dort musste die Trauergemeinde also lang. Und als ob das nicht entwürdigend genug wäre, haben die Nazis den Juden auch noch Schweine entgegengetrieben! Die Trauernden kamen überhaupt nicht durch und mussten umkehren.«

»Und was wurde aus der Beerdigung?« Jetzt richtete Fritz sich doch wieder auf, schaute sie gespannt an. »Bei Juden müssen die Toten immer so schnell wie möglich unter die Erde. Wie haben die das denn bloß gemacht?«

»So, das interessiert dich plötzlich! Ich dachte, so jüdisch bist du überhaupt nicht. Aber wo dein guter Nazi Lüchte war, als das alles passierte, das fragst du nicht.«

Er schwieg, betrachtete sie nur mit seinen nachdenklichen, sanften Augen. Nein, Schafsaugen waren das nicht, trotz des undefinierbaren Brauntons. Fritz war weder dumm noch feige, wurde Erika klar. Er war einfach nur so, so – anders als die anderen Jungen. Nicht so aufbrausend und rauflustig wie die Fleischhauer-Bengel, auch nicht so leichtfertig und überheblich wie Stinus. Vielmehr besonnen und beherrscht. Viel zu erwachsen für sein Alter.

Sagte man das nicht auch von ihr?

Immer tiefer tauchte sie in diese sanften Augen ein, immer näher kamen die beiden einander, bis sich ihre Lider senkten und ihre Lippen sich berührten. Ein unglaubliches, ein atemberaubendes Gefühl war das, elektrisierend und heiß von den Haaren bis zu den Zehenspitzen, wahnsinnig stark und doch so unendlich zart. Das also ist er wirklich, mein erster Kuss, dachte Erika, als sich ihre Lippen wieder voneinander lösten. Was war dagegen Stinus’ Dreistigkeit!

Scheu lächelte er sie an, ängstlich fast, als habe er sich bei etwas Verbotenem erwischen lassen. Schnell aber wich die Sorge aus seiner Miene, und er strahlte ebenso glücklich wie das Mädchen, tauschte lange, frohe Blicke mit ihr, das Erlebte auskostend, ohne auf Wiederholung zu drängen. Erika fand das sehr anständig von ihm, edel geradezu, hätte er sie doch jetzt leicht überrumpeln können, aufgewühlt, wie sie war.

Aber ein ganz kleines bisschen enttäuscht war sie doch.

Irgendwann löste Fritz seinen Blick von ihrem, und als sie sich das nächste Mal in die Augen schauten, war der Schleier wieder da, dieser Vorhang aus Ernsthaftigkeit, hinter dem sich Schmerz und Traurigkeit verbargen.

»Wo sind deine Eltern denn jetzt eigentlich?«, fragte sie, den alten Gesprächsfaden wieder aufnehmend, als sei inzwischen gar nichts geschehen.

»Weiß ich nicht«, antwortete er. »Wirklich nicht, das kannst du mir glauben. Irgendwo in Deutschland jedenfalls. Wechseln oft den Wohnort und den Namen. Mein Vater arbeitet tageweise, wann immer es geht.« Er lachte auf, ansatzlos und bitter. »Mag ja sein, dass die meisten Deutschen Juden hassen. Aber hohe Löhne zahlen hassen sie noch viel mehr! Vater ist ein erstklassiger Buchhalter, und er versteht sich aufs Steuerrecht. Die Leute, für die er arbeitet, sparen also doppelt. Vielleicht sind sie ihm ja dankbar dafür« – wieder dieses verwundete Lachen – »und denunzieren ihn nicht sofort, sondern erst ein paar Tage später.«

»Jetzt redest du ja doch so wie ich!« Erika spürte rechthaberischen Triumph in ihrer Stimme. Zum ersten Mal hatte sie den Verdacht, dass es dieser Ton sein könnte, der Mitschüler und Erwachsene so häufig gegen sie aufbrachte.

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25 mayıs 2021
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