Kitabı oku: «Die Welt verdient keinen Weltuntergang», sayfa 2

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»Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt«

Deutschsprachige Lyrik nach 1945

Wer sich anschickt, die Entwicklung der deutschsprachigen Nachkriegslyrik in einer auch nur einigermaßen repräsentativen Auswahl zu dokumentieren, der gelangt rasch an einen Punkt, an dem immer mehr Fragezeichen sein Unternehmen begleiten, zumal wenn dieses für lyrikverwöhnte amerikanische Augen bestimmt ist. Angesichts der Wohltemperiertheit, die das Gros jener Gedichte kennzeichnet, die in den letzten Jahrzehnten zwischen Berlin und Wien, Hamburg und Zürich entstanden sind, muss ihn ebenso Resignation befallen wie angesichts der sprachlichen Unvermittelbarkeit dessen, was aus der neueren deutschsprachigen Dichtung unverwechselbar und bedeutsam herausragt.

Deutsch ist offenkundig keine Weltsprache mehr. Ein deutsch schreibender Dichter ist nicht mehr von vornherein im Vorteil gegenüber einem polnisch, tschechisch oder schwedisch schreibenden. Im Konzert der modernen Weltpoesie wird jedenfalls eine englische oder romanische – auch eine russische – Stimme weit eher und besser vernommen als eine deutsche. So ging von keinem deutschsprachigen dieses Jahrhunderts, nicht einmal von Rilke (erst recht nicht von Benn und Brecht), eine vergleichbare epochale und d. h. innovatorische Wirkung aus wie etwa von Walt Whitmans »Leaves of Grass«, Wallace Stevens’ »The Man with the Blue Guitar«, T. S. Eliots »The Waste Land«, William Carlos Williams’ »Paterson«, W. H. Audens »The Age of Anxiety«, Robert Lowells »For the Union Dead« oder zuletzt noch von Allen Ginsbergs »Howl« (um nur die allerwichtigsten jener englischsprachigen Gedichtbände zu nennen, die das Bild der modernen Poesie weit über den englischen Sprachraum hinaus geprägt haben). Ironischerweise erzielte nur ein einziger deutscher Dichter – und zwar einer aus dem achtzehnten Jahrhundert – so etwas wie eine moderne Weltwirkung, es war Friedrich Hölderlin, der allerdings auch im deutschen Sprachraum erst von Dichtern unseres Jahrhunderts in seiner wahrhaft überragenden Bedeutung erkannt worden war.

Die Ursache für die mangelnde Welthaltigkeit der lyrischen Durchschnittsproduktion einerseits und die eingeschränkte Weltwirkung der bedeutenden Ausnahmeerscheinungen unter den modernen deutschsprachigen Lyrikern andererseits ist aber nicht nur im Sprachlichen gegründet, sondern mehr noch im Geschichtlichen, nämlich in der Diskontinuität ihres Erscheinungsbildes, die eine Folge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft von 1933 bis 1945 ist. In einem Land wie den USA und aus einer Perspektive wie jener der Zeitschrift »Poetry«, die 1912 begründet wurde und bis zum heutigen Tage die englischsprachige Lyrikentwicklung kontinuierlich kommentiert und begleitet, kann man sich vermutlich nur schwer vorstellen, was es für einen jungen deutschsprachigen Dichter der vierziger und fünfziger Jahre bedeutete, von jeder Entwicklung der modernen deutschen und erst recht der modernen Weltpoesie abgeschnitten zu sein. So fragwürdig der Begriff von der »Stunde Null«, mit dem in Deutschland gern der Beginn der Nachkriegszeit belegt wurde, politisch auch war (weil er implizierte, es sei davor nichts gewesen, und also der Verdrängung diente), so fraglos traf er auf die literarische Situation zu.

In den zwölf Jahren von 1933 bis 1945 hatte nicht nur nichts, woran man später hätte anknüpfen können, entstehen dürfen, es war auch alles, was von der Moderne der Vorkriegszeit einer kontinuierlichen Weiterentwicklung wert gewesen wäre, als ›entartet‹ geächtet gewesen. Und erst recht wurde der Blick über die Landes- und Sprachgrenzen hinaus unter Strafe gestellt. Das erklärt, warum dann, als Ende der vierziger Jahre Einflüsse von draußen ebenso wieder erfolgten, wie die Wiederfindung der eigenen Moderne möglich war, diese Einflüsse oft eine eher negative Wirkung ausübten. Sie waren so überwältigend neu, dass sie zumeist ziemlich ungefiltert und unreflektiert übernommen wurden und entsprechend epigonale Resultate zeitigten. Es gab in Deutschland plötzlich lauter kleine deutsche Eliots, Pounds, Éluards, Benns und Brechts.

Weit mehr noch als derartig formalästhetische Probleme machten aber moralische Aporien den deutschen und österreichischen Nachkriegsdichtern zu schaffen. Der Zivilisationsbruch, der soeben stattgefunden hatte, war so über alle Maßen unfassbar und ungeheuerlich, dass er eigentlich jedem Fühlenden die Stimme verschlagen musste. Nur noch der Schrei oder schamhaftes Verstummen schienen eine einigermaßen angemessene Reaktion darauf. Die »Tendenz zum Verstummen« attestierte denn auch Paul Celan, selbst ein Überlebender des Holocaust, dem neuen Gedicht insgesamt. Bezeichnenderweise wurde in den Lyrikdebatten der Nachkriegszeit und noch bis in die siebziger Jahre hinein kein anderer Satz so häufig zitiert und so heftig diskutiert wie jener des aus dem amerikanischen Exil nach Frankfurt zurückgekehrten Kulturphilosophen Theodor W. Adorno, der besagte, es sei barbarisch, ja unmöglich, nach Auschwitz noch ein Gedicht zu schreiben. Mit gleichem Recht hätte Adorno freilich dekretieren können, es sei barbarisch, nach Auschwitz noch weiter essen und atmen zu wollen.

So viel jedoch ist sicher: ohne Reflexion der anthropologischen Möglichkeit Auschwitz ließ sich kein deutsches – und wahrscheinlich überhaupt kein Gedicht mehr – beglaubigen. Wer nach 1945 das alte Wagnis des Gedichts noch einmal einging, musste mehr als artistisches Vermögen oder poetische Gestimmtheiten vorweisen können, er stand mit jedem neuen Gedicht auch auf dem moralischen Prüfstand. Doch ebendiese moralische Hypothek war es nun wiederum, die so viele Gedichte – und Dichter – erdrückte, sie ins völlige Verstummen trieb oder aber, noch schlimmer, ins Predigen. Das übermächtige Gefühl der Verantwortung für den Zustand des menschlichen Gewissens schlug sich genauso oft als ästhetisches Defizit nieder wie moralische Bedenkenlosigkeit oder naive Arglosigkeit.

Schon vor Kriegsbeginn hatte Bertolt Brecht sein programmatisches Gedicht »An die Nachgeborenen« geschrieben, in dem er die Unmöglichkeit, noch arglos zu sprechen, beklagte: »Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!« Diese Brecht-Zeilen wurden in den literarischen Nachkriegsdebatten fast so häufig zitiert wie Adornos Auschwitz-Verdikt, zumal wichtige Lyriker der Nachkriegszeit noch zur Schule des naturmagischen Gedichts in der Nachfolge Oskar Loerkes und Wilhelm Lehmanns zählten und sich im Krieg mittels einer relativ unangreifbaren Naturlyrik in »das Gespräch über Bäume« gerettet hatten (so Peter Huchel, Günter Eich, Karl Krolow, Elisabeth Langgässer, Oda Schäfer, Horst Lange und Johannes Bobrowski). Spät in den sechziger Jahren, nicht lange vor seinem Freitod, hat Paul Celan noch mit einem Gedicht Brecht geantwortet, das schlechthin jede Form eines unschuldigen Sprechens verwirft: »EIN BLATT, baumlos, / für Bertolt Brecht: // Was sind das für Zeiten / wo ein Gespräch / beinahe ein Verbrechen ist, / weil es soviel Gesagtes / mit einschließt?« Die »Tendenz zum Verstummen« ist diesem Gedicht ebenso eingegraben wie die Forderung an den Dichter, das Unmögliche möglich zu machen und das Unsagbare zu sagen. Solches Sagen aber impliziert eine radikale Absage an jede geläufige Art des Sprechens, es verlangt eine neue, ganz andere, eine wahrhaft unerhörte Sprache.

Rekapituliert man heute die Lyriksituation nach 1945, ergreift einen Bestürzung, denn kaum irgendwo findet sich der Versuch, das Unsagbare zu sagen, vielmehr zeigt sich vorherrschend eine unsägliche Unversehrtheit, von der bereits die Titel der Gedichtbände künden, die damals herauskamen: »Des alten Mannes Sommer« (Rudolf Alexander Schröder), »Stern über der Lichtung« (Hans Carossa), »Entzückter Staub« (Wilhelm Lehmann), »Der Laubmann und die Rose« (Elisabeth Langgässer), »Die Silberdistelklause« (Friedrich Georg Jünger), »Mittagswein« (Anton Schnack), »Die Holunderflöte« (Peter Gan), »Unter hohen Bäumen« (Georg Britting) lauteten einige dieser Titel, und sogar »Die heile Welt« (Werner Bergengruen) wurde damals dem deutschen Lyrikleser, der inmitten der Verwüstung und Zerstörung hauste, allen Ernstes aufgetischt. Verräterisch auch noch der Titel der ersten repräsentativen Nachkriegs-Anthologie deutschsprachiger Gegenwartslyrik: »Ergriffenes Dasein«!

Um wie viel angemessener und das heißt weniger ergriffen als vielmehr entsetzt und empört hatten deutsche Dichter noch auf die Katastrophe des Ersten Weltkrieges reagiert. »Menschheitsdämmerung« betitelte Kurt Pinthus 1920 seine aufsehenerregende und folgenreiche Anthologie neuer deutscher Dichtung, in der die expressionistische Generation erstmals geschlossen auf den Plan trat und gewissermaßen als Vollstrecker von Nietzsches Testament eine gottlose und schuldbeladene Gesellschaft beklagte und anklagte.

»Abgelegene Gehöfte«: Auch dieser Titel eines 1948 erschienenen Gedichtbandes von Günter Eich wirkte eher idyllisch, signalisierte jedenfalls nicht, dass gerade ein Zivilisationsbruch wie nie zuvor stattgefunden hatte. Doch finden sich in diesem Eich-Gedichtband neben vielen vor dem Krieg und im Krieg geschriebenen Naturgedichten, die eher das Misstrauen gegen den Innerlichkeitskult der sogenannten Inneren Emigration zu nähren vermögen, erstmals auch Gedichte, die ihr Vokabular zwar weitgehend aus dem alten Fundus der Naturlyrik beziehen, aber von einer Schwermut durchwirkt sind, aus der eine tiefe Irritation der Welt- und Ich-Erfahrung spricht. Wenn diese auch ihren geschichtlichen Grund nirgends konkret benennt (was Günter Eich veranlasste, sich später von diesen frühen Gedichten zu distanzieren), so erscheint sie doch nicht nur als Affekt bloßer Furcht oder Ohnmacht, sondern enthält auch einen subversiven Kern, nämlich den der Verweigerung jeglicher Positivität.

Eichs Gedichtband »Abgelegene Gehöfte« enthält zudem zwei Gedichte, die neben Paul Celans »Todesfuge« zu den berühmtesten Nachkriegsgedichten überhaupt wurden: »Latrine« und »Inventur«. Beide verdanken sich der Erfahrung des Lagers, allerdings keines deutschen Konzentrationslagers, sondern eines amerikanischen Gefangenencamps am Rhein, und der Autor, der dort unter kläglichsten Bedingungen zu existieren gezwungen ist, weiß doch, dass er ein Recht auf Klage angesichts der Gräuel, die nicht zuletzt durch deutsche Armeen geschahen oder doch begünstigt wurden, nicht hat. Illusionslosigkeit ist daher erstes Gebot und zu dieser zählt vor allem die Einsicht in die Fragwürdigkeit des Guten, Alten, Wahren, Schönen, sprich: die Fragwürdigkeit einer humanistischen kulturellen Tradition, die Auschwitz zu verhindern weder die Kraft noch den ernstlichen Willen besaß. Wenn Günter Eich im Gedicht »Latrine« auch noch nicht auf den Reim und damit auf versöhnlichen Wohlklang verzichtet, so reimt sich in seinem Gedicht doch auf Hölderlin Urin (»Irr mir im Ohre schallen / Verse von Hölderlin. / In schneeiger Reinheit spiegeln / Wolken sich im Urin«). Das galt 1948 und auch noch einige Jahre später in Deutschland als ebenso unerhörte Provokation wie die nackte Aufzählung der lebensnotwendigen Utensilien eines Gefangenen im nunmehr reimlosen Gedicht »Inventur«, dessen hartnäckiges understatement bereits Eichs Bruch mit der naturmagischen Schule antizipierte.

Im selben Jahr 1948 wie »Abgelegene Gehöfte« erschien auch ein erster Band »Gedichte« des 1903 geborenen Peter Huchel, der mit dem vier Jahre jüngeren Günter Eich nicht nur die literarische Herkunft aus der Vorkriegs-Schriftstellergruppe, sondern auch das Schicksal der Inneren Emigration teilte, d. h., die meisten der Gedichte, die Huchel vorlegte, waren entweder vor dem Krieg oder unter den Bedingungen des Krieges und der Nazi-Diktatur entstanden. Auch Peter Huchel hatte, wie vorsichtig und hilflos auch immer, gesellschaftlich-politische Sachverhalte mit den Mitteln einer naturmagischen Metaphorik zu benennen versucht: »o öder Anhauch bleicher Lippen, / mit Blut und Regen kam der Tag, / da auf des Flusses steingen Rippen / das Morgenlicht zerschmettert lag«. Auch Huchels Gedichte legitimierte nur die verweigerte Positivität und die Schwermut, die sie gegen jede Vereinnahmung durch die Nazis geschützt hatte.

Eine wirklich adäquate Sprache für die Epoche der großen Verfolgungen und Verwüstungen fand Huchel erst dann, als er selbst zu den Verfolgten gehörte und Opfer einer neuen Gewaltherrschaft, diesmal einer kommunistischen, wurde, die sich in Ostdeutschland mit Hilfe Sowjetrusslands etabliert hatte. Huchel war ihr übrigens zunächst keineswegs ablehnend gegenübergestanden, wie sowohl sein 1948 entstandener Gedichtzyklus »Das Gesetz«, der die sowjetzonale Bodenreform preist, als auch die Tatsache zeigt, dass Huchel sich ab 1949 zum Chefredakteur der im Auftrag der Ost-Berliner Akademie der Künste erscheinenden Zeitschrift »Sinn und Form« küren ließ. Das Schlussgedicht seines Gedichtbandes, »Heimkehr« betitelt, endet entsprechend mit einer Hoffnungsperspektive. Aber die Figur, an die sich diese Hoffnung knüpft, ist keine konkrete, sondern eine mythische, und dieser zur Urmutter stilisierten wendischen Bäuerin, die in ihr zerstörtes Dorf heimkehrt, haftet – bei allem Respekt vor Huchel sei das gesagt – noch ein Rest jener Mütter- und Bauernverklärung an, wie sie nahezu nahtlos von der faschistischen in die kommunistische Ästhetik überführt wurde: »Aber am Morgen, / es dämmerte kalt, / als noch der Reif / die Quelle des Lichts überfror, / kam eine Frau aus wendischem Wald. / Suchend das Vieh, das dürre, / das sich im Dickicht verlor, / ging sie den rissigen Pfad. / Sah sie schon Schwalbe und Saat? / Hämmernd schlug sie den Rost vom Pflug. // Da war es die Mutter der Frühe, / unter dem alten Himmel / die Mutter der Völker. / Sie ging durch Nebel und Wind. / Pflügend den steinigen Acker, / trieb sie das schwarzgefleckte / sichelhörnige Rind«.

Heimkehrer ganz anderer Art gab es, als dieses Huchel-Gedicht entstand, nämlich jene Schriftsteller, die von den Nazis vertrieben worden waren und nun in ihre deutsche Heimat zurückkehrten. Der bedeutendste von ihnen, der von McCarthy-Hysterie aus den USA verjagte Bertolt Brecht, sollte in Ostdeutschland bald den stärksten, freilich auch den lähmendsten Einfluss auf die jüngeren Lyriker dort ausüben, die Brecht meist sogar habituell kopierten. Doch bevor hier Brecht und seine Folgen ins Blickfeld geraten, soll erst jener gedacht sein, die nicht mehr heimkehrten, entweder weil sie nicht mehr wollten oder nicht mehr konnten, wie etwa Gertrud Kolmar, die 1943 nach Auschwitz deportiert worden war.

Von Gertrud Kolmar, übrigens einer Cousine Walter Benjamins, brachte Peter Suhrkamp (der für Samuel Fischer dessen berühmten Verlag relativ unbeschädigt über die Nazijahre gerettet hatte und zuletzt selbst noch ein KZ-Opfer gewesen war) 1947 den Gedichtband »Welten« in seinem frisch gegründeten eigenen Verlag heraus. Leider ohne jedes Echo. Dabei handelte es sich hier um die Manifestation der wohl bedeutendsten modernen deutschsprachigen Lyrikerin nach Else Lasker-Schüler und neben Nelly Sachs, der späteren Nobelpreisträgerin. Meist in traditioneller Strophenform geschrieben, überbrücken die stärksten Gedichte Gertrud Kolmars den blutigen Zeitenraum bis zurück zu Kain und Abel mit der Inbrunst einer biblischen Stimme, wobei viele dieser Gedichte sogar einer Sphäre des Vormenschlichen, des Tellurischen und Anorganischen angehören – oder dort Schutz zu suchen scheinen. Viele werden nur von Pflanzen und Tieren bevölkert und hier wiederum vorwiegend von verachteten oder von Menschen gemiedenen Tieren – wie etwa der Kröte, die in einem späten Kolmar-Gedicht zum Inbild jenes wie Ungeziefer vernichteten auserwählten Volkes wird, dem die Dichterin angehörte: »Komm denn und töte! / Mag ich nur ekles Geziefer dir sein: / Ich bin die Kröte / Und trage den Edelstein«.

Nicht nur Gertrud Kolmars Gedichte fanden in den Nachkriegsjahren kein Gehör, auch auf die im Stockholmer Exil lebende Nelly Sachs, von der 1947 in Ost-Berlin der Gedichtband »In den Wohnungen des Todes« und 1949 bei einem Amsterdamer Emigranten-Verlag der Band »Sternverdunkelung« erschienen waren, wurde man in Westdeutschland erst in den späten fünfziger Jahren aufmerksam, als der zwar kleine, aber renommierte Verlag Heinrich Ellermann in München ihren Gedichtband »Und niemand weiß weiter« druckte. Im Gegensatz zu Gertrud Kolmar, die nur in ganz wenigen Gedichten unverschlüsselt vom Schicksal ihres Volkes gesprochen hatte, war nahezu jedes Nelly-Sachs-Gedicht eine unmittelbare Reaktion auf den Holocaust, war leidenschaftliche Klage und Flehen nach Erlösung von der »Totschlägerwirklichkeit«. Wie im Falle Gertrud Kolmars ist auch die Kraft der Gedichte von Nelly Sachs nicht aus Biblischem geborgt, sondern dort gegründet. Das wilde kosmische Sprechen und die verzückt visionäre Metaphorik der Propheten und Psalmisten feiern in diesen Gedichten Auferstehung und heben sie weit hinaus über jeden individuellen Kunstanspruch und jede ästhetische Doktrin.

Zwar wurde nach 1945 ein Wort wie »Vergangenheitsbewältigung« Mode, aber praktiziert wurde diese eher als Vergangenheits-Verdrängung. Das erklärt, warum Gertrud Kolmar, Nelly Sachs und so viele andere verfolgte und emigrierte deutsche Dichter damals – und oft bis heute – ungehört blieben. Weder die erste frei gewählte westdeutsche Nachkriegs-Regierung noch eine spätere Bundesregierung kam je auf die Idee, die Vertriebenen und Überlebenden offiziell zur Rückkehr in die alte Heimat aufzufordern (im Gegensatz zum kommunistischen deutschen Teilstaat, der geradezu warb um emigrierte Künstler und sehr vielen auch eine neue deutsche Heimstatt bot). Also blieben die westdeutschen Autoren erst einmal unter sich und mithin auch abgeschnitten von der eigenen literarischen Tradition, die seit 1933 gewaltsam unterbrochen und nur von den vertriebenen jüdischen oder antifaschistischen Autoren fortgeführt worden war. (Um nur zwei Bedeutende von ihnen zu nennen, die bis heute auch vermeintlichen Lyrikkennern hierzulande unbekannt sind: Franz Baermann Steiner, 1909 in Prag geboren und 1952 in Oxford gestorben, und Jesse Thoor alias Peter Höfler, 1905 in Berlin geboren und 1952 in Lienz gestorben.)

Einen einzigen Dichter allerdings gab es, der nach 1945 so etwas wie den Anschluss an die Moderne der Vorkriegszeit zu garantieren schien und der in den fünfziger Jahren denn auch zur allseits bewunderten und imitierten Vaterfigur der jüngeren Lyriker des Westens avancierte. Es war dies der 1886 geborene Gottfried Benn, seines Zeichens Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Berlin. Einst, in seiner expressionistischen Frühphase, hatte Benn mit seinem Gedichtband »Morgue« (1912) für Aufruhr gesorgt, fanden sich dort doch Gedichte, die den Geschmack des wilhelminischen Bürgertums tief verletzten (»Europa, dieser Nasenpopel / aus einer Konfirmandennase, / wir wollen nach Alaska gehn …«). Inzwischen schrieb Benn längst Gedichte von einer müden und mondänen Melancholie, die mühelos konsumierbar waren – und konsumiert wurden wie Drogen. Einem gerade noch einmal davongekommenen Bürgertum erschien Benn auch deshalb in einem fatalen Sinne ›vertrauenerweckend‹, weil er selbst mit dem Makel des Mitmachens behaftet war. In seinem Buch »Kunst und Macht« hatte Benn 1934 den Nationalsozialismus und seinen »Rassegedanken« emphatisch begrüßt (»Die weiße Rasse, das ist Deutschland, Jugend, vergiß es nie, ihre letzte Züchtung, ihr letzter Glanz bist du«).

Wenn Benns Begeisterung für den Nationalsozialismus auch bald gebremst wurde und er einsehen musste, dass nicht, wie er erhofft und verkündet hatte, eine geistige Elite in Deutschland die Macht ergriffen hatte, sondern das ressentimentgeladene Klein- und Spießbürgertum (»das Ganze kommt mir allmählich vor wie eine Schmiere, die fortwährend ›Faust‹ ankündigt, aber die Besetzung langt nur für ›Husarenfieber‹«), so blieb doch das Lebensgefühl, das seine Gedichte nach wie vor transportierten, tief regressiv. »O daß wir unsere Ururahnen wären. / Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor«, so hatte der frühe Benn gedichtet. Jetzt, nach dem großen Morden, knüpfte er wieder an diesen Rückwärtsträumen an und erteilte in seinen »Statischen Gedichten« (1948) dem Fortschrittsgedanken und der Geschichte eine schroffe Absage: »Entwicklungsfremdheit / ist die Tiefe des Weisen«. Und wenn der alte Benn reimte: »Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere, / was alles erblühte, verblich, / es gibt nur zwei Dinge: die Leere / und das gezeichnete Ich«, so war ihm der Applaus derer sicher, die aus naheliegenden Gründen das große Vergessen und die große Leere ersehnten.

Es passt ins Bild, dass der mit Abstand erfolgreichste, ja geradezu populäre junge Dichter jener Jahre nicht nur Benn-Adept – und von diesem hochgelobt – war, sondern sich auch als Betrüger entpuppte. George Forestier, Verfasser des Gedichtbandes »Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße« (1952), hatte weder das abenteuerliche Leben in der Fremdenlegion geführt, mit dem der Klappentext seines Buches den Lesern den Mund wässerte, noch hieß er Forestier, ja, er war nicht einmal jung, sondern ein biederer älterer Verlagslektor namens Krämer hatte sich so kostümiert, wie es dem Zeitgeist gefiel. Heute kennt von den Jüngeren keiner mehr seinen Namen.

Dem Sog, den Benns Tonfall und Weltschmerz damals ausübten, konnten sich aber auch die seriöseren unter den tatsächlich jungen Dichtern nicht entziehen, die politisch links standen und gegen die regressive und restaurative Stimmung in Westdeutschland aufbegehrten, wie etwa Werner Riegel und sein Freund Peter Rühmkorf, 1925 und 1929 geboren, die 1952 in Hamburg die Zeitschrift »Zwischen den Kriegen – Blätter gegen die Zeit« gegründet hatten und ihre Art zu dichten »Finismus« tauften. Auch wenn Riegel und Rühmkorf andere Absichten als ihr Vorbild Benn hatten und sie ihren Finismus als Alternative zu jener Art Wald-und-Wiesen-Dichtung verstanden, deren Verfasser Benn als »Nüssebewisperer« verspottet hatte, so produzierten sie, indem sie sich von Benns Sound nicht lösen konnten, selbst doch auch nichts anderes als jene von Rühmkorf an Benn beobachtete »kandierte Romantik nach dem ges. gesch. Geschmack des Restauratoriums, das La Paloma der intellektuellen Demimonde«. Das klang dann etwa so: »Ich bin Europas verlorener Sohn. / Siehe die trübe Gestalt! / Ich komme und stelle zur Diskussion / Denken und Darminhalt«.

Gottfried Benn stand damals allerdings noch für etwas anderes als Geschichtsmüdigkeit und Regression, nämlich für den Absolutheitsanspruch der Kunst, den so vehement und extrem kaum mehr jemand seit Mallarmé und Stefan George vertreten hatte. Wenn Mallarmé propagiert hatte: »Schließe das Wirkliche aus, es ist gemein!«, so behauptete Benn: »Das Wort des Lyrikers vertritt keine Idee, vertritt keinen Gedanken und kein Ideal, es ist Existenz an sich, Ausdruck, Miene, Hauch«. Kunst als Refugium oder Enklave des Zeitlosen und als Abkehr von der gemeinen Wirklichkeit: Auch das musste eine Intellektuellen-Generation faszinieren, der die zeitliche Wirklichkeit fast nur Unangenehmes eingebracht hatte und die zugleich auch von der Aufbau-Euphorie ringsum mehr abgestoßen als angesteckt war.

Freilich gab es neben Gottfried Benn noch einen großen deutschen Dichter, der so etwas wie die Kontinuität der Moderne verkörperte, es gab Bertolt Brecht. Doch es gab Brecht, den erklärten Antipoden Benns, eben nicht in West-, sondern in Ostdeutschland, und es dauerte unter den Bedingungen des Kalten Krieges, als für einen Westdeutschen Paris oder London wesentlich näher lagen als Ost-Berlin, ziemlich lange, bis Brecht auch in den Westen herüberwirkte. Zunächst beschränkte sich Brechts Einfluss ganz auf die jungen sowjetzonalen Lyriker. Propagierte Benn das Gedicht an niemand gerichtet, so forderte Brecht das eingreifende, das politisch bewusste Gedicht. Wo Benn die hehre Nutzlosigkeit von Kunst beschwor, glaubte Brecht an deren »gesellschaftlichen Gebrauchswert«, gegen Benns Kulturpessimismus stand Brechts politischer Optimismus. Das Gedicht des einen suchte, hochmetaphorisch, das Rauschhafte, die subjektive Erfahrungserweiterung. Das Gedicht des andern wollte objektiv überzeugen und entwickelte, unter Verzicht auf alle Metaphorik eine lakonische und epigrammatische Didaktik, die von Simplizität manchmal kaum zu unterscheiden war. Hermetismus und ›Offenheit‹ standen sich also in der westdeutschen Nachkriegslyrik ziemlich unversöhnlich gegenüber, fast so unversöhnlich wie die beiden deutschen Teilstaaten, und im Grunde sind bis heute diese Gegensätze in der deutschen Lyriklandschaft nie ganz verschwunden.

Die beiden B – Benn und Brecht – blieben für die jüngeren Dichter die großen Barrieren, die es irgendwie zu überwinden galt. Nur ganz wenigen gelang so etwas wie eine Synthese und damit eine Überwindung der unfruchtbaren Gegensätze von monologischem und appellativem lyrischen Sprechen. Jene beiden Dichter, denen es sicher am überzeugendsten gelang, kamen auffallenderweise von den Rändern des deutschen Sprachraums und setzten sich west- oder ostdeutscher Staatsrealität so gut wie nie aus: Paul Celan, 1920 in der Bukowina am Rande Osteuropas geboren, lebte nach dem Krieg ununterbrochen in Paris, Ingeborg Bachmann, 1926 in einem an Slowenien grenzenden Kärntner Tal geboren, lebte die längste Zeit ihres Lyrikerlebens in Italien, wo sie auch starb. Als sie 1953 mit ihrem ersten Gedichtband, »Die gestundete Zeit«, debütierte, da war – wenigstens in den besten Gedichten ihres Bandes – zum ersten Mal nach 1945 eine wirklich völlig neue, völlig eigene Stimme vernehmbar, deren Reinheit ebenso verzückte wie ihre Unbedingtheit beeindruckte und verstörte. Eines der Gedichte dieses Bandes bestach vor allen anderen durch seine kühne Dialektik und sein unterkühltes Pathos und wurde zu so etwas wie dem lyrischen Manifest der jüngeren Generation (die sich noch viel später, 1968, als die APO die erstarrten politischen Strukturen des deutschen Staatswesens erschütterte, auf dieses Gedicht berief). Während Wiederaufbau, Wiederbewaffnung – kurz: Restauration – auf dem Programm standen, betrieb dieses Gedicht die systematische Umwertung aller jener Werte, die überall noch oder schon wieder hochgehalten wurden, obwohl sie sich doch geschichtlich gerade noch so fürchterlich blamiert oder decouvriert hatten. »Alle Tage« heißt dieses Gedicht.

Der Krieg wird nicht mehr erklärt,

sondern fortgesetzt. Das Unerhörte

ist alltäglich geworden. Der Held

bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache

ist in die Feuerzonen gerückt.

Die Uniform des Tages ist die Geduld,

die Auszeichnung der armselige Stern

der Hoffnung über dem Herzen.

Er wird verliehen,

wenn nichts mehr geschieht,

wenn das Trommelfeuer verstummt,

wenn der Feind unsichtbar geworden ist

und der Schatten ewiger Rüstung

den Himmel bedeckt.

Er wird verliehen

für die Flucht von den Fahnen,

für die Tapferkeit vor dem Freund,

für den Verrat unwürdiger Geheimnisse

und die Nichtachtung

jeglichen Befehls.

Auch in anderen Gedichten ihres Debütbandes rief Ingeborg Bachmann in beschwörendem Ton zur Lösung des Menschen aus allen bestehenden und wertlos gewordenen Bindungen auf, der johanneische Anruf »Du musst dein Leben ändern« schwingt sozusagen in allen diesen Gedichten mit.

Gibt es in der »Gestundeten Zeit« aber auch noch manches Angelesene und Modische (wie etwa den Gebrauch ungewöhnlicher Genitivmetaphern), so hat Ingeborg Bachmann mit ihrem 1956 publizierten zweiten (und leider auch letzten) Gedichtband, »Die Anrufung des Großen Bären«, vollends zu sich gefunden, nahezu jedes der Gedichte dieses Bandes ist ein Wunder an lyrischer Erfülltheit und Vollkommenheit. Dabei ist die Sprache oft sogar eigentümlich schlicht, allerdings stets durchpulst von sinnlicher Energie: Hier spricht sich rückhaltlos ein weibliches Ich aus, dessen Glücksverlangen grenzenlos und dessen Verletzlichkeit explosiv ist. So leidenschaftlich Ingeborg Bachmann klagen kann, so lauter und ungestüm kann sie auch rühmen. Seit Rilke hat jedenfalls niemand mehr in deutscher Sprache auf eine legitime Weise feierlich gesprochen wie Ingeborg Bachmann, ihr Preisgedicht »An die Sonne« ist ein strahlender Beweis dafür. Und seit der Droste hat keine andere Dichterin Geheimnis und Gewalt des Eros in so vollendet schöner Strenge, in so gemeisterter Verzweiflung beschworen wie Ingeborg Bachmann in ihrem wohl bekanntesten Gedicht »Erklär mir Liebe«. Allein mit diesen beiden Gedichten hat Ingeborg Bachmann dem deutschen Gedicht noch einmal eine Klassizität erobert, die nach 1945 angesichts einer total verheerten Welt niemand mehr für möglich gehalten hätte.

Dass ein so reiner und hoher Ton, wie er mit Ingeborg Bachmann in die Welt kam, nicht lange durchzuhalten sein würde, war von Anfang an zu ahnen – und wusste die Dichterin selbst, die ab ihrem dreißigsten Lebensjahr nur noch Prosa schrieb (mit dieser aber nie mehr die Strahlkraft ihrer Poesie erreichte). Im Herbst 1973 starb sie an den Folgen einer Brandverletzung, die nicht so schwer war, dass man ihren Tod nicht mit ihrem Selbstvernichtungstrieb hätte in Verbindung bringen müssen. »Der ich unter Menschen nicht leben kann«, so lautet die Schlüsselzeile ihres Gedichts »Exil« (das zu den wenigen lyrischen Nachzüglern gehört, die nach dem Gedichtband »Die Anrufung des Großen Bären« noch entstanden). Ingeborg Bachmann reiht sich hier in die Schar jener ganz und gar Untröstlichen ein, für die es auf Erden nirgendwo Heimstatt gibt.

Zu dieser Art von existenziell Exilierten zählte auch Paul Celan, dessen Aufstieg in der Nachkriegs-Literaturszene nicht ganz so kometenhaft begann wie der Ingeborg Bachmanns (der sogar »DER SPIEGEL« eine Titelgeschichte gewidmet hatte), dessen absolute Ausnahmeerscheinung innerhalb der deutschen Lyrik sich aber jedem Lyrikkenner bereits mit seinem ersten, 1952 erschienenen Gedichtband, »Mohn und Gedächtnis«, ankündigte. In Czernowitz geboren, war Paul Celan, der eigentlich Antschel hieß und einer jüdischen Familie entstammte, die dem Holocaust nicht entkommen konnte, über Bukarest und Wien nach Paris gelangt, wo er an der École Normale Supérieure Deutsch unterrichtete und daneben Verse in deutscher Sprache schrieb, von deren rätselhafter Fremdheit magische Anziehungskraft ausging.

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