Kitabı oku: «Die Welt verdient keinen Weltuntergang», sayfa 4
Die Wiederentdeckung Ernst Meisters, eines anderen Dichters von vibrierender metaphysischer Unruhe, war Peter Handke und Nicolas Born zu verdanken, die 1976 den renommierten Petrarca-Preis für Poesie zwischen Sarah Kirsch und Ernst Meister aufteilten. Der 1911 geborene westfälische Dichter Ernst Meister, der von der Sprachphilosophie Martin Heideggers und von der Theologie herkam, hatte kurz vor Hitlers Machtergreifung bereits einen Gedichtband publiziert (der ihm den Ruf eines »Kandinsky der Lyrik« eintrug), nach 1933 aber geschwiegen. In der Nachkriegszeit blieb er, obwohl jetzt in kurzer Folge relativ viele Gedichtbände von ihm herauskamen, so gut wie unbeachtet, vermutlich weil man seine Lyrik für gedanklich überfrachtet hielt. Tatsächlich war für Ernst Meister Dichten immer – im Sinne Paul Valérys – identisch mit Denken. Seine Lyrik bezieht ihre eigene Tiefenwirkung vom endlosen »Erstaunen darüber, dass überhaupt etwas sei und nicht vielmehr nichts« (E. M.). Sie ist in einer Art stoischer Meditation auf den endlichen Stillstand des Universums gerichtet, nicht auf Sozietät also, sondern auf Transzendenz. Ihr Charakteristikum ist die permanente Reduktion: Ernst Meister »löst die Extensität des Satzes auf zugunsten der Intensität des Einzelwortes und seiner ihm innewohnenden Bewegung« (Gregor Laschen). Dieses Reduktionsverfahren und die Konzentration auf das Unsagbare rückt Meisters Lyrik in die Nähe der späten Lyrik Paul Celans, auf die sie gelegentlich auch direkt antwortet.
In den Jahren der Rückbesinnung und Revisionen kamen auch einige jener unentwegt und unerschrocken experimentierenden Autoren wieder zur Geltung, die sich als Nachfahren des Barock, des Surrealismus oder Dadaismus verstanden und dem Ernst der Stunde ihren verspielten Unernst entgegensetzten, in Lautgedichten, Textcollagen, Dialektgedichten, Bildgedichten und öffentlichen Aktionen. Sieht man von dem Siebenbürgener Oskar Pastior ab, der wohl der radikalste unter ihnen war und bei dem die Lust am Sprachspiel sich stets mit einem erkenntnistheoretischen Impetus paart, so stammen die meisten von diesen Autoren aus der sogenannten Wiener Gruppe, so Gerhard Rühm und H. C. Artmann, beide Virtuosen der ironischen Aneignung fremder, verschollener oder verachteter literarischer Muster (H. C. Artmann darüber hinaus der Erwecker des Dialektgedichts, das bei ihm alle Gemütlichkeit abgelegt hat und aus Herzensgrund böse ist). Die größte Breitenwirkung unter allen experimentellen Autoren war dem 1925 geborenen Wiener Ernst Jandl beschieden, der tangential zur »Wiener Gruppe« seine Sprachexperimente entwickelte und mit seinem Gedichtband »Laut und Luise«, den jahrelang kein Verleger hatte drucken wollen, Ende der siebziger Jahre für gewaltige Irritation im literarischen Betrieb sorgte.
Die meisten der sogenannten seriösen Literaturkritiker hielten damals Jandls Gedichte überhaupt nicht für Gedichte, einer verglich sie sogar mit »Säuglingslallen«. Tatsächlich hat Jandl eine Vorliebe für primitive – besser: kindliche – Sprachgesten. Radikaler Sprachzweifel verbindet sich bei ihm mit einer enormen Lust am Sprachspiel, am Zerschlagen oder Verschieben der Syntax. Der Laut, die Lautwirkung, sind Jandl wichtiger als der syntaktische Sinnzusammenhang. Natürlich sind Jandls Lautgedichte ganz an seine Stimme, an den öffentlichen Auftritt gebunden, weswegen Jandl-CDs noch erfolgreicher sind als Jandl-Bücher. Übersetzbar sind leider lediglich jene Gedichte, die den syntaktischen Zusammenhang einigermaßen wahren. Ein Teil von ihnen ist – wie etwa der Zyklus »Der gewöhnliche Rilke« – amüsante Abwehr von Sakrosanktem und Sanktioniertem, die Jandl jener Gewöhnlichkeit preisgibt, die auch das Seinsfundament alles ästhetisch Ungewöhnlichen bildet: Auch Rilke tropft die Nase, auch ihn drückt der Schuh, auch er muss auf den Abort.
Und wie geht es nun weiter? Zu Beginn der neunziger Jahre scheint alles disparat, anything goes – rien ne va plus. Es herrscht ein buntes Treiben von Stilrichtungen und Autoren, denen nur noch eines gemeinsam ist: das verlorene Gott- und Weltvertrauen. Auch den jungen und jüngsten Dichtern, die übrigens in dem Maße an Zahl zuzunehmen scheinen, in dem Lyrik an öffentlicher Bedeutung abnimmt, ist nichts sakrosankt – und wenn sie sich ästhetisch überhaupt an Früherem orientieren, dann eher an Experimenten der Jandl-Art oder an amerikanischer Pop-Poesie als am hermetischen Gedicht der Paul Celans oder Ernst Meisters. Das appellative Gedicht ist diskreditiert, das hermetische hat alle Möglichkeiten erschöpft. Die Wahrheiten sind so gründlich verbraucht wie die Irrtümer, weithin herrscht jene blasse Beliebigkeit, die den Namen Postmoderne trägt.
Auch die Schubladen jener jungen DDR-Lyriker und DDR-Dissidenten, von denen man nach der Wiedervereinigung gehofft hatte, sie würden überquellen vor verborgenen verbotenen Schätzen, erwiesen sich als leer oder jedenfalls ziemlich unergiebig. Die meisten dieser Jungen hatten ihre Energie offenbar für die krampfhafte Nachahmung jener lyrischen Muster verbraucht, die im Westen schon wieder museal geworden waren. In der DDR, wo »alle entmündigt waren« und »die beste Zuflucht ein geschlossener Mund« war, wie es in einem Gedicht von Durs Grünbein heißt, durfte man sich vielleicht nur noch an jene »Ruinenwerte« halten, von denen in Grünbeins Dresden-Gedicht die Rede ist: Nur das Ruinöse in allen seinen Ausformungen schien dort imstande, der staatlich verordneten Positivität Widerpart bieten zu können. Wenn Durs Grünbein erklärte, »das Zeitalter Solschenizyns« sei »endgültig vorbei«, so sollte das heißen, dass die Schrecken und Katastrophen der Epoche nicht länger mit den Mitteln der Aufklärung oder mit Widerstand beantwortbar seien, sondern nur noch mit Sarkasmus und Zynismus oder am besten mit purer Idiotie, wie sowjetische Autoren der inoffiziellen Szene – etwa Wladimir Sorokin oder Dmitri Prigow – das vorgemacht hatten, die »mit dem spezifischen totalitären Material so frei umgingen wie jenseits des Atlantik die Pop-Art mit den Zeichen der Werbe- und Warenwelt« (Grünbein).
»Subversion durch Affirmation«, nach dieser Grünbein-Devise verfahren heute viele der jüngeren ehemaligen DDR-Dichter, für die Wirklichkeit nur noch als Wirklichkeit aus zweiter Hand existiert, in der die Synthetics herrschen und schlechthin alles Ersatz ist – sogar das Leben selbst: »Was heißt schon Leben? / Für alles gibt’s Ersatz« (Durs Grünbein). Anything goes – rien ne va plus.
November 1993 (Vorwort für eine nie erschienene Anthologie deutschsprachiger Lyrik nach 1945, die Joachim Sartorius für einen US-amerikanischen Verlag herausgeben sollte).
Gedichte und Katastrophen
Zu einer außergewöhnlichen Anthologie von Wulf Kirsten
Ohne Lyrik-Anthologien wäre das literarische Leben arm. Lyrik erreichte seit jeher ihre Leser vorzugsweise über Anthologien und oft leisteten diese auch Erweckungsdienste für junge angehende Dichter, die hier ihre Vorbilder und Meister entdeckten und vielleicht auch die Erkenntnis, dass noch kein Meister vom Himmel gefallen ist. Für den jungen Wulf Kirsten war ein solches Erweckungserlebnis die 1947 von Wolfgang Weyrauch im Aufbau-Verlag herausgegebene Anthologie »Die Pflugschar«, die seinen eigenen lyrischen Versuchen eine Richtung wies und ihn zugleich zum besessenen Sammler von Lyrik machte, der irgendwann fast zwangsläufig selbst zum Anthologisten werden musste.
Walter Benjamin unterschied drei Arten von Anthologien: jene, die einen bedeutenden Dichter zum Herausgeber haben, dessen Lyrik-Auswahl »eingestandenermaßen oder nicht normativen Charakter« hat und deshalb selbst als »Dokument der hohen Literatur« gelten darf, dann jene, deren Herausgeber als Person zurücktritt und sich rein informative Ziele gesetzt hat, zuletzt die »unerfreulichste Gattung«, die »als müßiges Spiel eines Unberufenen ein undeutliches Ineinander eklektischer und informatorischer Gesichtspunkte« darstellt. Zweifelsohne zählten Rudolf Borchardts Anthologie »Ewiger Vorrat deutscher Poesie« und die drei von Stefan George und Karl Wolfskehl herausgegebenen Auswahlbände »Deutsche Dichtung« für Walter Benjamin zur ersten, die meisten anderen Anthologien aber zur unerfreulichen letzten Kategorie. Und Kirstens Anthologie?
Zwar hat auch der 1934 bei Meißen geborene Wulf Kirsten ein eigenes lyrisches Werk von Bedeutung geschaffen, ohne das die deutschsprachige Nachkriegslyrik entschieden ärmer wäre, aber Kirsten entspricht in nichts dem herrischen Typus Borchardt oder George. Diese sahen sich als Führer durch die deutsche Literatur-Landschaft und bekannten sich zu »wählerischer Grausamkeit«, die etwa die Eliminierung der Droste und Rückerts aus Georges und Wolfskehls Anthologie sowie die Verstümmelung der darin enthaltenen Heine-Gedichte zur Folge hatte. Der Anthologist Wulf Kirsten hingegen versteht sich eher als Diener der Dichter, als ihr sorgsamer und gerechter Herbergsvater, den neben seiner stupenden Belesenheit ein leidenschaftlicher Enthusiasmus leitet, der ihn vor Akademismus bewahrt.
Die Aufgabe, die Kirsten sich für seine Anthologie gestellt hat, nämlich einen ganz neuen Blick auf die von ungeheuren gesellschaftlichen und ästhetischen Umbrüchen gekennzeichnete Lyrikepoche von 1880 bis 1945 zu ermöglichen, wird dadurch, dass er Borchardts oder Georges Rigorosität nicht kennt und keinen Kanon im Auge hat, sicher nicht erleichtert. Er misst Gedichte vor allem an ihrem seismografischen Vermögen, Krisen und Katastrophen zu wittern, und er zieht nach eigenem Bekenntnis Gedichte, die »Ausdruck des Zeitgeists« sind, jenen vor, die als »Spiegel des Unvergänglichen« gelten (wollen). Gedichte, die auf ihre ästhetische Autonomie pochen und sich implizit als Gegenwelt zur geschichtlichen begreifen, setzt er dabei dem Generalverdacht aus, im »luftleeren Raum« zu schweben, ja sogar einer »Wertverwahrlosung« Vorschub zu leisten.
Dass Kirsten »Stimmenvielfalt« wichtiger war als »Auslese«, dokumentiert bereits der riesige Umfang seines Unternehmens: Auf eintausendeinhundertzwanzig Seiten werden fast tausend Gedichte von dreihundertdreiundsechzig Dichtern präsentiert! Bedenkt man die wenigen lyrischen Höchstleistungen, die uns vom gesamten neunzehnten Jahrhundert geblieben sind, scheint das des Guten (und oft auch nur Gutgemeinten) entschieden zu viel. Nimmt man Kirstens Anthologie aber als das, was sie primär sein will, ein poetischer Spiegel der Zeitgeschichte, leuchtet solche Üppigkeit schon eher ein. Wie brutal die Geschichte in dem von Kirsten abgesteckten Zeitraum nicht nur viele Gedichte dominiert (und deformiert), sondern auch die Lebensschicksale ihrer Dichter bestimmt hat, belegt bereits die erschütternde Tatsache, dass fast ein Drittel von ihnen (einhundertdrei) aus dem deutschen Sprachraum vertrieben und fast ein halbes Hundert in einem deutschen KZ ermordet oder in den Selbstmord getrieben wurden.
So wie die Wurzeln der »Mutterkatastrophe des Ersten Weltkriegs« (Golo Mann) weit in das Jahrhundert davor reichen, wurden auch die geistigen Umbrüche, die das zwanzigste Jahrhundert bestimmten, in der deutschsprachigen Literatur spätestens ab 1880 vorbereitet (in der französischen freilich viel früher). Aber nicht den Propheten der Umwertung aller Werte, nicht Friedrich Nietzsche, dessen sprachschöpferische Leistung er doch mit der Martin Luthers vergleicht, wählt Kirsten zur Portalfigur seiner Anthologie, und auch nicht den Phantasten Paul Scheerbart, mit dessen kühn bizarrer »Katerpoesie« Rowohlt einst seinen Verlag eröffnete (Scheerbart ist leider überhaupt nicht vertreten), sondern Detlev von Liliencron, dessen Ballade »Pidder Lüng« in diesem Rahmen dann doch seltsam anachronistisch und wie von Fontanes Baum gepflückt anmutet. Ist das nur persönliche Marotte oder wollte Kirsten vielmehr den riesigen Abstand verdeutlichen, den Nietzsche – mithin die Moderne – von einem seinerzeit so enorm Gefeierten wie Liliencron trennt? Doch es sind auch andere mit einst klingenden, aber längst verklungenen Dichternamen, denen Kirsten Wiederbelebungschancen einräumt, so etwa, um nur diese zu nennen, Isolde Kurz, Richard Dehmel oder Max Dauthendey (dessen zarte poetische Gebilde verstehen lassen, warum einst der junge Robert Walser zu ihm pilgerte). Einige der einmal Berühmten können Kirstens Zeitgeist-Programm allerdings nur ex negativo einlösen und allenfalls als Beweismittel für jene Flucht aus der Zeit dienen, die sich ästhetisch als Rückgriff auf klassische und romantische Muster, ideologisch aber meist als Angepasstheit an das schlechte Bestehende zeigt.
Kirsten ist ein passionierter Ausgräber und Wiederentdecker, und was an seiner Anthologie als Erstes auffällt, sind die vielen völlig unbekannten oder nur noch schattenhaft vorhandenen Dichternamen, denen man hier begegnet. Fabelhafte Funde macht Kirsten bei den sogenannten Minderdichtern, denen manchmal nur mit einem einzigen Gedicht gelang, ihre poetischen Grenzen zu sprengen, ob das nun der in die USA emigrierte und dort als Kabelbote arbeitende Wiener Fritz Brainin ist (»Letzte Fahrt eines Weinfuhrmanns«) oder der als Invalide aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrte hannoveranische Zeitungsausträger und Dachdecker Franz Johannes Weinrich (»An die Schneider von Paris«), ob der Tabakhändler Karl Schloss aus Alzey, der schon 1905 prophetisch sein Auschwitz-Schicksal beschwor (»Die Blumen werden in Rauch aufgehn«), oder Carl Friedrich Wiegand, ehemaliger Prinzen-Erzieher im Hause Hessen und späterer Mitbegründer der Zürcher Volkshochschule, der in einem grellen Totentanz das riesige Heer der sinnlos Gefallenen aufmarschieren lässt (»Die Ehrenlegion«).
Verblüffend auch manche Gelegenheitsgedichte von Autoren, die nur durch ihre Prosa oder sogar nur durch außerliterarische Aktivitäten bekannt wurden, darunter etwa ein »Sieh mich gebeugt« überschriebenes Gedicht von Otto Weininger, in dem der 1903 dreiundzwanzigjährig aus dem Leben geschiedene Verfasser von »Geschlecht und Charakter« kaum verklausuliert seine Furcht vor der Syphilis artikuliert, oder ein Gedicht auf Kafkas »Process« des Religionsphilosophen Gershom Scholem, das dieser einem Brief an seinen Freund Walter Benjamin beilegte. Bei einem anderen Benjamin-Freund, Franz Hessel, entdeckte Kirsten ein leicht blasphemisches Karfreitags-Gedicht und in der Autobiografie des wunderbaren Filmregisseurs Max Ophüls das coupletartige Gedicht »Murmeln«, das menschliches Schicksal als Kinderspiel eines grausamen Demiurgen vorführt. Manche von Kirstens Dichtern galten schon immer als Geheimtipp und wurden dieses Etikett nie los, so der gleichermaßen spröde wie seherische schwäbische Bauerndichter Christian Wagner oder der im selben Jahr 1903 wie Weininger dreiundzwanzigjährig durch Suizid geendete Berliner Walter Calé, dessen beste Gedichte in ihrer düster traumhaften Geschmeidigkeit den Vergleich mit denen des Junggenies Hofmannsthal nicht zu scheuen brauchen.
Apropos Hofmannsthal: Wie präsentiert Kirsten ihn und die anderen Ikonen – Rilke, George, Borchardt? Neben manchen Highlights gibt es von jedem auch etwas bisher eher Übersehenes, von Rilke etwa die »Ode an Bellman«, den schwedischen Vagantendichter, von Borchardt das in jeder Hinsicht prekäre Gedicht »Schatten vom Wannsee«, 1911 geschrieben und 1935 umgeschrieben, um das Märchen von der Dolchstoßlegende neu aufzuwärmen (»sag den Gefallenen, dass es mit uns aus ist / und Abel tot: Deutschland ist Kain«). Bei George verzichtete Kirsten leider auf eines der kurzen, ebenso kühnen wie fragilen Gebilde aus dem »Jahr der Seele«, deren Modernität noch durch Arnold Schönbergs Vertonungen unterstrichen wurde (»Sprich nicht immer«), und verschmäht hat Kirsten auch ein Gedicht wie »Ihr tratet zu dem herde«, das doch den Intentionen seiner Anthologie genau entspricht; weil, wie Adorno suggerierte, dessen letzte Strophe – »Seht was mit trostgebärde / Der mond auch rät: / Tretet weg vom herde / Es ist worden spät« – durchaus als Georges Absage an das heraufkommende Dritte Reich gelesen werden darf.
Ein nicht ganz unerwarteter Befund, der sich Kirstens Anthologie ablesen lässt, ist das rasche Altern des Expressionismus, dessen sentimental unterfüttertes Pathos, dessen Ekel- und Empörungsgebärden vor allem bei den vielen expressionistischen Mitläufern – nur noch das Barock kannte so viele Epigonen – heute schwer erträglich und oft unfreiwillig komisch wirkt, weil sie viel zu große Worte für viel zu kleine Gefühle bemühten. Gehalten haben sich neben Jakob van Hoddis, der mit seinem Gedicht »Weltende« den Expressionismus einläutete, am ehesten der 1914 gefallene Alfred Lichtenstein, der nach frühen aggressiven Attitüden (»Ein Mann zertrümmert eine morsche Frau«) zum Parlando jener Gedichte fand, in denen er seinen Tod im Feld vorausahnte. Bei Dichtern wie Ernst Blass, Paul Boldt, Gustav Sack, Ferdinand Hardekopf, Johannes R. Becher und anderen mehr, die alle einmal unter der expressionistischen Flagge segelten, finden sich allenfalls einzelne Gedichte oder auch nur Strophen, die noch überzeugen. Selbst der seinerzeit so gefeierte Franz Werfel wirkt seltsam verblasst. Zeit- und makellos, als hätten sie den Expressionismus, für den man sie so lange reklamierte, abgestreift wie ein zu enges Gewand, wirken inzwischen die Gedichte der jung gestorbenen Georg Trakl und Georg Heym, und gefeit gegen alle literarischen Moden erscheinen auch die aus jüdisch-orientalischer Überlieferung gespeisten unvergleichlichen Verse der großen Liebenden Else Lasker-Schüler. Gottfried Benn, den sie inbrünstig als »König Giselheer« bedichtete, hat eine lange Entwicklung von seinem allzu grellen expressionistischen Frühwerk bis zu seinem elegisch gebändigten, von Resignation und Fatalismus bestimmten Alterswerk zurückgelegt. Mit Benn ebenso wie mit seinem Antipoden Bertolt Brecht, dessen Entwicklung noch extremere Gegensätze zwischen Früh- und Spätwerk aufweist, stand Kirsten vor einem erheblichen Dilemma: Da er seine Anthologie mit dem Jahr 1945 beschließt, musste er auf einige ihrer stärksten, aber erst nach dem Krieg entstandenen Gedichte verzichten, bei Brecht etwa auf dessen fast minimalistisch ausgedünnte, lakonisch-stoische Kurzgedichte aus dem Umkreis der »Buckower Elegien«, für die alle die Zeile »Allem, was du empfindest, / gib die kleinste Größe!« als Motto dienen könnte. Noch drastischer zeigt sich dieses Dilemma dann vor Dichtern wie Ernst Meister, Günter Eich, Peter Huchel, Johannes Bobrowski, Erich Fried und Paul Celan, von denen nur Peter Huchel bereits in den dreißiger Jahren wirklich unverwechselbare Verse geschrieben hat, während alle anderen erst nach 1945 ganz zu sich selbst und ihrem ureigenen Ton fanden, was bedeutet, dass sie bei Kirsten quasi nur mit poetischen Fingerübungen vertreten sind. Paul Celans berühmte »Todesfuge«, mit der Kirsten seine Anthologie beschließt, soll zwar schon 1945 entstanden sein, aber dieses von sich selbst und von Apologeten gefährdete Gedicht, das Celan in späteren Jahren am liebsten aus seinem Werk getilgt hätte, gerät bei Kirsten erneut in ein schiefes Licht, weil er ihm ein 1944 entstandenes Gedicht des Czernowitzer Dichters Immanuel Weissglas voranstellt, in dem sich schon einige jener eingängigen Metaphern finden – so die vom Tod als »Meister aus Deutschland« –, die dann erst durch Celans Gedicht geradezu Allgemeingut wurden.
Zwei der Besonderheiten von Kirstens Anthologie seien zuletzt wenigstens noch angedeutet. Kaum verwunderlich ist das große Gewicht, das er dem Natur- und Landschaftsgedicht einräumt, da es ja seine eigentliche Domäne als Dichter ist. Bei den »Nüssebewisperer«, als die Benn die Dichter der naturmagischen Schule schmähte, lässt Kirsten aber gelegentlich Gnade vor Recht ergehen, obwohl etliche von ihnen auch dann noch, als sich längst die braune Pest etabliert hatte, nur Gräschen und Blümchen wahrnahmen, was von ihnen nach 1945 dann gern als Innere Emigration verklärt wurde. Vor einem genuinen Naturdichter wie Oskar Loerke, der mit seiner »Pansmusik« eines der schönsten Gedichte deutscher Sprache schrieb, der aber das Grauen der Geschichte nie ausblendete und dem die deutsche Barbarei das Herz brach, wird dann doch viel von dem, was sich sonst noch unter dem Etikett Naturlyrik tummelt, zu Makulatur oder entpuppt sich, wie etwa die Gedichte der einmal hochgeschätzten Elisabeth Langgässer, als höheres Kunstgewerbe. Selbst Wilhelm Lehmann, der bei Kirsten auf Gertrud Kolmar folgt, wirkt neben dieser einzig legitimen Erbin der Droste doch ein bisschen bieder.
Eine andere Besonderheit dieser Anthologie, die sich nur durch Kirstens DDR-Hintergrund, mithin seine antifaschistische Grundhaltung, und durch seine eigene Herkunft verstehen lässt, ist der große und berechtigte Respekt, den er proletarischen oder dem Kampf des Proletariats ergebenen Autoren wie Hans Marchwitza, Hans Lorbeer, Wilhelm Tkaczyk oder Kurt Huhn entgegenbringt, die sich meist aus dem »Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller« oder aus dem KZ kannten.
Was Hofmannsthal über die Physiognomie sagte – »da blickt hinter jedem einzelnen Gesicht, das uns bedeutend und aufrichtig ansieht, noch aus dunklem Spiegelgrund das rätselhafte Nationalgesicht hervor« –, ließe sich auch über Gedichte sagen, in deren Physiognomie bei aller Individualität doch meist auch etwas aus einem kollektiven Echoraum – nenne man ihn nun Nation, Land oder Volk – mitschwingt. Kirstens Anthologie, die den gesamten deutschen Sprachraum umfasst und gerade an dessen Rändern so oft fündig wird, liest sich auch deshalb so aufregend, weil in ihr so viele verschiedene Idiome vernehmbar sind, wobei das Österreichische, das Czernowitz, Budapest und Prag mit einschließt, sicher das tonmächtigste ist und von den psalmodierenden welthaltigen Sonetten des Jesse Thoor bis zu den ganz aufs Lokale bezogenen volkstümlich schlichten, aber nie volkstümelnden Gedichten Theodor Kramers reicht. Bei den Schweizer Dichtern hingegen ist, von Robert Walser und Regina Ullmann über Albin Zollinger und Albert Ehrismann bis zu Silja Walter u. v. a., oft noch jene von Walter Benjamin an den Büchern Robert Walsers gerühmte »bäuerliche Sprachscham« zu bemerken, die ihren Gedichten den Ausdruck des stetigen Ansichhaltens verleiht und sie bis an die Grenze des Verstummens führen kann (»Der Mensch ist stumm. / Man muss die Stummheit ohne Trauer tragen«, endet Albert Ehrismann ein Gedicht).
Mit Wulf Kirstens Anthologie »Beständig ist das leicht Verletzliche«, der man prophezeien kann, dass sie sich bald als der große Kirsten unentbehrlich machen wird, hat Egon Ammann am Ende seiner großartigen Verlegerlaufbahn allen deutschsprachigen Lyrikfreunden ein generöses Abschiedsgeschenk gemacht, für das ihm Anerkennung und Dank gebührt.
Erstdruck in: Neue Zürcher Zeitung, 19. 6. 2010.