Kitabı oku: «Die letzte Blüte Roms», sayfa 6
Insofern scheint die Steuerreform dem alten Adel und den regionalen Aristokraten nicht, wie man früher dachte, den Einfluss genommen zu haben, sondern sie veränderte lediglich die Anreize, die die vorherrschenden Lebensmuster der Elite bestimmten. Die neuen fiskalischen Strukturen des Imperiums, die ursprünglich zur Finanzierung der Expansion des Militärapparats dienten, wurden schnell zum neuen Organisationsprinzip der Karriereentscheidungen der lokalen und regionalen politischen Eliten des Römischen Reiches.35
Eben diese Strukturen machten sehr viele römische Politiker der Spätantike sehr reich, was sich schnell auch auf die privaten Angelegenheiten der lokalen, regionalen und sogar kaiserlichen Eliten des Imperiums auswirkte. Selbst wenn sie kein Amt (mehr) bekleideten, wurde es für Angehörige der landbesitzenden Elite zu einer der obersten Prioritäten, sich eine möglichst gute Position innerhalb des größten Stroms von Reichtum zu sichern, den jemals eine Gesellschaft des antiken Mittelmeerraums erzeugt hat. Die naheliegendste Reaktion für jeden, der eine öffentliche Position bekleidete, bestand darin, sich durch Betrügereien verschiedenster Art einen Teil dieses enormen Reichtums zu sichern. Das geschah im kleinen Stil, wenn beispielsweise Militärkommandanten auf ihre offiziellen Dienstlisten Soldaten setzten, die es gar nicht gab, und deren Sold selbst einstrichen (was einer der Gründe dafür war, dass es im Vorfeld großer Feldzüge stets zu so verzweifelten Rekrutierungsmaßnahmen kam). Das Ausmaß der potenziellen Veruntreuung stieg in direkter Relation zum Dienstgrad der betroffenen Beamten. In einem Fall aus dem 4. Jahrhundert teilte sich ein vertrauter Handlanger das Geld, das ihm anvertraut worden war, um den römischen Soldaten in Afrika den ausstehenden Sold auszuzahlen, mit dem regionalen Befehlshaber; solche Gelder konnten auf jeder Ebene der Hierarchie »verloren gehen«.36 Auf der Mikroebene besitzen wir nicht so viele Informationen, aber wenn man ein wenig darüber nachdenkt, fallen einem diverse Möglichkeiten ein, wie sich der Staat betrügen ließ. Ein beliebter Trick im ländlichen Bereich, den man auch weit zurückverfolgen kann, bestand darin, den Steuerbeamten gegenüber den vollen Umfang der Agrarproduktion zu verschweigen, und die Tatsache, dass die Bemessensgrundlage nur alle fünfzehn Jahre neu errechnet wurde, wird es für jene, die mit einer gewissen »Flexibilität« an die Sache herangingen, nahezu unwiderstehlich gemacht haben, bestimmte Posten gar nicht erst zu erfassen und so an der Steuer vorbei auf die sichere Seite zu bringen.
Die Quellen zeigen auch, wie sich viele römische Adelige und aristokratische Großgrundbesitzer politisch positionierten, um die internen Abläufe des Systems so für sich zu nutzen, dass sie steuerlich besonders gut dastanden. Alle wichtigen Informationen wurden auf lokaler Ebene verzeichnet. Die Stadträte verfügten über Register, die den gesamten Grundbesitz innerhalb des Territoriums der Stadt enthielten. Beigefügt war jeweils eine Erklärung des Eigentümers über den angenommenen Jahreswert der Überschüsse, die das jeweilige Grundstück erzeugen konnte, mitsamt der Steuerschuld, die sich daraus ergab. Folglich war die örtliche Neubewertung, die alle fünfzehn Jahre stattfand, von immenser Bedeutung. Und wer ein besonders gutes Verhältnis zu den Beamten hatte, die mit diesem Prozess betraut waren – das waren, wie wir gesehen haben, in der Regel pensionierte Bürokraten, die oftmals auch aus der Gegend stammten –, dessen Grundstück wurde nicht selten steuerlich besonders niedrig bewertet. Aus eben diesem Grund genossen diese Beamten in ihren lokalen Gemeinden einen enormen Einfluss, und man darf durchaus annehmen, dass sie diesen Einfluss in vollem Umfang zu nutzen wussten.
Was es genau bedeutete, einen entsprechenden Beamtenposten zu bekleiden, wird aus einigen konkreten Fallstudien deutlich. Der Aufstieg der ägyptischen Familie Apion vom lokalen zum kaiserlichen Adel im 5. Jahrhundert beruhte beispielsweise ganz eindeutig auf der neuen Rolle, die die Dynastiegründer Strategios I. und Apion I. in der kaiserlichen Steuerverwaltung spielten. Ebenso beruhte die fortgesetzte Bedeutung der Familie im 6. Jahrhundert zumindest im Gau Oxyrhynchos darauf, dass sie gegenüber den zentralen Behörden Rechenschaft abzulegen hatte über die Besteuerung eines großen Teils der vom gesamten Gau geschuldeten Summe – eine zweifellos recht lukrative Aufgabe.37
Das System, nach dem die Steuern tatsächlich bezahlt wurden, bot ebenfalls interessante Betrugsmöglichkeiten. Die Steuern wurden im Laufe eines Jahres in drei getrennten Raten bezahlt, und wer besonders gut vernetzt war, der setzte seinen ganzen Einfluss dafür ein, diese Zahlungen hinauszuzögern, indem er zum Beispiel auf ungünstige Wetterbedingungen verwies. Es gab einen guten Grund dafür, so wenig wie möglich direkt zu bezahlen und die Auszahlung der ausstehenden Steuerschuld mit allen Mitteln so weit wie möglich hinauszuschieben: Die Kaiser gerierten sich gerne als Wohltäter, und um sich bei den politisch einflussreicheren Landbesitzern im Reich besonders beliebt zu machen, erließen sie regelmäßig Steueramnestien, bei denen alle derzeit in den Büchern verzeichneten Steuerschulden erlassen wurden. Sowohl auf städtischer Ebene, wo tatsächlich Bargeld floss, als auch auf den höheren Hierarchieebenen, wo die ausstehenden Steuerrückstände kontrolliert wurden, so gut vernetzt zu sein, dass sich die jährlichen Zahlungen so weit wie möglich minimieren ließen, war ganz offensichtlich strategisch von hoher Priorität.38
Mit anderen Worten: Die Neuausrichtung des römischen Steuersystems, die den Ausbau des Militärapparats finanzieren sollte, führte unter den Eliten zu einer komplett neuen Organisation ihrer politischen Prioritäten: Die Beteiligung im Stadtrat verlor an Attraktivität, stattdessen drängten die Eliten in den kaiserlichen Dienst. So entstand innerhalb des Imperiums eine ganz neue Personalstruktur, die um einen kolossalen Fluss fiskalisch erzeugten Reichtums herum organisiert war. Detaillierte Aufzeichnungen darüber existieren keine, aber es erscheint immerhin plausibel, dass der Kaiser am oberen Ende und die lokalen Machthaber weiter unten in der Hierarchie die Möglichkeiten der maximalen politischen Einflussnahme manipulierten – ganz so wie König Johann Ohneland und später sein Sohn Heinrich III. im England des 13. Jahrhunderts. Dort wurde über alle Summen, die die Groß- und Kleingrundbesitzer aus diversen Gründen der Krone schuldeten, Buch geführt, aber eine Analyse im Jahresvergleich zeigt, dass die Summe, die ein Individuum dann tatsächlich zu zahlen hatte, zu einem erheblichen Teil von politischem Kalkül abhing. Personen, die beim König oder seinen hohen Beamten wohlgelitten waren, mussten selbst dann, wenn sie eigentlich gewaltige Schulden hatten, nur geringe Summen zahlen. Wer es sich aber mit der Obrigkeit verscherzte, von dem verlangte der Staat, dass er seine Schulden sofort komplett beglich.39
Das Römische Reich – und sogar nur die östliche Hälfte ab 476 – war viel größer als das mittelalterliche Königreich England, wo es nach 1066 nur rund 2000 bedeutende Grundbesitzer-Familien gab. Die römischen Kaiser hatten somit an einem viel kleineren Anteil der Elite ihres Reiches ein direktes Interesse als Johann Ohneland; stattdessen hing das Schicksal vieler eher von den zwischengeschalteten kaiserlichen Beamten ab. Aber die Grundprinzipien waren hier und da durchaus vergleichbar. Die Besteuerung der besonders wohlhabenden und gut vernetzten Bürger ist stets eine Angelegenheit von großer politischer Relevanz, und das neue Steuersystem des späten Kaiserreichs sorgte dafür, dass sich der Fokus der lokalen politischen Eliten darauf verlagerte, sich so zu vernetzen, dass man auf möglichst effiziente Weise durch das neue System navigieren konnte.
So sah, grob umrissen, das politische System des oströmischen Kaiserreichs aus, das Justinian 527 erbte. Das Berufsbild des Kaisers hatte noch weitere wichtige Komponenten, insbesondere war er für die Aufrechterhaltung der religiösen Orthodoxie und der für die civilitas notwendigen Strukturen zuständig, doch tendenziell zeigte sich vor allem auf dem Schlachtfeld, ob ein kaiserliches Regime Bestand haben würde oder dem Untergang geweiht war. In ideologischer Hinsicht war der militärische Sieg der ultimative Härtetest der Legitimität des Monarchen. Die Armeen des Kaisers konnten nicht verlieren, wenn der göttliche Schöpfer des Kosmos seine Hand über ihren Dienstherrn hielt, doch das tat er nur, falls der jeweilige Kaiser wirklich für seine Aufgabe geeignet war. Jede militärische Niederlage rief daher sofort Gegner des Kaisers auf den Plan, die seine Legitimität anzweifelten, und heizte unter den Mächtigen die immerwährende politische Diskussion an, was immer wieder in handfeste Verschwörungen mündete. Zudem konnte das Regime sich durch militärische Erfolge vor äußeren und inneren Feinden schützen. Doch die immensen Kosten für den ausgebauten und umgestalteten Militärapparat der römischen Spätantike sorgten zugleich dafür, dass die fiskalischen und administrativen Strukturen des Staates komplett neu organisiert wurden, und das veränderte von Grund auf die Art und Weise, wie sich die Elite des Imperiums politisch engagierte.
Der Erfolg oder Misserfolg jedes einzelnen Kaisers hing davon ab, inwieweit er in der Lage war, diese Systeme und die darin vorherrschenden Bedingungen zu nutzen, um effektiv auf die Bedrohungen und die Chancen zu reagieren, die sich während seiner Herrschaft ergaben. Die Expansionspolitik von Kaiser Justinian testete die Strukturen des Reiches bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit aus – und wie viele fanden, sogar darüber hinaus. Bevor wir uns jedoch mit diesem Thema befassen können, müssen wir zunächst einmal die politischen Prozesse untersuchen, die Justinian auf den Thron brachten, und die Auswirkungen dieser Prozesse auf die Entwicklung der politischen Strategien seiner Regierung.
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Regimewechsel in Konstantinopel
Am 1. August 527 folgte Justinian seinem Onkel und Adoptivvater Justin I. auf den Thron und wurde Kaiser der römischen Welt. Eine Überraschung war das nicht, schließlich hatte Justin ihn bereits am 1. April zum Mit-Augustus erklärt und Justinian damit formell einen Teil der Herrschaft übertragen. Drei Tage später war Justinians Frau Theodora zur Augusta gekrönt worden. Es war das erste Mal, dass ein direkter Nachkomme des Kaisers den Thron von Konstantinopel übernahm, seit der junge Theodosius II. im Jahr 408 seinem Vater nachgefolgt war, vor nunmehr fast 120 Jahren.
Um die schwierige politische Vorgeschichte zu verstehen, die Justinian zu einem direkten, aber dennoch höchst ungewöhnlichen Thronerben machte, und nachzuvollziehen, wie sehr diese Vorgeschichte die ersten politischen Entscheidungen seines Regimes diktierte, werfen wir zunächst einen Blick auf die Regierungszeit des unmittelbaren Vorgängers seines Onkels: Anastasios I.
Anastasios, der glücklose Kaiser
Ein ausführlicher Bericht über die Wahl von Anastasios zum Kaiser ist in einem Text aus dem 10. Jahrhundert, dem sogenannten Zeremonienbuch, überliefert. Nachdem im April 491 der isaurische Kaiser Zenon gestorben war, begab sich dessen Witwe Ariadne, die Tochter von Zenons Vorgänger Leo I., zum Hippodrom, das 100 000 Zuschauer fasste. Es war wahrscheinlich voll besetzt, wie bei einem Anlass wie diesem üblich, wenn die Kaiserin vor die versammelte Bevölkerung der Reichshauptstadt trat, um sie zu fragen, was sie von ihrem neuen Kaiser erwartete. Die Untertanen kommunizierten mit ihrer Kaiserin in Form von Zurufen. Es begann ganz konventionell:
Ariadne Augusta, mögest du siegen!
Heiliger Vater, gib ihr ein langes Leben!
Herr, erbarme dich!
Viele Jahre für die Augusta!
Bis hierhin erinnerte das Ganze stark an die Akklamationen, mit denen die versammelten Senatoren Roms am Weihnachtstag 438 die Veröffentlichung eines neuen kaiserlichen Gesetzesbuches, des Codex Theodosianus, bejubelt hatten.1 Doch genau wie bei der Codex-Zeremonie wurden die Akklamationen bald spezifischer. Die Bevölkerung der Hauptstadt erwartete von ihrem neuen Kaiser zweierlei: Er sollte ein orthodoxer Christ sein, und er sollte ein Römer sein. Diese Wünsche nahm Ariadne mit in den nahe gelegenen Kaiserpalast; ein geschlossener Gang führte von der Königsloge des Hippodroms direkt in den Palastkomplex. Es folgte eine Diskussion mit den versammelten Senatoren, und am Ende wurde vereinbart, dass die Kaiserin die endgültige Entscheidung selbst treffen würde. Ihr Votum fiel schließlich auf den sechzigjährigen Anastasios, einen langjährigen Palastmitarbeiter, der als silentarius für die Überwachung des Personals im Palast zuständig war. Kurze Zeit später heiratete sie ihn, um dem neuen kaiserlichen Regime den Anschein der Kontinuität zu verleihen und es damit zu legitimieren.
Wie bei den meisten öffentlichen Zeremonien der späten Kaiserzeit haben wir Grund zu der Annahme, dass der Austausch zwischen Ariadne und der konstantinopolitanischen Gruppe, der ihr Fokus galt, sorgfältig choreografiert war. Um bei einer solchen Versammlung die Antworten zu bekommen, die man hören wollte, musste man sich vorab an die Zirkusparteien wenden, die das Geschehen im Hippodrom kontrollierten. Diese (die Blauen, Grünen, Roten und Weißen) waren die Fanklubs der großen Wagenrennteams, zugleich aber Mafia-ähnliche Organisationen, die in »ihrem« Teil der Stadt eine ganze Reihe von Geschäften entweder selbst betrieben oder zumindest am Gewinn beteiligt waren. Im Gegenzug sorgten sie in der Stadt für Recht und Ordnung. Wenn man wollte, dass die Menschen im Hippodrom etwas Bestimmtes brüllten, musste man den Chefs der Zirkusparteien ein Angebot machen, das sie nicht ablehnen konnten. Meistens ging es um Geld, aber in diesem Fall deuten die Akklamationen auf etwas Spezifischeres hin.
Die wichtigste Schnittstelle zwischen den Zirkusparteien und der kaiserlichen Regierung war der Stadtpräfekt, so etwas wie Konstantinopels (ernannter, nicht gewählter) Bürgermeister. Die Art und Weise, wie der Präfekt die Stadt regierte, berührte stets die grundlegenden Interessen der Zirkusparteien. Bevor sie das Volk fragte, was es vom neuen Kaiser erwarte, hatte Ariadne es gefragt, was es von ihr erwarte. Die Leute riefen, sie wollten einen neuen Präfekten, und Ariadne – so war es mit Sicherheit vorher abgesprochen – stimmte zu.2
Die Forderung, der neue Amtsinhaber solle »Römer« sein, hatte in diesem Kontext eine ganz besondere Bedeutung. Sie bedeutete nämlich im Umkehrschluss, der Kaiser solle nicht wie Ariadnes verstorbener Mann Zenon ein Außenseiter aus Isaurien sein. Vor allem einen ganz prominenten Thronanwärter sollte diese Formulierung ausschließen: Longinus, Zenons Bruder. Longinus war mit Zenon durch dick und dünn gegangen – er hatte praktisch dessen gesamte Regierungszeit lang verzweifelt dafür gekämpft, seinem Bruder die Macht zu sichern; er verbrachte sogar zehn Jahre als Geisel in den Händen von Zenons Widersacher, dem isaurischen Kriegsherrn Illus. Als Longinus 485 endlich seine Freiheit wiedererlangte, wurde er von Zenon großzügig belohnt: Er wurde zum kommandierenden Feldherrn der höherrangigen der beiden Praesentalis-Armeen ernannt, bekleidete also nun den höchsten militärischen Rang im Reich, und zum Konsul für das Jahr 486. Zwischen 485 und 491 war er eine prominente Figur im öffentlichen Leben und eines der führenden Mitglieder des kaiserlichen inner circle aus Isaurern. Zu diesem gehörte noch ein weiterer Isaurer namens Longinus; dieser kontrollierte in der zweiten Hälfte von Zenons Regierungszeit (484–491) als oberster Verwaltungsbeamter (magister officiorum) einen Großteil der kaiserlichen Bürokratie. Die übliche Amtszeit für eine solche Stelle betrug tendenziell eher ein, zwei Jahre, nicht sechs oder sieben.
Wenn man also im Hippodrom 100 000 Menschen brüllen ließ, sie wollten einen »echten« Römer als nächsten Kaiser, dann bedeutete das nichts anderes, als dass Longinus aus dem Rennen war.3 Mit anderen Worten: Die Versammlung im Hippodrom war Teil eines sorgfältig inszenierten Staatsstreichs, den Ariadne und ihre Verbündeten in einem ganz entscheidenden Moment des Thronfolgeprozesses initiierten.
Trotzdem war die Strategie der Kaiserin keine sichere Bank: Denn es war immer möglich, dass jemand anderes den Zirkusparteien ein noch besseres Angebot machte; daher konnte man vorher nie genau wissen, was geschehen würde (wie Hypatius im Jahr 532 feststellen musste). Angesichts dieser brisanten Vorgänge ist es fast ein wenig ungerecht, Anastasios als »erfolglosen Kaiser« zu bezeichnen. Im Grunde war es allein schon eine große Leistung, dass er im hohen Alter von 87 Jahren friedlich in seinem eigenen Bett starb.
Dass in der Politik in Konstantinopel so viele Isaurer mitmischten, verdankte sich militärischer Notwendigkeit. Angesichts der massiven Übergriffe der Hunnen im 5. Jahrhundert brauchte Konstantinopel neue Truppen, und zwar schnell. Die Isaurer halfen, dieses unmittelbare militärische Problem zu lösen, aber ihre Rekrutierung in die Feldarmeen und die Beförderung ihrer Offiziere hatten enorme politische Konsequenzen. Ab dem Zeitpunkt, als mehrere Isaurer zu Feldarmeekommandanten (magistri militum) aufgestiegen waren, übten sie beträchtlichen Einfluss auf das Kaiserhaus aus. In den 460er-Jahren gab es unter Leo I., Ariadnes Vater, bereits sehr viele Isaurer bei Hofe, und sie waren so tief in die konstantinopolitanische Politik verstrickt, dass der Kaiser sogar seine Tochter mit einem Isaurer verheiratete – um ein Gegengewicht zu einem übermächtigen Feldherrn namens Aspar zu schaffen, der eine besondere Bindung zu der großen Gruppe der thrakisch-gotischen foederati hatte. Am Ende ließ Leo Aspar ermorden (daher Leos Beiname »der Schlächter«). Die thrakischen Goten wandten sich daraufhin von Rom ab, und die meisten von ihnen schlossen sich in den 480er-Jahren der neuen Koalition an, die der Ostgote Theoderich in den 470er- und 480er-Jahren auf dem römischen Balkan ins Leben rief und mit der er 488/489 kurz vor Zenons Tod in Italien einmarschierte. Um 491 waren die Isaurer nicht nur ein stabiles Element in der Politik von Konstantinopel, sie hatten auch jede Menge extreme Kampferfahrung, und sie nutzten ihre langjährigen Beziehungen zu einzelnen Gruppen isaurischer Soldaten dazu, ihre Macht zu sichern.4
Zenons Aufstieg zur Macht hatte in den 460er-Jahren begonnen, als er sich gegen rivalisierende Feldherren aus den Reihen der thrakischen Goten durchsetzte, um schließlich ins Kaiserhaus einzuheiraten. 474 wurde er alleiniger Kaiser, nachdem sowohl sein Schwiegervater als auch sein Sohn mit Ariadne, Leo II., gestorben waren; aber das war erst der Anfang der Misere. Bis aufs Messer musste er seinen Thron gegen seine Widersacher innerhalb des konstantinopolitanischen Establishments verteidigen – allen voran seine Schwiegermutter, Leos Witwe Verina –, aber auch gegen mehrere Goten und sogar rivalisierende isaurische Kriegsherren wie Illus, der Longinus zehn Jahre lang als Geisel hielt. Zenon selbst verbrachte während der Usurpation von Basiliscus, Verinas Bruder, Mitte der 470er-Jahre achtzehn Monate im Exil in Isaurien; dort hob er eine Armee aus, mit der er am Ende Konstantinopel wieder einnahm. Gegen einen anderen Usurpator, den Feldherrn Leontius, der sowohl von Verina als auch von Illus unterstützt wurde, führte er vier Jahre lang Krieg.
Zenons Herrschaft war geprägt von Exil wie auch von Krieg, Intrigen und Attentaten – alle diese mal mehr, mal weniger erfolgreich. Der springende Punkt ist, was die jetzt anstehende Thronfolge anbelangt: Die Isaurer würden niemals einfach so klein beigeben, nur weil Ariadne und ihre Spießgesellen am Morgen nach Zenons Tod die Menschenmenge im Hippodrom dazu brachten, nach ihrer Pfeife zu tanzen.5
Binnen eines Jahres trennte das neue Regime Zenons Bruder Longinus von seiner Familie und schickte ihn in die Verbannung in ein ägyptisches Kloster; die übrigen Angehörigen wurden gezwungen, nach Bithynien am Schwarzen Meer überzusiedeln. Aber der andere Longinus, Zenons ehemaliger magister officiorum, war nach wie vor auf freiem Fuß, und Zenons Schergen ließen sich nicht ohne Weiteres aus den inner circles der Macht entfernen.
492 erhob sich ein Großteil der Isaurer innerhalb des Militärapparats gegen den neuen Kaiser. Rädelsführer waren ein gewisser Konon, der früher der Bischof von Apameia gewesen war, und der damalige Statthalter von Isaurien, Lilingis. Es war eine gefährliche Situation, aber das Regime hatte in den östlichen und den Praesentalis-Feldarmeen ausreichend loyale Truppen zur Verfügung, um die Rebellen in der Schlacht bei Kotiaion (dem heutigen Kütahya) besiegen zu können. Lilingis fiel in dieser Schlacht. Der Versuch, mit Gewalt einen neuen Kaiser zu installieren, war nun passé, und die überlebenden Rebellen flohen zurück in die Berge, wo sie im verbliebenen Jahrzehnt immer wieder für Unruhe sorgten. Nach und nach wurden die Anführer der Rebellen aber zur Strecke gebracht. Konon wurde 493 getötet, vier Jahre später wurde Longinus gefasst; seinen Kopf steckten die Häscher auf eine Stange und schickten ihn nach Konstantinopel, wo er mit großem Jubel empfangen wurde. Zwei weitere Rebellenführer, die noch auf freiem Fuß waren (darunter schon wieder ein Longinus), gingen den Truppen des Kaisers schließlich im Jahr 498 ins Netz. Sie brachte man nun lebendig nach Konstantinopel und führte sie durch die Straßen, um sie der Lächerlichkeit preiszugeben; den dritten Longinus schickte man dann nach Nicäa, folterte ihn und richtete ihn hin. Erst jetzt war der Isaureraufstand endgültig niedergeschlagen.6
Dass Anastasios’ Regime gleich zu Beginn eine solche Krise meisterte, war keine geringe Leistung. Eine ganze politische Generation einflussreicher Isaurer, die dafür gesorgt hatten, dass im Herzen des Imperiums das Mächtegleichgewicht aus den Fugen geriet, war ausgerottet. Man darf durchaus behaupten, dass Anastasios’ weitere Herrschaft durch sorgfältige und – zumindest für spätantike Verhältnisse – relativ effiziente administrative Kompetenz gekennzeichnet war. Unter anderem gab es eine Steuerreform, im Rahmen derer ein Großteil der bisherigen Sach- in Barzahlungen umgewandelt wurden, was es erheblich erleichterte, Steuern zu erheben und zu verteilen (wenn auch nicht unbedingt zu bezahlen). Die Quellen urteilen durchweg positiv darüber, wie Anastasios das Imperium regierte.7 In einem ganz zentralen Punkt hatte er allerdings überhaupt kein glückliches Händchen: bei der Thronfolge.
Anastasios war sechzig Jahre alt, als er den Thron bestieg, und die Kaiserin, Zenons Witwe, ungefähr vierzig, also hätten sie vielleicht gerade noch einen Thronfolger hervorbringen können, doch das taten sie nicht (ob gezielt oder ob es einfach nicht gelang, wissen wir nicht, aber ich vermute Ersteres). Dass Anastasios keinen eigenen Erben hatte, hinderte ihn jedoch nicht daran, enge Familienangehörige auf prominente Positionen zu setzen. Er hatte drei Neffen, Kinder seiner zwei Schwestern: Pompeius, Probus und Hypatius, der sein Favorit war. Pompeius erhielt das Konsulat für das Jahr 501 und später, gegen Ende von Anastasios’ Herrschaft, ein wichtiges Militärkommando (wahrscheinlich als Oberbefehlshaber der thrakischen Feldarmee). Probus war 502 Konsul, doch das blieb bis zur Herrschaft Justins sein einziger hoher Posten. Hypatius hingegen war bereits während des Isaureraufstands ein bedeutender Militärkommandant, und er war der erste Neffe des Kaisers, der ein Konsulat erhielt (500); in den ersten zwei Jahrzehnten des 6. Jahrhunderts erhielt er diverse hochrangige Feldherrnposten: 503 und noch einmal zehn Jahre später war er magister militum praesentalis, dazwischen Oberbefehlshaber der thrakischen und der östlichen Feldarmee.
Zweifellos war er bei seinem Onkel besonders wohlgelitten, und zweifellos sah sich Hypatius selbst als rechtmäßigen Thronfolger – dieser Ehrgeiz sollte noch ganz deutlich zutage treten, später, Anfang der 530er-Jahre. Doch Anastasios unternahm keinerlei Schritte, seinem Lieblingsneffen die Thronfolge zu sichern. Der Kontrast zu Justin, der in den 520er-Jahren Justinian allmählich zu seinem Nachfolger aufbaute (525 war Justinian Caesar, 527 Augustus), ist deutlich. Anastasios’ Verhalten wird normalerweise – und korrekterweise, wie ich finde – so interpretiert, dass ihm das nötige politische Kapital fehlte, um einen solchen Schritt zu wagen, ohne dass er auf erbitterten Widerstand seitens der anderen Interessenten an seinem Hof gestoßen wäre.8 Sein Verhalten spiegelte teilweise die Art und Weise wider, wie er selbst auf den Thron gekommen war, wie auch die vielen unschönen Vorfälle während seiner Regierungszeit.
Als Kandidat für den Thron war Anastasios von vornherein ein Kompromiss gewesen. Ein sechzigjähriger Beamter bei Hofe ohne Kinder und mit wenig Zeit, noch welche zu zeugen: Der Grund, weshalb sich alle auf so einen Kandidaten einigten, lag wohl in erster Linie darin, dass man Longinus auf dem Thron verhindern wollte. Wie bereits erwähnt, starb Anastasios erst mit 87 Jahren und übertraf damit bei Weitem die damalige Lebenserwartung. Genau wie heute, wenn ein hochbetagter Kardinal zum Papst gewählt wird, gingen Anastasios’ Hintermänner im Jahr 491 wahrscheinlich davon aus, dass er es ohnehin nicht mehr allzu lange machen würde – eine kurzfristige Lösung für das Isaurer-Problem, weniger riskant, als wenn man eine Dynastie auf den Thron setzte, die den kaiserlichen Purpur auf lange Sicht nicht mehr aus den Händen geben würde (wie geschehen im Falle der Theodosianischen Dynastie, die Ende des 4. bis Mitte des 5. Jahrhunderts regiert hatte). Dass Anastasios so lange an der Macht blieb, viel länger, als irgendjemand hätte erwarten können, brachte es mit sich, dass er die Zügel der Macht im Laufe der vielen Jahre immer fester in Händen hielt. Doch es waren unruhige Zeiten – auch nach der Niederschlagung des Isaureraufstands kämpfte Anastasios den größten Teil seiner Herrschaft buchstäblich ums Überleben. Das Reich stand unter Druck, und zwar gleich aus zwei verschiedenen Richtungen.
Sein erstes Problem nach einer kurzen Ruhepause nach dem Aufstand in Isaurien war der erneute Krieg mit Persien im zweiten Jahrzehnt seiner Regierung. Der Aufstieg Persiens zur Supermacht Mitte des 3. Jahrhunderts hatte den Kontext, in dem das Römische Reich strategisch operierte, grundlegend verändert und dafür gesorgt, dass sich die politisch-administrativen Strukturen des Imperiums grundlegend veränderten (siehe Kapitel 2). Dank des Truppenausbaus (und der dazu nötigen Steuerreform) hatten sich die Katastrophen des 3. Jahrhunderts ab den 290er-Jahren nicht mehr in nennenswerter Weise wiederholt, obwohl es bis in die 370er-Jahre hinein immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Imperien kam. An diesem Punkt allerdings änderte sich das Muster: Hatten die zwei Großmächte bislang keine Gelegenheit ausgelassen, ihrem Erzrivalen Ärger zu bereiten, versuchten nun beide, die Auswirkungen ihrer Konflikte möglichst gering zu halten, auch wenn es solche Konflikte natürlich immer noch gab. Zum Beispiel im Jahr 456, als sich der römische Klientelkönig von Lasika am östlichen Ende des Schwarzen Meers immer mehr von Konstantinopel bevormundet fühlte und die Perser um Hilfe bat, um sich größere Unabhängigkeit zu verschaffen. Doch die Perser nutzten diese Chance, den Römern zu schaden, nicht, und so musste der König von Lasika seine Krone an seinen Sohn übergeben und selbst nach Konstantinopel gehen, um sich zu erklären. Ein so kooperatives Agieren zwischen den beiden Imperien bei einer möglichen Streitfrage war im 5. Jahrhundert absolut die Regel.9
Man sollte an dieser Stelle allerdings darauf hinweisen, dass diese lange kooperative Phase mitnichten ganz freiwilliger Natur war, sondern den notorisch verfeindeten Großmächten durch äußere Umstände aufgezwungen wurde. Aus römischer Sicht waren zwei bedeutende strategische Rückschläge in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts für diesen augenscheinlichen Frieden ursächlich. Der erste war Julians fehlgeschlagener Persienfeldzug im Jahr 363, der dazu führte, dass Rom den Persern Nisibis und eine Reihe römischer Territorien jenseits des Tigris überlassen musste. Der zweite Rückschlag war die Teilung Armeniens unter Kaiser Theodosius I. in den 380er-Jahren, bei der etwa drei Viertel des Staates in ein persisches Protektorat (Persarmenien) umgewandelt und damit der römischen Einflusssphäre entzogen wurden (siehe Karte 1).10
Dass diverse römische Regime des 5. Jahrhunderts diese beiden Rückschläge hinnahmen, ohne zu Vergeltungsmaßnahmen auszuholen, lag allerdings nicht etwa daran, dass unter den Kaisern plötzlich die Großzügigkeit ausgebrochen wäre. Vielmehr stellte der steile Aufstieg der Hunnen in Mittel- und Osteuropa eine völlig neue Gefahr für die Grenzen Ostroms dar, und folglich waren für irgendwelche »unnötigen« Streitigkeiten mit Persien einfach keine militärischen Kapazitäten mehr übrig.
Die Perser wiederum hatten im Grunde alles erreicht, was sie sich vernünftigerweise hatten erhoffen können, und auch sie sahen sich einer neuen Bedrohung ausgesetzt, in Form der Steppenvölker im Norden und Osten. Vor allem die sogenannten Hephthaliten oder »weißen Hunnen«, die zu Beginn des 5. Jahrhunderts von ihrer ursprünglichen Machtbasis (wahrscheinlich) im Nordwesten Afghanistans aus Sogdien und Chorasan eroberten, entwickelten sich zu einem äußerst aggressiven Nachbarn. Ob und auf welche Weise sie tatsächlich mit den Hunnen verwandt waren, die in beiden Teilen der römischen Welt für so viel Unruhe sorgten, wird nach wie vor kontrovers diskutiert.