Kitabı oku: «Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch», sayfa 20

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4.Republikaner aus Vernunft? Reusch in der Gründungsphase der Weimarer Republik bis zum Kapp-Putsch

Die bürgerlichen Politiker der Kaiserzeit erlebten den Zusammenbruch der Monarchie als einen Schock. Vaterlandsliebe und Kaisertreue gehörten für sie gefühlsmäßig zusammen. Nicht alle jedoch waren in ihrer „Mischung von Nostalgie, Illusion und unverhohlener Boshaftigkeit“1 so verblendet, dass sie in Ablehnung gegenüber der neuen Republik verharrten. Manche der führenden Männer des bürgerlichen Lagers sahen rasch ein, dass die verrottete Herrschaft der Hohenzollern nicht zu retten war, dass es keine Alternative gab zur parlamentarisch-demokratischen Republik. Sie wurden zu „Republikanern aus Vernunft“2. Für diese Haltung stehen die Namen Stresemann, Erzberger, Rathenau, um nur die prominentesten zu nennen. Ging Reusch diesen Weg mit, nachdem im April 1919 klar war, dass die Mehrheitsparteien keine kommunistische Revolution wollten? Wie war seine Einstellung zu den Waffenstillstandsverhandlungen, zur Nationalversammlung, zum Friedensvertrag von Versailles und zum Kapp-Putsch und seinen Folgen?

Voller Misstrauen und Pessimismus in die neue Republik

Nachdem Reusch sich Mitte Dezember 1918 eine ganze Woche in Berlin aufgehalten hatte, versprach er zwar, „kein Klagelied über die gegenwärtigen Zustände in Deutschland zu singen“. Der ganze Tenor seines Briefes an seinen Freund Wieland in Ulm war dann aber doch durch und durch pessimistisch. Was er bei einem mehrtägigen Besuch in Berlin gesehen hatte, bestärkte ihn in seiner Verachtung für die Regierung der Volksbeauftragten. Er traute ihr nicht zu, „ihre Autorität durchzusetzen“. Eine „Regierung mit Autorität“ könne nur aus der Nationalversammlung hervorgehen, die deshalb schnellstens gewählt werden müsse. Komme die Wahl erst im Februar, „dann werden wir noch schwere Zeiten erleben“.3

Offenbar versprach er sich von der Wahl eine bürgerlich-konservative, nationalistische und industriefreundliche Mehrheit, denn als die Nationalversammlung zwei Monate später dann zusammentrat und die Rechtsparteien in der Minderheit waren, hatte er für ihre Arbeit nur noch Verachtung übrig.

Es werde auf absehbare Zeit nicht möglich sein, die Versorgung Deutschlands mit Kohle und Eisenerz sicherzustellen. Seinem Kollegen in Süddeutschland machte er in dieser Hinsicht keine Hoffnung: „Sie sehen also: ich kann ihnen keine tröstlichen Mitteilungen machen. Bei der Machtlosigkeit, zu der wir Deutsche uns selbst verurteilt haben, vermag ich Ihnen keinen Rat zu geben, wie dem Schwabenland im gegenwärtigen Augenblick zu helfen ist.“ Der ganze Tenor dieses Briefes im Dezember 1918 lief auf eine Schuldzuweisung an die verantwortlichen Männer, die den Waffenstillstand unterzeichnet hatten, hinaus, so als sei die deutsche Niederlage vermeidbar gewesen. Dazu passte auch die Breitseite der Polemik gegen die liberalen Politiker Payer und Haussmann, die Reusch direkt anschließend abschoss: „Die Herren Payer, Haussmann und Genossen haben so viel auf dem Gewissen und sind mit schuld an den gegenwärtigen Zuständen, dass ich es nicht verstehen kann, wie die dortigen Nationalliberalen [in Württemberg] sich der Partei dieser Herren anschließen können. Wie kann ein guter Deutscher einer Partei angehören, in welcher das Berliner Tagblatt ausschlaggebend ist! Wenn der Jude Friedberg geglaubt hat, die nationalliberale Parteiorganisation zu verschachern, so brauchen die anständig gesinnten Männer dieser Partei einem solchen Führer nicht zu folgen.“4

Wenn Politiker vom linken Flügel der ehemaligen Nationalliberalen Partei und eine Berliner Tageszeitung für die „gegenwärtigen Zustände“ verantwortlich gemacht werden, so war es bis zur Dolchstoßlegende nicht mehr weit. Das von dem jüdischen Zeitungsverleger Rudolf Mosse herausgegebene „Berliner Tagblatt“ war die einflussreichste liberale Tageszeitung in der Hauptstadt. Als Reusch im Dezember seine bösen Bemerkungen über die Zeitung zu Papier brachte, war Kurt Tucholsky gerade Chefredakteur der humoristischen Beilage „Ulk“ geworden. Tucholsky steuerte auch in der Tageszeitung regelmäßig Artikel bei.

Bei der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 errangen die Sozialdemokraten und die republikanisch eingestellten bürgerlichen Parteien eine überzeugende Mehrheit: SPD 37,9% , Zentrum/Bayrische Volkspartei 19,7% , Deutsche Demokratische Partei (DDP) 18,5% . Auf dem linken Flügel erhielt die USPD nur 7,6% , auf dem rechten Flügel schnitten die Deutschnationalen (DNVP) mit 10,2% und die Deutsche Volkspartei (DVP) mit 4,4% schwach ab. Reuschs württembergischer Unternehmer-Kollege war für die DDP in die Nationalversammlung gewählt worden. Er las Reusch nach der Wahl wegen seiner Ausfälle gegen liberale Politiker in seinem Dezember-Brief jetzt regelrecht die Leviten. Da dieser fünfseitige Brief ein eindrucksvoller Beleg dafür ist, dass Reusch in seinem engsten Freundeskreis mit Ansichten konfrontiert wurde, die ihn eigentlich nachdenklich machen mussten, soll die Argumentation hier ausführlich wiedergegeben werden.

Wieland wies die Anschuldigungen gegen seine Parteifreunde Payer und Haussmann, die wie er selbst gerade in die Nationalversammlung gewählt worden waren, mit Entschiedenheit zurück. Er sah die Verantwortung für die „gegenwärtigen Verhältnisse“ bei anderen: „Die Hauptschuld tragen diejenigen Herren, die dem deutschen Volk nicht frühzeitig genug klaren Wein darüber eingeschenkt haben, wie es um uns … bestellt ist. Es war einfach unverantwortlich, den Krieg auf einer so faulen Grundlage weiterzuführen.“ Auch die verbale Entgleisung gegen den „Juden Friedberg“ ließ Wieland so nicht stehen, Reusch sei leider in dieser Sache vollständig falsch informiert. Er scheute sich auch nicht, die Schwerindustrie direkt anzugreifen: „Die Fehler, welche uns letzten Endes die Revolution beschert haben, liegen bei ganz anderen Herren. Es sind dies Männer wie Hirsch, Fuhrmann und Genossen, welche als Vertreter der Schwerindustrie eine Politik getrieben haben, die mir stets unverständlich war.“ Die Herren der Schwerindustrie hätten in der Nationalliberalen Partei „stets derart quergetrieben und dadurch Gegensätze geschaffen, dass sie ihre eigene Partei nur geschwächt und sie schließlich unpopulär gemacht haben.“ – Wieland wusste sicher, dass Reusch seit Jahren engen Kontakt hielt mit Hirsch, dessen Aufgabe es war, die Gelder der Industrie so zu verteilen, dass sie ausschließlich Politikern des rechten Flügels der Nationalliberalen Partei zugute kamen. – Der „gröbste Fehler“, so Wieland weiter, sei es jedoch gewesen, „das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht in Preußen zu hintertreiben“. Wieland sah darin einen der entscheidenden Gründe für den Ausbruch der Revolution. Frontal die Legendenbildung um die deutsche Niederlage angreifend, schilderte er die Stimmung im deutschen Heer so: „Es war bei vielen preußischen Divisionen schon im Felde offensichtlich zu Tage getreten, dass sie nach Ablehnung der Wahlrechtsvorlage passiven Widerstand leisteten und nicht mehr vorwärts zu bringen waren. Wie konnte man glauben, einem Preußen, der monatelang mit einem Schwaben im Schützengraben gelegen hatte, beibringen zu wollen, dass er des gleichen Wahlrechts nicht wert sei, das sein schwäbischer Bruder schon seit Jahrzehnten besitzt. Das sind politische Unbegreiflichkeiten, die sich jetzt bitter rächen.“ Besonders getroffen fühlen musste sich Reusch von der ganz unverblümten Schuldzuweisung an die Herren der Schwerindustrie: „Der ausgeprägte Herrenstandpunkt, der in der rheinisch-westfälischen Industrie stets zu Tage getreten und den man bei uns im Schwabenlande bekanntlich nicht kennt, hat auch seinen Teil an den Zuständen, die wir jetzt durchleben.“ Bei den Wahlen zur Nationalversammlung hatte sich die DDP als die größere liberale Partei gegen die Konkurrenten aus dem bürgerlichen Lager durchgesetzt, so dass Wieland nun mit voller Überzeugung um Unterstützung für die eine große liberale Partei werben konnte. Das „jüdische Element“ würde man zurückdrängen. „Im Übrigen ist jetzt schon festzustellen, dass die Judenwirtschaft im Kriege auch in der D.d.P. eine sehr fühlbare Strömung gegen den Semitismus hervorgerufen hat.“ – Reuschs anti-semitischen Seitenhieb fand er also durchaus nicht geschmacklos! – Nach drei Seiten offener Kritik an Reuschs Standpunkten, kam Wieland zur „Hauptfrage“, der Kohlenversorgung. Ohne Kohle käme das Wirtschaftsleben nicht in Gang, und dann drohe der „Bolschewismus“. Deshalb bat er Reusch um Aufklärung über die Kohleförderung. Dass Wieland bei aller Kritik das freundschaftliche Verhältnis zu Reusch aufrecht erhalten wollte, macht er in den abschließenden Mitteilungen über seine Söhne, die den Krieg wohlbehalten überstanden hatten, deutlich.5

Reusch antwortete prompt. Seine negative Haltung gegen die liberalen württembergischen Politiker Payer und Haussmann erhielt er aufrecht; über ihr Verhalten in den Wochen des Kriegsendes und der Revolution sei er „von sonst zuverlässiger Seite“ unterrichtet worden. Dann drehte er den Spieß um, als er Wielands Kritik an der Schwerindustrie aufgriff. Er sei nicht der Einzige im Kreis der Schwerindustriellen, „der seit Jahr und Tag ein scharfer Verfechter des gleichen Wahlrechts war. Weitsichtige Industrielle an hervorragender Stelle haben schon lange die gleiche Meinung vertreten.“6

Dies stellte die Tatsachen völlig auf den Kopf! Selbst nach dem Drei-Klassen-Wahlrecht in die Stadtverordnetenversammlung von Oberhausen gewählt, agierte Reusch im Kaiserreich immer im Dunstkreis der rechts-konservativen Parteien und Verbände, die bis 1918 jeden Versuch einer Wahlrechtsreform vereitelten. Eine Kritik an dieser Blockadepolitik der Rechten sucht man in Reuschs Nachlass vergebens. Noch im Januar 1918 hatte Reusch den nominellen Vorsitzenden der von ihm gelenkten „Deutschen Vereinigung“ Graf Hönsbröch aufgefordert, seine Kontakte zur Zentrumspartei gegen das allgemeine Wahlrecht zu nutzen: „Es ist selbstverständlich sehr wichtig, dass die Gegner des allgemeinen Wahlrechts im Zentrum nicht umfallen.“7 Ende August 1918 hatte Hugenberg – nicht gerade ein Verfechter demokratischer Grundsätze! – zu einer informellen Aussprache mit preußischen Landtagsabgeordneten eingeladen. Bei dieser Besprechung im Anschluss an die Sitzung des Stahlwerksverbandes am 5. September im Düsseldorfer Stahlhof sollte es um Wahlrechts- und Parteifragen gehen.8 Reusch war wegen einer Auslandsreise verhindert, sprach sich aber Mitte September gegen eine öffentliche Stellungnahme aus: „Ich selbst stehe – wie sie wissen – auf dem Standpunkt, dass heute am Allgemeinen Wahlrecht nicht mehr vorbeizukommen ist und dass unsererseits das Bestreben dahin gerichtet werden muss, entsprechende Sicherungen in das Gesetz zu bringen, welche dem Herrenhaus in der Zukunft größere Machvollkommenheiten einräumen, als das in der Vergangenheit der Fall war.“9 Also: Wenn man schon nicht am allgemeinen Wahlrecht vorbeikommt, dann soll das so gewählte Parlament möglichst wenig zu sagen haben. Schreibt ein „scharfer Verfechter des allgemeinen Wahlrechts“ derartige Sätze?

Zurück zu Reuschs Disput mit Wieland Ende Januar 1919: Kaum ausgesprochen, relativierte Reusch sein Bekenntnis zum demokratischen Wahlrecht wieder, indem er nämlich Wielands Behauptung zurückwies, „dass sich der Feldsoldat besonders für das Wahlrecht interessiert haben soll“. Reusch nahm dann zwei andere Gründerväter der liberalen DDP ins Visier, „die Herren Dernburg, Gerlach und Genossen“. Denn er „mache einen scharfen Unterschied zwischen einem süddeutschen Demokraten und einem norddeutschen Demokraten.“ In der Nationalversammlung würde Wieland noch seine Erfahrungen machen; dort würden seine „Sympathien gegenüber einem großen Teil der norddeutschen Demokraten einen starken Stoß erleiden“. Zwingende Voraussetzung für die irgendwann später ins Auge zu fassende Gründung einer „größeren wirklich liberalen Partei“ müsse sein, „dass der linke, stark zur Sozialdemokratie hinneigende Flügel der demokratischen Partei abgestoßen wird.“ Am meisten getroffen hatte ihn jedoch die Kritik an der Herrenarroganz der Schwerindustriellen. Auf dieses Thema kam er am Ende seines Briefes noch einmal ausführlich zu sprechen: „Sie urteilen über die Industriemagnaten in Rheinland-Westfalen augenblicklich etwas hart. … Es gibt auch hier, wie überall, neben räudigen Schafen bessere Menschen. Im übrigen haben gerade die starken Naturen, die vielleicht mehr oder weniger ihren Herrenstandpunkt gar zu schroff vertraten, der deutschen Volkswirtschaft in der Vergangenheit gewaltigen Nutzen zugeführt. Man darf also jetzt nicht deshalb über sie den Stab brechen, weil wir aus Mangel an geeigneten politischen Köpfen den Krieg verloren haben.“10 Reusch zählte sich selbst sicher auch zu denen, die ihren „Herrenstandpunkt“ bisweilen – natürlich in Deutschlands wohlverstandenem Interesse – etwas „schroff vertraten“, allerdings nicht zu den „räudigen Schafen“, die diesen Standpunkt „gar zu sehr“ herauskehrten. Erschreckend ist am Ende die implizit enthaltene Behauptung, dass Deutschland mit den „geeigneten politischen Köpfen“ den Krieg hätte gewinnen können. Diese Einstellung führte geradewegs in die Dolchstoßlegende.

Ein kurzer Blick auf die von Reusch verachteten liberalen Politiker enthüllt, wo er selbst im politischen Spektrum nach vier Jahren eines mörderischen Krieges und der unvermeidlichen deutschen Niederlage zu verorten war. Alle vier von ihm genannten Politiker kamen aus dem bürgerlich-liberalen Lager, hatten sich vor 1914 als Parlamentarier engagiert, allerdings nicht auf dem rechten Flügel der Nationalliberalen, so dass ihnen die Geldtöpfe der Schwerindustrie verschlossen blieben. Im Krieg gehörten sie nicht zu den rabiaten Annexionisten. Payer unterstützte den von Reusch als „Flaumacher“ verachteten Reichskanzler Bethmann Hollweg. Nach dessen Rücktritt Vizekanzler im neuen Kabinett, wurde er von der OHL entschieden bekämpft. Auch in der Übergangsregierung des Prinzen Max von Baden war er Vizekanzler. Haußmann war seit 1889 Landtagsabgeordneter in Württemberg und trat 1918 als Staatssekretär in die Regierung des Prinzen Max von Baden ein. Friedberg war 1884 vom jüdischen zum protestantischen Glauben übergetreten, vertrat die Nationalliberalen von 1886 bis 1918 im preußischen Landtag, ab 1906 als Fraktionsvorsitzender, ab 1917 als stellvertretender preußischer Ministerpräsident. In dieser Funktion setzte er sich entschieden, aber ohne Erfolg für die Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts ein. Dernburg war als Partner von Stinnes ein erfolgreicher Unternehmer in der Schwerindustrie, ging 1906 in die Politik und wurde 1907 Staatssekretär im Reichskolonialamt. Gerlach wurde unter dem Einfluss Friedrich Naumanns überzeugter Liberaler, setzte sich vor 1914 mit Nachdruck für die Parlamentarisierung der Reichsverfassung ein und half mit, die Textilarbeiter in liberalen Arbeitervereinen zu organisieren. Eben deshalb verhinderten Unternehmer im Bündnis mit dem Zentrum seine Wahl ins preußische Abgeordnetenhaus. Im Krieg zum überzeugten Pazifisten geworden, kämpfte er für eine Verständigung mit Deutschlands Nachbarn. Payer, Haußmann und Dernburg wurden 1919 in die Nationalversammlung gewählt, Friedberg in den preußischen Landtag. Gerlach setzte sich als Unterstaatssekretär im preußischen Innenministerium 1918/19 besonders für die deutsch-polnische Verständigung ein.11 In den Biographien dieser Männer erschließt sich nicht, wo der substantielle Unterschied zwischen süddeutschen und norddeutschen Liberalen liegen sollte. Reuschs undifferenzierter Groll gegen diese liberalen Politiker zeigt, dass er nicht bereit war, die Realitäten der deutschen Niederlage zur Kenntnis zu nehmen, am Aufbau eines neuen demokratischen Staates mitzuarbeiten und sich aus dem Ghetto der politischen Rechten herauszubewegen.

Wielands Kritik am „Herrenstandpunkt“ in der Schwerindustrie ließ ihm keine Ruhe. Deshalb schob er noch vor dem Zusammentritt der Nationalversammlung einen weiteren Brief nach, um mit Hilfe der Wahlergebnisse zu beweisen, dass der Vorwurf nicht stimmte. Im seinem Heimatwahlkreis hatten die Sozialdemokraten 27,8% der Stimmen erhalten, die bürgerlichen Parteien 72,2% , wobei er die fast 50% des Zentrums voll dem bürgerlichen Lager zurechnete. In Württemberg dagegen seien die Sozialdemokraten auf 38,26% gekommen, die bürgerlichen Parteien dagegen nur auf 61,74% . Das von Wieland kritisierte herrische Gehabe der Schwerindustriellen habe sich also vergleichsweise positiv auf das Wahlergebnis ausgewirkt. Dass die Christlichen Gewerkschaften 60 der insgesamt 91 Zentrums-Sitze in der Nationalversammlung erobert hatten,12 überging Reusch wohlweislich. Wie die Weimarer Koalition in der Nationalversammlung wenig später zeigte, stand das Zentrum keineswegs stabil im Lager der Bürgerlichen, jedenfalls nicht im Sinne der konstanten Konfrontation gegen die SPD. Im zweiten Teil des Briefes verstieg Reusch sich in ein absonderliches Klagelied: „Wenn wir hier unter dem Terror der Spartakisten leiden müssen, ist daran nicht die Bevölkerung schuld, sondern der Umstand, dass wir sehr weit von der Berliner Zentrale entfernt leben und dass sich die Berliner Regierung um die Zustände hier nicht kümmert. Wäre beispielsweise Rheinland und Westfalen eine selbständiger Bundesstaat wie Württemberg, so hätte die Landesregierung längst eingegriffen und wäre spielend der radikalen Bewegung Herr geworden, ebenso wie das in Württemberg der Fall war.“13

Die Kontroverse um Hugo Stinnes und die Verhandlungen mit den Alliierten

Noch vor der Wahl und dem Zusammentritt der Nationalversammlung hatten die Waffenstillstandsverhandlungen in Spa die Gemüter erhitzt. Die leidenschaftlichen Kontroversen entzündeten sich ebenso an Sachfragen wie an Personen. Besonders umstritten war die Rolle von Hugo Stinnes. Bei einer Kundgebung der neugegründeten Deutschen Demokratischen Partei (DDP) am 1. Dezember 1918 im Zirkus Busch in Berlin wurde dieser von Professor Alfred Weber heftig attackiert, weil er bei den Waffenstillstandsverhandlungen in Spa mit den Franzosen diskret über die Loslösung des Rheinlandes von Deutschland gesprochen habe. Obwohl Stinnes diese Anschuldigung entschieden zurückwies, gelang es Erzberger, dem Leiter der deutschen Delegation daraufhin, Stinnes von den weiteren Waffenstillstandsverhandlungen auszuschließen. Dabei dürften allerdings weniger die Vorwürfe von Alfred Weber ausschlaggebend gewesen sein, als vielmehr die Tatsache, dass Stinnes während des ganzen Krieges einer der rabiatesten Verfechter von Annexionen gewesen und daher jetzt den Alliierten als Verhandlungspartner kaum zuzumuten war. Reusch war empört über Alfred Webers Angriffe gegen Stinnes. Auch Erzberger sprach er rundum die Kompetenz ab, die deutschen Interessen gegenüber den Siegermächten wirkungsvoll zu vertreten. Reusch solidarisierte sich in dieser Sache vorbehaltlos mit den Protestnoten des VdESI an Friedrich Ebert. Auch Carl Legien und einige andere Gewerkschaftsführer schlossen sich diesen Protesten an. Stinnes selbst gab alle Zurückhaltung auf und griff seinerseits Erzberger wegen der angeblich zu großen Zugeständnisse „rücksichtslos“ an, er beschimpfte ihn gar als „Lumpen“. Bei der Eröffnung der Nationalversammlung in Weimar war die Stinnes-Kontroverse noch längst nicht beendet. Am 18. Februar 1919 kam es in dieser Sache zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen Vögler und Erzberger in der Nationalversammlung. Vöglers Vorwürfe konterte Erzberger mit dem Hinweis auf Stinnes’ Rolle im Krieg, vor allem bei der wirtschaftlichen Ausbeutung Belgiens und bei der Deportation belgischer Zwangsarbeiter nach Deutschland.14

Ende Februar 1919 gab Reusch seinem Kollegen Wieland eine ausführliche Schilderung seiner Sicht und seiner Beteiligung an dieser Affäre. Unmittelbare Folge der „Denunziation“ durch Alfred Weber sei nicht nur die Abberufung von Stinnes gewesen, sondern auch die Verhaftung von August und Fritz Thyssen durch den Mülheimer Arbeiter- und Soldatenrat. Diese prominenten Großunternehmer seien in Berlin noch in Haft gewesen, als sich dort am 10. Dezember 1918 der Vorstand des Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller (VdESI) traf. Obwohl er „kein besonderer Freund von Hugo Stinnes“ sei, habe er bei dieser Sitzung den Antrag gestellt, von der Regierung der Volksbeauftragten dessen sofortige Wiedereinsetzung als Sachverständiger zu verlangen. Diese Forderung betrachtete er „mit Rücksicht auf das gewissenlose Vorgehen des Herrn Professor Weber [als] berechtigt“. Am 19. Dezember folgte der VdESI Reuschs Vorschlag und schlug als Sachverständige für die Waffenstillstandsverhandlungen u.a. Stinnes, Reusch und Vögler vor. Erzberger wurde an den folgenden Tagen mit Telegrammen des VdESI regelrecht bombardiert, blieb aber hart. Er wusste die sozialdemokratisch geführte Reichsregierung hinter sich, die sich von den Eisen- und Stahlindustriellen nicht vorschreiben ließ, wen sie als Sachverständigen zu berufen hatte.15

Um einschätzen zu können, welche Wirkung der Akteur Stinnes auf internationalem Parkett ausstrahlte, ist an dieser Stelle ein kurzer Ausblick auf den Sommer 1920 notwendig, als es in Spa um die praktische Umsetzung der Bestimmungen des Versailler Vertrages ging. Stinnes war zu diesem Zeitpunkt wieder mit von der Partie und leistete sich einen so provozierenden Auftritt, dass er alle von Erzberger vorgetragenen Vorbehalte zu bestätigen schien. Den englischen Premierminister Lloyd George beschlich bei dem Redebeitrag von Stinnes das „Gefühl …, zum ersten Mal einem wirklichen Hunnen begegnet zu sein“.16

Ab Mitte Februar 1919 gab Wieland seinem Korrespondenzpartner Reusch, meist auf Kopfbogen der „Verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung“, Hintergrundinformationen über die Vorgänge in Weimar. Das vordringliche Problem schien zunächst aus der Sicht der beiden Unternehmer nicht die Verfassung zu sein, sondern die völlig unzureichende Kohleversorgung der Industrie. Schuld daran waren – wie konnte es auch anders sein – die Siegermächte: „Die Franzosen erpressen alles von uns, leisten aber nichts, das ist das unsagbar traurige an unserer Lage. Wir sind eben wehrlos und da nützt es gar nichts, wenn der Kollege Vögler in der Nationalversammlung mit der Faust auf den Tisch schlägt.“ Empört berichtete Wieland über Vöglers völlig missglückten Auftritt im Plenum: Wie konnte ein Vertreter der Schwerindustrie verkünden, dass Deutschlands Kohlennot „nicht die Folge der wilden Streiks“ sei! Aus Wielands Sicht hieß das „Wasser auf die Mühle der U.Soz. leiten“. Als Generaldirektor eines Unternehmens, dessen Aufsichtsratsvorsitzender Stinnes war, hatte Vögler es ohnehin nicht leicht; sich aber als Vertreter der Industrie vorzustellen (Wieland dazu: „Er ist Volksvertreter!“), war in höchstem Maße provozierend. Durch sein ungeschicktes Auftreten habe er Erzberger den größten Dienst erwiesen. Dazu kam noch „das ominöse Telegramm des Stahlverbandes“ – gemeint waren wohl die Dezember-Telegramme des Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller –, das der Regierung ausgerechnet Hugo Stinnes als Sachverständigen für die Waffenstillstandsverhandlungen aufzwingen wollte und „jeden anderen“ ablehnte. „So etwas Regierung und Nationalversammlung zu bieten, nachdem was St. auf dem Kerbholz hat, das ist unerhört.“ In Zukunft werde es für Unternehmer sehr schwer sein, in der Nationalversammlung das Wort zu ergreifen.17 Vögler hatte in seiner Rede Erzberger äußerst massiv, z.T. in sarkastischem, verletzenden Ton angegriffen: „Sie, Herr Reichsminister Erzberger, haben diesen Arm [des deutschen Volkes] in Fesseln geschlagen, und wenn heute das ganze Deutschland unter einer gewaltigen Kohlennot ächzt und stöhnt, … so ist das nicht nur … eine Folge der wilden Streiks, die keiner mehr verurteilt als wir, sondern es ist in erster Linie die Folge davon, dass die Erzeugung nicht dem Verbrauch zugeführt werden kann. Heute liegen allein auf den Zechen des rheinisch-westfälischen Ruhrgebietes fast zwei Millionen Tonnen Brennstoffe und harren der Abfahrt.“ Ganz am Ende seiner langen Rede erklärte er unter Tumulten: „Ich kenne Herrn Erzberger gar nicht, ich habe mit ihm noch nie etwas zu tun gehabt, aber ich spreche hier als Vertreter einer Industrie, die am Erstarren ist.“18

Reusch nahm Vögler gegen die Vorwürfe in Schutz: Er müsse eben „erst seine Erfahrungen auf dem parlamentarischen Glatteis“ machen. Was Reusch damit meinte, entlarvt seine Einstellung zur parlamentarischen Demokratie: „Um parlamentarische Erfolge zu erzielen, muss man etwas von einem anständigen Charakter abstreifen und ab und zu mit ,Gedächtnisschwäche’ operieren. Man darf es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen. Das lernt man nicht von heute auf morgen.“ Im Übrigen dürfe man Vögler nicht mit Stinnes identifizieren, er beeinflusse seinen Aufsichtsratsvorsitzenden stärker, als dies umgekehrt der Fall sei.19

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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
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1330 s. 34 illüstrasyon
ISBN:
9783874683913
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