Kitabı oku: «Im grünen Raum von Saint-Leu», sayfa 2
3
Mit dem Schreiben begann ich sehr widerwillig, fand aber bald in die Zeit hinein, die ich in La Réunion verbracht hatte – und schrieb dann mit immer größerer Freude. Die Kunstlehrerin half mir anfangs; sie suchte in dem, was ich ihr etwas ratlos erzählte, nach einem größeren Ereignis – und fand es mit dem Zyklon Firinga, der zweimal auf La Réunion zugekommen war. Damit sollte ich beginnen – und ich tat es.
Im Radio hatten sie seit Tagen von Firinga geredet; auch der „Quotidien“ und das „Journal de l’Île“ hatten ihre Titelseiten vollgedruckt mit Satellitenbildern und Artikeln, die den Sturm als einen meteorologisch seltenen Zyklon beschrieben. Firinga war südlich an La Réunion vorbeigezogen, hatte sich gedreht, auf die Westküste zugehalten und riesige Wellen herangeschoben. Die Vögel waren verstummt, aber der Himmel war noch blau, und der Wind blies ablandig in die herankommenden Wellen hinein, sodass sie hohl wurden und sich als große Röhren brachen, an die man sich bis heute erinnert als ‚epische Firinga-Wellen‘.
Das war, als Firinga ein erstes Mal auf La Réunion zugekommen war.
Surfer waren die Berge der Insel heruntergekommen, reisten aus Mayotte und Mauritius, Frankreich und Spanien an und nahmen die Surfspots ein. Alle wollten sie auf diesen Wellen reiten.
Nach zwei Tagen bewegte sich Firinga wieder von der Insel weg, der Zyklon wanderte nach Südwesten, würde sich dort abschwächen und verlieren. Das zumindest sagten alle. Je weiter sich der Sturm von La Réunion entfernte, desto kleiner wurden die Wellen. Bald kamen die Surfer wieder an Land, lungerten noch einen Tag in den Cafés herum und verschwanden dann.
Die Surfshops waren leergekauft – kaum noch etwas lag in den Regalen oder hing an den Kleiderständern; auch gab es kein Surfwachs mehr. Die einen sagten, ein Importeur hätte vergessen, die Bestellung dafür aufzugeben, die anderen sagten, irgendwo in der Welt sei eine Surfwachsfabrik abgebrannt und deshalb gäbe es für eine sehr lange Zeit keinen Mr. Zog, keinen Sex Wax und keinen Sticky Finger mehr.
Aber dann hatte sich Firinga noch einmal gedreht und hielt ein zweites Mal auf La Réunion zu. Die Firinga-Wellen würden noch einmal kommen, und wir würden sie noch einmal surfen.
Alle begannen, nach Wachs zu suchen. Wir klauten Kerzen bei unseren Eltern, bei unseren Tanten und Onkeln, im Supermarkt, in der Kirche und auf dem Friedhof. Taufkerzen, Trauerkerzen, Lebenskerzen.
Die Knappheit an Wachs war für mich ganz besonders dramatisch, denn dieses Mal würde ich die Firinga-Wellen in der Bucht von Saint-Leu surfen können.
Pierre-Yves hatte mir das versichert. „Ich habe mit Abasse gesprochen. Du kannst mitkommen.“
„Wann?“
„Dieses Wochenende.“
„Firinga wird bis dahin zurück sein.“
„Genau das hast du eigentlich nicht verdient.“
Mir war egal, was Pierre-Yves von mir dachte. Mir war auch egal, was Abasse von mir dachte. Ich wollte nach Saint-Leu – mir ging es einzig darum. Ein bisschen Wachs würde ich schon finden.
Ich hatte versucht, Abasse direkt zu fragen.
Jeder am Collège des Aigrettes kannte Abasse. Abasse verdiente sich sein Geld mit täglichen Spaziergängen die trockenen Flussbetten hoch und in die Berge, wo er ausgewachsene Zamal Pflanzen pflückte, sie zum Trocknen auslegte und dann zu guten Preisen an die Schüler des Collège des Aigrettes verkaufte. Er war uns aber nicht nur als Dealer bekannt, sondern auch wegen seines VW Bullys, mit dem er den einen oder anderen von uns nach Saint-Leu mitnahm.
Ich hatte anfangs wirklich geglaubt, Abasse einfach fragen zu können, ob er mich mit nach Saint-Leu nehmen würde. Er könnte mir zeigen, wie ich die Welle nehmen müsste und so weiter. Ich sah ihn in Les Aigrettes surfen und wartete am Strand darauf, dass er herauskommen würde und ich ihn ansprechen könnte. Das war, als ich mit meinen Eltern gerade nach La Réunion gekommen war und noch gar nicht richtig surfen konnte.
Abasse surfte dort mit seinem regenbogenfarbenen Surfbrett, das er sich bei Mark Richards in Australien gekauft hatte. Abasse hatte wahnsinnig dicke Oberschenkel – und alle sagten, er schneiderte sich seine Surfshorts wegen dieser Schenkel selbst. In jedem Fall wusste er die Muskeln darin einzusetzen, denn er surfte in einer tiefen Hockstellung, aus der heraus er kraftvolle Wenden und hohe Sprünge machte.
Wenn Abasse das Wasser pflügte, war sein Gesicht immer wutverzerrt, seine Augen waren aufgerissen, sprangen fast aus den Höhlen; immer fletschte er die zusammengebissenen Zähne, und fast jeder Ritt endete damit, dass er laut fluchte, aufs Wasser schlug und sich nach jemandem umschaute, dem er die Schuld für irgendetwas geben konnte, was ihm nicht gelungen war.
Dann nahm Abasse wieder eine Welle, surfte sie ab, kam aber nicht weit, weil ein Anfänger von der Wellenschulter in die Gleitlinie rutschte und mit ihm zusammenstieß. Abasse fiel ins Wasser, tauchte auf, schaute sich nach diesem Anfänger um, schwamm zu ihm hin und ohrfeigte ihn mehrfach. Der Anfänger war ein Junge, vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt – Abasse ohrfeigte ihn und brüllte ihn an, ihm nicht noch einmal in die Quere zu kommen. Nicht nur ich sah, wie er ihn schlug, auch der Vater des Jungen sah es. Er ging am Strand auf und ab und wartete genauso wie ich darauf, dass Abasse herauskommen würde.
Abasse kam heraus und wurde von diesem Vater angesprochen. Wie könne er seinen Sohn schlagen, er müsse sich entschuldigen, ansonsten dürfe er mit einer Anzeige rechnen. Aber Abasse ging an ihm vorbei, lief den Strand hinauf und auf die Straße. Der Vater lief hinter ihm her und begann, ihm immer deutlicher mit einer Anzeige zu drohen. Direkt vor der Gendarmerie drehte sich Abasse zu dem Vater um, stellte sein Surfbrett ab, umgriff den Kopf des Vaters mit beiden Händen, riss ihn herunter und rammte ihm das Knie ins Gesicht. Der Vater taumelte mit blutüberströmtem Gesicht zurück und fiel auf den Rücken. Sein Sohn kam zu ihm hin.
Zur gleichen Zeit spielten zwei Gendarmen mit einem Schlauch im Garten der Gendarmerie. Der eine spritzte den anderen nass, und der, der nass wurde, kreischte laut und rannte in voller Montur und mit hohen Stiefeln hinter das Gebäude.
Mir wurde klar, dass ich Abasse nicht so einfach fragen könnte, ob er mich mit nach Saint-Leu nehmen würde.
Es verging ein ganzes Jahr. Ich surfte in Les Aigrettes, in Roches Noires, in Boucan Canot, manchmal in der Bucht von Saint-Paul, aber nie kam ich weiter in den Süden, nie kam ich nach Saint-Leu.
Ich wurde auf dem Brett immer sicherer, mir gelangen Gleitphasen, ich erlernte Figuren, ich wechselte von einer Figur in die nächste; einen besonders schönen Stil entwickelte ich aber nicht, dafür wackelte ich zu viel mit den Armen, bog die Knie zu weit nach außen und drehte meinen Kopf viel zu häufig nach hinten.
Es verging noch ein Jahr. Und noch eins.
Als mir Pierre-Yves einen Platz bei Abasse im VW Bully verschaffte und ich also nach Saint-Leu kam, tat Pierre-Yves das nicht, weil er ein Freund von mir war.
Pierre-Yves lebte genauso wie ich in der Rue d’Anjou, in diesen schicken Häusern, die auf der Bergkuppe gebaut waren und einen Blick in die Bucht von Saint-Gilles-les-Bains boten; wir waren Nachbarn; unsere Eltern verstanden sich gut und trafen sich manchmal. Pierre-Yves war ein weißer Festlandfranzose, er war klein und drahtig, er hatte lange, sehr blonde Haare, er war ziemlich intelligent – und einer der besten Surfer, die ich kannte. Zumindest in kleinen und mittelgroßen Wellen. Er war schnell, geschmeidig, gelenkig, ideenreich – er hatte ein ausgesprochen robustes Gleichgewichtsgefühl und bei weitem die besten Reflexe.
Pierre-Yves gehörte zu einem Kreis von Surfern, zu denen ich keinen Zugang hatte. Ich würde ihn erst ansprechen können, wenn ich richtig surfen könnte … und ich würde nie richtig surfen können, weil ich mit dem Surfen viel zu spät begonnen hatte. Das Gefühl für das brechende Wasser hätte ich als Kind entwickeln müssen, um mit Pierre-Yves und seinen Kreisen mithalten zu können.
Aber es gab etwas anderes, das ich besser konnte als Pierre-Yves, und ich spielte es zu meinem Vorteil aus, als sich die Gelegenheit bot.
Das war auf der Welle vor der Lagune der Hermitage, die einen linken Teil hat und einen rechten Teil. Nur der linke kann gesurft werden, der rechte dagegen klappt mit einem Mal und dann insgesamt zu. Die Welle ist schnell und sehr steil und bricht direkt auf dem Korallenriff. Wer dort surft, kann von einer sehr plötzlich aus dem Wasser aufschießenden Wand erfasst und mit der schweren Lippe auf die Korallen geworfen werden. Um das zu vermeiden, ist es am besten, sich zwischen den Teilen zu positionieren, dort, wo eine Lücke im Korallenriff ist, das Wasser von der Lagune hinaus ins Meer strömt und sich die Welle nicht aufbauen kann.
Genau dort waren Pierre-Yves und ich an einem sonnigen Freitagnachmittag. Wir surften zu zweit, ohne miteinander zu reden. Wir waren wirklich keine Freunde. Mich hätte nicht gewundert, wenn Pierre-Yves mir gesagt hätte, er wolle die Welle für sich alleine haben, ich hätte als Anfänger, der ich immer noch war und auch immer bleiben würde, kein Recht, hier zu surfen. Wenn er es gesagt hätte, hätte ich mich daran halten und das Wasser verlassen müssen. Ich kannte die Regeln.
Die Strömung wurde überraschend stärker, wir trieben durch die Lücke im Korallenriff hinaus und waren auf dem offenen Meer. Dort kam uns eine Welle entgegen, die wesentlich größer war als die Wellen, die wir bis dahin gesurft waren. Vielleicht war sie vier Meter hoch, vielleicht fünf. Die Welle brach sich nicht als linker Teil und als rechter Teil auf dem Korallenriff, sondern schob sich als eine durchgängige Wand heran, kippte ihre Lippe über uns aus und schob uns weit zurück in die Lagune. Wir tauchten in dicken Schaumschichten auf und wurden mit der reißenden Strömung sofort wieder hinausgetrieben. Es fiel uns eine zweite Wasserwand auf den Kopf und wirbelte uns in die Lagune zurück. Das geschah noch ein drittes Mal, dabei riss die Leine von Pierre-Yves, sein Surfbrett löste sich von ihm, sprang auf der Welle umher und wurde bis an den Strand getragen. Wieder trieb uns die Strömung hinaus aufs offene Meer. Ich meinte zu Pierre-Yves: „Wir können nicht rein, die Strömung zieht uns immer wieder raus.“
Pierre-Yves sagte nichts.
Ich schaute zu ihm rüber und sah, dass er Schwierigkeiten hatte, sich ohne Brett über Wasser zu halten, er hustete und schluckte, er verschwand im Schaum und kam panisch wieder hervor – es sah aus, als würde er um sein Leben schwimmen. Er rief um Hilfe und schaute mich mit völlig entsetzten Augen an, ging wieder unter, kam wieder hoch, schrie noch einmal „Hilfe!“, hustete und spuckte. Ich verstand nicht, was mit ihm los war, vielleicht hatte er einen Krampf, vielleicht hatte er sich verletzt, vielleicht hatte ihn etwas gestochen, vielleicht hatte ihn ein Hai attackiert. „Hilfe!“, schrie er wieder mit sich überschlagender Stimme und geweiteten Augen: „Ich kann nicht schwimmen!“
Ich paddelte zu ihm hin und wollte ihm helfen, zögerte aber und schaute ihm noch ein wenig zu, wie er dort im Wasser zu ertrinken begann. Er schrie wieder. Er schaute mich völlig verzweifelt an. Ich lag auf meinem Brett und tat nichts. Dann sagte ich: „Ich helf’ dir, wenn ich mit nach Saint-Leu kann.“
Er kämpfte weiter darum, über Wasser zu bleiben. Er versuchte, in meine Richtung zu schwimmen, an mein Brett zu kommen und sich daran festzuhalten. Ich paddelte ein Stück zurück und sagte: „Ich will nach Saint-Leu.“
„Ja, ja“, sagte Pierre-Yves, „Saint-Leu, ja, ja.“
Ich ließ es ihn noch ein paar Mal sagen, und anstatt dass er „Hilfe!“ rief, rief er „Ja, ja.“ Dann paddelte ich zu ihm hin und ließ ihn nach meinem Brett greifen. Er grunzte und spuckte, er war vollkommen außer Atem, er war vollgepumpt mit Angst, er brauchte Minuten, bis er das Brett nicht mehr verzweifelt umklammerte. In der Zeit trieben wir weiter aufs offene Meer. „Wir kommen vielleicht woanders an Land“, sagte ich.
Wir trieben in tiefen Wellentälern und auf hohen Wellenbergen. Ich überließ Pierre-Yves mein Brett und schwamm im Wasser. Wir versuchten, in den Norden zu kommen und den Hafen von Saint-Gilles zu erreichen. Wir paddelten und schwammen eine Ewigkeit und hatten nicht das Gefühl, überhaupt irgendwohin zu kommen. Irgendwann sagte Pierre-Yves: „Wir packen das nicht.“
Aber wir kamen in den Hafen von Saint-Gilles. Es war ein Jetski-Fahrer, der uns fast überfahren hatte. Er nahm uns mit.
Pierre-Yves wurde an dem Tag nicht mein Freund, aber er verschaffte mir einen Platz bei Abasse im VW Bully.
An einem Samstag sollte ich sehr früh über die Hügel zur Zuckerfabrik von Bruniquel hochkommen und beim Haus Nummer zwölf in der Rue du Grand Natte klingeln. Abasse würde sich aus den Armen seiner reifen Liebhaberin lösen und mit dem VW Bully nach Saint-Leu fahren. Sollte ich zu spät kommen, könnte ich gleich wieder nach Hause gehen, warten würde Abasse nicht. Zu spät kommen würde ich allerdings nicht, ich hatte viel zu lange darauf gehofft, nach Saint-Leu zu fahren. Nun war es allerdings noch nicht Samstag, es war Freitag; und am Freitag geschah etwas, was mit Joëlle zu tun hatte.
Von Joëlle wusste ich, dass sie mit ihrer Familie in einem ziemlich heruntergekommenen Haus im Schwemmland von Saint-Gilles-les-Bains lebte. Das war dort, wo die Kröten am größten wurden und in manchen Monaten so laut quakten, dass man sich schreiend unterhalten musste. Es gab dort auch eine kleine Siedlung mit Wellblechhütten, in der illegale Einwanderer von den Komoren lebten, dürre, schwarzafrikanische Männer mit dicken, schwarzafrikanischen Frauen, die sich starkbunte Tücher um die Köpfe und mächtigen Körper wickelten und sich gelbe Erde ins Gesicht rieben. Mir wurde von meiner Mutter gesagt, mich nicht in dieses Schwemmland zu begeben, aber das hätte ich sowieso nicht getan, weil mich dort schon die vielen herumstreunenden Hunde abschreckten.
Über die Leute von den Komoren redete man viel:
Es sei vollkommen unmöglich, jemandem die französische Staatsbürgerschaft zu geben, nur weil er auf französischem Boden geboren worden sei und so weiter. Denn aus diesen dicken, bunt umwickelten, mit gelber Erde im Gesicht herumlaufenden Frauen kamen sehr viele Kinder heraus, und diese vielen Kinder kamen auf französischem Boden heraus und spazierten deshalb als Neufranzosen herum. Als Neufranzosen aber hatten sie nichts Besseres zu tun als im Schwemmland von Saint-Gilles-les-Bains herumzulungern, sich mit Steinschleudern zu bewaffnen und irgendwelche unter Artenschutz fallenden Vögel aus den Palmen zu schießen. Wurden diese Kinder älter, übten sie sich auf den Müllhalden hinter den Wellblechhütten im Kickboxen. Irgendwann kamen sie an die Strände, machten Lagerfeuer und suchten Streit. Das war so ungefähr das, was man über die Leute aus den Komoren sagte. Und das traf Joëlle ebenso. Dabei hatte Joëlle mit diesen Komoren-Familien nichts gemein, abgesehen einmal davon, dass sie mit ihnen das Schwemmland teilte und ihr Haus zusammen mit den Wellblechhütten nach jedem Zyklon im Wasser stand.
Jedes Mal, wenn das der Fall war, kam ein Kameramann von Antenne Réunion auf einem Jetski in die Vorgärten geglitten und drehte Videos davon, wie die Leute das Wasser aus ihren Küchen und Wohnzimmern schöpften und dabei verzweifelt dreinschauten. Der Mann stieg dabei nicht einmal von seinem Jetski runter. Das erzählte Joëlle uns in der Klasse. Auch, dass ihr Vater den Kühlschrank vor jedem Zyklon auf den Küchentisch stellte, weil er im Wasser sonst kaputtgehen würde.
Joëlle hatte mir sehr häufig beim Surfen in Roches Noires zugeschaut. Das war, als ich gerade nach La Réunion gekommen war und noch überhaupt nicht richtig auf dem Brett stehen konnte. Ich benahm mich ziemlich ungeschickt, fiel immer wieder ins Wasser, trat in einen Seeigel, humpelte an den Strand und setzte mich dort hin. Joëlle kam zu mir, sah sich meinen blutenden Fuß mit den darin steckenden Seeigelstacheln an und fragte: „Tut das weh?“
„Wonach sieht es denn aus?“
Joëlle schaute sich jeden einzelnen der Stacheln an und sagte: „Den hier und den kannst du rausziehen, den hier auch. Die anderen musst du drin lassen, wenn du versuchst, sie auszugraben, machst du dir die Haut noch mehr kaputt.“
Es war Guy, der herausbekam, dass ich mit Joëlle geredet hatte, und sofort behauptete, ich würde mit ihr gehen, ihr Vater würde ganz große Stücke auf mich halten und so weiter. Er fragte mich vor allen anderen, ob ich Joëlle beim Wasserschöpfen helfen wolle und sorgte damit für großes Gelächter.
Joëlle hatte auffallend helle, grüne und dann auch irgendwie braune Augen in einem ansonsten dunklen Gesicht. Die Farbe ihrer Augen musste irgendwo aus Europa kommen, anders als die Farbe ihrer Haut. Ich hatte Joëlle einmal mit ihrer Mutter beim Bäcker in La-Saline-des-Bains gesehen. Joëlles Mutter trug einen Punkt auf der Stirn und kleidete sich in indische Gewänder – das Meiste von Joëlle kam wohl aus Indien.
Auch wenn Joëlle schöne und helle Augen hatte, schwärmte ich genauso wie die anderen Jungs für Daniella und Maryse und für ein paar andere der Festlandmädchen, deren Eltern braungebrannt und gutgelaunt waren, in großen Autos vorfuhren, nette Gesellschaften in ihren mit geputzten Lavasteinen schön dekorierten Gärten gaben und auch sonst ein Bild vermittelten, bei dem einfach alles stimmte.
Dann aber wurde Joëlle fünfzehn und verteilte Einladungen für ihre Geburtstagsfeier in der Klasse. Sie drückte auch mir eine solche Einladung in die Hand und fragte mich mit ihren hellen Augen: „Kommst du?“
Joëlles Geburtstagsfeier war genau an dem Samstag, an dem ich mit Abasse und den anderen nach Saint-Leu fahren wollte. Doch auf Joëlles Geburtstagsfeier wäre ich auch so nicht gegangen, dort ging niemand hin, der etwas auf sich hielt. Dann allerdings fiel mir ein, dass ich immer noch nicht genug Surfwachs hatte.
Ich fragte Joëlle: „Kriegst du auch einen Geburtstagskuchen?“
„Eine Torte!“
„Mit Kerzen?“
„Fünfzehn Kerzen muss ich dieses Jahr ausblasen.“
„Hast du Lust, mit mir zu surfen?“
Diese Frage überraschte Joëlle, sie schaute mich mit staunenden Augen und offenem Mund an – beinahe so, als hätte ich ihr einen Heiratsantrag gemacht.
Ich fragte: „Freitag, nach der Schule, in Petit Boucan?“
„Ja!“, sagte Joëlle sofort. Dann sagte sie es noch einmal fröhlich. Und dann noch einmal.
„Ich habe aber kein Surfwachs. Du müsstest ein paar Kerzen mitbringen, es müssen nicht gleich fünfzehn sein.“
„Ich bringe eine mit.“
„Fünf oder sechs wären besser.“
Wir trafen uns am Freitagnachmittag in Petit Boucan zum Surfen.
Der Strand von Petit Boucan liegt ziemlich versteckt hinter Felswänden, durch die ein schmaler Weg führt, welcher am Ende steil hinabfällt und an einem Vorsprung endet, von dem man in den Sand hinunterspringen muss.
Joëlle spazierte mit ihren ziemlich abgelaufenen Plastik-Flipflops vor mir her, war geschickt und schnell und stieß sich nicht die Zehen hier und da an den Felskanten, wie mir das gleich dreimal passierte. Sie trug kurze, etwas ausgefranste Jeans und zeigte Beine, die fest und athletisch waren von den langen Wegen, die sie täglich zu Fuß ging.
Ich sah sie immer morgens, wenn sie zum Collège des Aigrettes ging, sich mit einem Regenschirm vor der Sonne schützte und eine große Zahl Hunde um sich herum hatte. Die Hunde begleiteten sie solange, bis sie auf einen größeren, am Straßenrand liegenden Hundekadaver stießen, verschreckt umkehrten und zurück ins Schwemmland rannten. Weil Joëlle jeden Morgen durch die beginnende Hitze spazierte, kam sie immer etwas verschwitzt im Collège an. Ihr Gesicht glänzte, die bunten Kunststoffblusen, die sie von den Marktständen in Saint-Paul hatte, klebten ihr am Rücken, und den ganzen Tag hindurch roch sie nach Schweiß. Für den Schulbus hatten ihre Eltern kein Geld.
Am Strand gab mir Joëlle ein ganzes Zehnerpack Kerzen. Ich nahm es sofort an mich, tat aber so, als ginge es mir um Joëlle und darum, ihr das Surfen beizubringen. Ich nahm eine der Kerzen, zündete sie an, tropfte Wachs aufs Surfbrett und verrieb die Tropfen mit der ganzen Länge des Kerzenschafts. Bald war der Schaft bis zur Hälfte abgerieben, der Docht lag frei und baumelte heraus. Ich hatte mich so sehr auf das Einwachsen des Surfbretts konzentriert, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie Joëlle sich die Jeans und die Bluse ausgezogen hatte und in einem goldenen Bikini vor mir stand. Er war noch mit goldenen Plastikpailletten verziert und für eine Zirkusnummer besser geeignet als für den Strand von Petit Boucan. Auch war er ihr etwas zu groß.
Ich legte das Surfbrett in den Sand, bat Joëlle, sich mit dem Bauch draufzulegen, und gab ihr Anweisungen, wie sie auf dem Brett liegen und paddeln müsste. Dann gingen wir ins Wasser. Ich schob sie in eine kleine Welle hinein, sie nahm an Fahrt auf und versuchte, aufs Brett zu springen. Das gelang ihr auch, und für einen Moment stand sie. Ich war überrascht, mit welcher Schnellkraft sie aufgesprungen war, ich sah ihre festen Arme und Beine, ihren festen Bauch und die kleinen, hohen Brüste. Nach einigen Metern fiel sie ins Wasser und fluchte energisch – und als sie wieder zu mir zurückgepaddelt kam, sah ich ihre großen und kräftige Hände mit den langen Fingern. Sie versuchte es noch einige Male, ich gab ihr Anweisungen, und jedes Mal, wenn sie wieder aufs Brett gesprungen war und um ihr Gleichgewicht kämpfte, schaute ich ihren Körper an, aus dem intakte Sehnen und gesunde Muskeln schnellten und ihren Willen zum Surfen überdeutlich lebendig machten. Immer wenn sie aufs Brett sprang, hing der goldpaillettierte Bikini-Slip hinten herunter, er war gefüllt mit Wasser und wabbelte und zitterte, bis das Wasser abgelaufen war. Einmal war in diesem Bikini-Slip so viel Wasser drin, dass er herunterrutschte und ein kleines Bisschen von ihrer Pospalte zeigte. Ich begann, ihren Körper immer unverhohlener anzustarren.
Joëlle kam immer wieder zu mir zurückgepaddelt und wartete, dass ich das Surfbrett so herummanövrierte, dass es wieder in Richtung Strand zeigte und in die nächste Welle geschoben werden konnte. Wenn ich das tat, stand ich am Fußende des Surfbretts und starrte über Joëlles helle Fersen hinweg an ihren braunen Beinen hinauf und auf ihren festen Po, so dass ich mir vorzustellen begann, wie das wäre, wenn ich mich jetzt auf sie drauflegen würde und plötzlich ihr Bikini und meine Surfshorts nicht mehr da wären und wir dann draußen auf dem Meer trieben und dort ganz nackt und nur mit ganz wenig Platz auf dem Brett und ich auf ihr drauf … und dann umgekehrt sie auf mir drauf … und so weiter.
Nachdem ich Joëlle noch ein paarmal angeschoben und dabei auf ihren Po gestarrt hatte, meinte sie, sie wolle wieder an den Strand gehen.
Wir setzten uns in den Schatten einer Palme und schauten auf das Meer. „Surfen ist nicht einfach“, sagte ich, „manchmal braucht es Jahre.“
„Das habe ich an dir gesehen.“ Sie wandte sich mir zu, suchte meinen Blick und sagte „Seitdem du nach La Réunion gekommen bist, habe ich mir das hier gewünscht.“
„Was?“
„Dass wir hier nebeneinander in Petit Boucan sitzen und aufs Meer schauen. Warum hast du mich nicht früher angesprochen? Morgen ist mein Geburtstag – ich hatte geglaubt, fünfzehn zu werden, ohne etwas mit einem Jungen gehabt zu haben. Aber noch bin ich nicht fünfzehn. Und jetzt sitzen wir hier zusammen.“
Petit Boucan ist ein sehr kleiner Strand, der sich zu einer unruhigen Meeresstelle hin öffnet. Es gibt hier eine Strömung, die einen rasch erfassen kann und den weiten Weg hinüber bis nach Boucan Canot treibt. Der Strand ist nicht überwacht, und wer hier ins Wasser geht, tut es auf eigenes Risiko. Mehrere Schilder weisen darauf hin. Aus genau dem Grund kommt eigentlich kaum jemand nach Petit Boucan, und wenn doch, dann kommt er, um allein zu sein – oder eben zu zweit.
Ich hatte Joëlle nach Petit Boucan eingeladen, weil ich von niemandem gesehen werden wollte. Ich wollte nicht, dass Guy wieder ein peinliches Gerücht in die Welt setzt und am besten noch den Goldpailletten-Bikini erwähnt. Aber weil Petit Boucan dafür bekannt war, dass man hier weitgehend allein sein konnte, kamen eben auch viele Liebespaare hierhin. Das wusste ich, nur hatte ich nicht mehr daran gedacht.
„Zwischen uns gibt es einen Riesenunterschied“, sagte ich, „und dabei wird es auch bleiben. Danke aber für die Kerzen.“
Ich stand auf, nahm mein Surfbrett und meine Sachen und verließ den Strand. Als ich durch den engen Weg zwischen den Felswänden lief, an die Straße kam und hinunter zum Kreisverkehr ging, dachte ich an ihren Körper, den ich immer unverhohlener angestarrt hatte; und ich stellte mir wieder vor, mit Joëlle nackt auf dem offenen Meer herumzutreiben.
Bevor ich unten angelangt war, drehte ich um, ging die Straße wieder hinauf, den Weg durch die Felswände hindurch und ein zweites Mal hinunter zum Strand.
Als ich vom Felsvorsprung auf den Sand sprang, wandte Joëlle den Kopf, sah mich und stand von ihrem Handtuch auf. Sie trug immer noch diesen goldenen Bikini.
„Kannst du den nicht ausziehen?“, fragte ich sie.
Joëlle schaute sich um. Es war niemand da. „Ziehst du deine Shorts auch aus?“
Ich ging zu ihr hin und küsste sie auf die Wange und auf den Hals und nochmal auf die Wange und dann in Richtung Mund und auf den Mund und dann noch mal auf den Mund und dann mit offenem Mund und so weiter. Dabei verhielt ich mich sehr ungeschickt. Joëlle erwiderte meine Küsse, aber sie verhielt sich dabei genauso ungeschickt. Mit meinen Händen fuhr ich an ihr hinauf und hinunter, glitt über ihre Brüste und schob das Bikiniteil über ihren Kopf. Ihre Brustwarzen waren spitz und hart und standen weit hervor – sie waren ganz schwarz. Dann zog ich Joëlle hinunter auf ihr Handtuch, legte sie hin, schob mich auf sie drauf und begann, sie überall zu befassen. Joëlle zitterte und schwitzte, überall pappte Sand an ihr, auch an ihrem Hals und in ihrem Gesicht. Ich zog ihr den Bikini-Slip herunter, dann zog ich auch meine Shorts aus.
Wenn wir uns doch nur ein wenig Zeit genommen hätten, wenn wir ein wenig nebeneinandergelegen hätten, wenn wir uns ein wenig nah gewesen wären, wenn wir uns das eine oder andere zugeflüstert hätten, uns zum Beispiel Versprechungen für die Ewigkeit gemacht, einen Plan geschmiedet hätten –; von dem Gesagten wäre vielleicht nichts geblieben, geblieben aber wäre ein schöner Moment, den wir gemeinsam erlebt hätten während der verletzlichsten Phasen unseres Heranwachsens.
Aber am Strand von Petit Boucan ist man dann doch nicht völlig allein. Etwas weiter die Straße hinauf gibt es ein Hochhaus, das einen Blick nicht nur aufs Meer bietet, sondern – wenn man in den höheren Etagen wohnt – auch auf den Strand von Petit Boucan. Dort wohnte jemand, der seine Freunde angerufen und ihnen gesagt hatte, sie sollten kommen.
Ich zählte insgesamt drei Männer, die auf den Felswänden standen, Joëlle und mir zuschauten, dabei die Hose heruntergelassen hatten und sich emsig mit der Faust auf den Bauch schlugen.
„Die holen sich einen runter“, sagte ich zu Joëlle.
Aber Joëlle war ganz verwirrt und wusste nicht, wovon ich sprach.
Ich sprang auf, zog meine Shorts an, nahm mein Surfbrett und meine Sachen, lief ins Wasser, paddelte in die Strömung und trieb hinüber nach Boucan Canot.
Joëlle ließ ich mit den Spannern allein.
Ich sah sie erst sehr viele Jahre später wieder.
Am Tag darauf fuhr ich mit Abasse und Pierre-Yves, mit Guy und Simon, und mit Thierry und Bernard die Route Nationale hinunter in die Bucht von Saint-Leu.
Pierre-Yves hatte den anderen erzählt, wie ich an meinen Platz in Abasse’ VW Bully gekommen war. Niemand sprach auch nur ein Wort mit mir.
Wie wir mit dem VW Bully über den letzten Hügel hinüberfuhren und in die Bucht von Saint-Leu kamen, sahen wir, dass die Verhältnisse schlecht waren. Wir fuhren in die Rue de la Compagnie des Indes hinein, bogen auf den direkt am Strand angelegten Parkplatz, stiegen aus, schauten aufs Meer und versuchten, uns die ungünstigen Bedingungen zu erklären.
„Firinga ist noch nicht zurück“, sagte Pierre-Yves.
Die Strömung kam aus Südost statt Südwest, der Wind aus Nordwest statt Nordost – das Meer war unruhig und wirr, schwarze Wasserbuckel hoben und senkten sich, manchmal schwappten kleine Kämme aus ihnen heraus; eine sich aufbauende Welle flachte wieder ab und verschwand in einer anderen, ohne ihr glattes Gesicht gezeigt zu haben, hohl geworden zu sein, ohne rund abzurollen. Nirgends fanden sich große und geeignete Flächen zum Abspringen und Gleiten. Keine der sich auf- und abbauenden Formen hatte auch nur irgendetwas an sich, was jemand als jene legendäre Welle von Saint-Leu hätte bezeichnen können.
Ich schaute eine lange Zeit aufs Meer, und je länger ich das tat, desto mehr erkannte ich aber doch einige sich wiederholende Formen, die, wenn man sie irgendwie hätte verbinden können, vielleicht eine Welle ergaben. Es waren Fragmente, aber sie lagen an den richtigen Stellen. Ganz weit links baute sich das Wasser einigermaßen regelmäßig auf und fiel aufs Riff, und auch direkt vor mir schwoll es an und fiel aufs Riff; und es gab rechts und gar nicht weit vom Strand einen Abschnitt, an dem sich einige Surfer versuchten. Es war ein rascher, steil sich herausschiebender Abschnitt, der sehr schnell wild schäumend und vollständig kollabierte. Wenn man nun diese drei Stellen zusammenfügte, hätte man eine Welle, die sich durch die ganze Bucht von Saint-Leu ziehen und einem Surfer einen endlosen Ritt gewähren würde.
„Das ist die Welle von Saint-Leu“, bestätigte Pierre-Yves mir, „von dort links, weit draußen, bis hierhin, rechts, bis an den Strand.“
Die Stellen links, vor mir und rechts fügten sich aber nicht zusammen. Vielleicht hatte Firinga erneut gedreht und entfernte sich wieder von La Réunion. Und wenn dem so war, dann wäre meine Reise umsonst gewesen. Meine Hoffnung, die Welle von Saint-Leu zu reiten, würde sich nicht erfüllen, nicht jetzt, nicht morgen und vielleicht niemals. Wenigstens würde sich alles um einige Wochen verschieben … Aber das wäre genauso schlimm.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.