Kitabı oku: «Du gehörst mir», sayfa 2

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MITTLERWEILE SIND GUT DREIZEHN JAHRE VERGANGEN. Die Einschätzung kann währenddessen von der Zeit beeinträchtigt sein, aber wenn ich darauf zurückschaue, jetzt, gezwungen durch Verhöre oder einfach aus mir selbst heraus, denke ich, dass Ada ihre geistige Abwesenheit, um es so auszudrücken, in der Zeit abgelegt hat, als sie mit Suze schwanger war.

Damals hat sich eine gewisse Erkenntnis in ihr breit gemacht: eine Freundin ist eine Außenstehende, ein Eindringling, eine, deren Rechte an der Nutzung des Hauses man anfechten kann. Doch mit Suze im Bauch stand sie nicht länger als Ada unter der Dusche oder in der Küche, sondern auch als die Umhüllung meiner Frucht.

Eine Trägerin eines Storkema schickte man nicht weg, ohne nicht zugleich auch ein Familienmitglied vor die Tür zu setzen.

Schritt für Schritt begann die schwangere Ada, unser Haus etwas mehr zu nutzen. Vom Schlafzimmer aus nahm sie allmählich über das Badezimmer, das Treppenhaus, den Flur, die Küche und das Wohnzimmer ihren Teil des verfügbaren Raumes ein.

Eines Tages wollte sie unsere Bettwäsche selbst waschen. «Ja», sagte sie, «warum nicht, ich habe sie doch auch selbst benutzt!» Stundenlang hielt sie die Waschmaschine und den Trockner im Schuppen besetzt. Später erbat sie sich manchmal ein behutsames Mitspracherecht bei den Einkäufen, die wir machten. Dann wollte sie lieber ein Antischuppenshampoo oder ein etwas weniger starkes Mundwasser.

Manchmal staubsaugte sie die Treppe, wienerte die Fliesen im Flur, rückte den Spiegeltüren des hohen Wandschranks mit Glasreiniger zu Leibe. Meine Mutter sah es kopfschüttelnd mit an, die Hände in die Seiten gestemmt.

Jahre gingen vorbei, zogen sich langsam und träge dahin, wir heirateten, die Kinder wurden geboren, Ada trug fortan unseren Nachnamen.

Es ist nicht schwer, Erinnerungen an die Nacht wachzurufen, als Suze geboren wurde, die Nacht und die darauffolgenden Tage wieder vor meinen Augen abzuspulen, die Ereignisse bisweilen schweben, Walzer tanzen zu lassen wie Wein in einem Glas.

Es ist auch verführerisch – ich habe es oft genug getan, hundert Mal, öfter. Trotzdem haben sich die Erinnerungen nach all den Malen des Heraufbeschwörens und Zurücksinkenlassens kaum verändert. Und das sei bemerkenswert, haben die Ermittler gesagt, denn meistens ginge dabei Einiges verloren, wenn man sie oft an die Oberfläche holt. Mit meinem Gedächtnis ist ja auch alles in Ordnung. Ich verfüge über ein gutes Gedächtnis. Das haben sie früher in der Schule schon gesagt. Verfügen. Auf das Wort «Gedächtnis» folgt oft das Wort «verfügen». Alles, was du weißt, gehört dir, alles, woran du dich erinnern kannst.

Auch Friso kam zur Welt, er selbst ist der lebende Beweis dafür, aber von seiner Geburt, dem Blasensprung, den Wehen, der Autofahrt ins Krankenhaus, den Stunden, die wir auf seine Ankunft gewartet haben, seinem Erscheinen selbst, ist mir fast nichts in Erinnerung.

Wenn ich das Ada gegenüber ansprach, wenn ich fragte, an was genau von Frisos Geburt sie sich noch erinnerte, reagierte sie empört. Aber ein paar Stunden später konnte ich sie dann oft wieder mit einem Stapel Fotos am Küchentisch sitzen sehen.

Friso war nicht weniger willkommen als Suze. Daran lag es nicht, daran konnte es auch überhaupt nicht liegen. Er war genauso geplant wie Suze, er füllte genau wie sie ein eigens für ihn in unsere Herzen gegrabenes Loch. Er war ein Junge – und einen Jungen hatten wir noch nicht. Mit ihm fand unsere Familie ihre perfekte Zusammensetzung.

Es war auch nicht so, dass wir ihn weniger lieb gehabt hätten. Ich jedenfalls nicht, das weiß ich so gut wie sicher, und auch für Adas Mutterliebe lege ich meine Hand ins Feuer. An uns lag es nicht. Die Entbindung hat sich uns nicht ins Gedächtnis gegraben, weil wir sie nicht behalten konnten. Das erste Mal in die Schule, das erste Mal allein auf dem Traktor, das erste Mal, dass man von einem Mädchen in De Tangelier angesprochen wird – diese Male behält man gut und wahrscheinlich auch für immer, ohne dass man sich dafür anstrengen muss.

Die ersten Male können sich einen Platz aussuchen, für erste Male ist das ganze Gedächtnis noch frei, aber für zweite und dritte Male ist das Gedächtnis ein Stuhl, auf dem schon jemand sitzt. Der Platz ist vergeben, besetzt von einer früheren Erinnerung.

Ada wuchs und wuchs, sie wurde größer und größer, sie tappte durchs Haus wie ein Nebenprodukt ihrer Schwangerschaft. Ihre Scheide machte mir keine Sorgen, es waren die Knochen, die Hüften, es war ihre Konstitution, die sie angesichts der auf sie einwirkenden Gewalt irgendwie hatte zusammenhalten müssen. Sie hatte immer so zerbrechlich gewirkt, so klein. Aber das ist vermutlich mit jedem Menschen so, den man liebt. Sie schrumpfen vor deinen Augen in Verletzlichkeit – je mehr Liebe, desto verletzlicher.

Aber Ada hielt eine Niederkunft zu Hause für natürlicher als in einem Krankenhaus, wo die Dinge, wie sie es ausdrückte, oft unnötig medikalisiert würden und zu wenig Raum für das Mysterium bliebe, das eine Niederkunft in ihren Augen auch war.

Ich erinnere mich an den Schrei in der Nacht.

Wie sie auf einmal aufrecht im Bett saß, alles nass.

Die Orientierungslosigkeit. Als ob ihre Augen sich scharf stellen mussten.

Ich erinnere mich an die Hebamme, das rasche Telefonat mit dem Hausarzt, das Trara, Ada die Treppe runterzubekommen, und dann doch noch die verspätete Fahrt ins Krankenhaus.

Wären meine Eltern gleich beim ersten Lärm aufgestanden und nach unten gegangen, nach draußen bis zum Zaun, hätten sie uns bis hinter Derksens Haus und sogar noch etwas weiter, bis über den Kreisel links ab auf die Ausfallstraße zur Hauptstraße nachsehen können, die anschließend dreißig Kilometer kerzengerade südwärts zur Stadt führte.

Es wurde kälter, der Winter hatte eingesetzt. Auf den Feldern lag Schnee, eine dünne Schicht, die Welt war eine weiße, stille Fläche, aus der jedes Geräusch vorübergehend entfernt war, auch das von Ada und dem Auto produzierte.

Unten links lag das Brachfeld, wo Rosalinde gefunden werden würde, kaum erhellt von dem künstlichen Licht entlang der Straße. Die Ermittlungsbeamten dachten, ich hätte den Ort nach dem Unglück sicher gemieden. Mich möglichst von dort ferngehalten, weil ich nicht mehr damit konfrontiert werden wollte. Aber die Wahrheit ist, dass ich fast nie irgendein Problem hatte, weil ich immer, wenn ich daran vorbeifuhr, an mein Mädchen dachte und an die Nacht, als sie zur Welt kam.

Da war schon eine Erinnerung vor der Erinnerung an das Unglück, etwas, das früher geschehen war, Suzes Geburt. Das Leben ist stärker als der Tod, jedenfalls in meinem Gedächtnis. Suzes Nacht strahlte durch alles hindurch, was sich davorgeschoben hatte.

Erst wollte sie nicht kommen, das Mädchen steckte im Geburtskanal fest. Nach jeder Wehe schwächte sich ihr Herzschlag wieder gefährlich ab. Zeitweilig war er sogar völlig verschwunden. Die Zeit geht schnell, wenn du auf einen Bildschirm starrst, auf dem der Herzschlag deiner Tochter in Linien und Pieptöne übersetzt wird. Kurze Erholungsphasen im Wechsel mit Sturzflügen. Schnell und langsam zugleich, wie es manchmal heißt.

Irgendwann wurde unser Zimmer von einem medizinischen Team gestürmt, bestehend aus Männern, Frauen und Mädchen. Ein quadratischer Kasten auf Rädern wurde von einer Frau in einem langen Arztkittel hereingeschoben.

Es wurde gearbeitet, geschnitten und gerufen.

Das Wunder wurde spitzköpfig an der Vakuumpumpe zum Vorschein gebracht.

Mit einer Schere schnitt ich das Mädchen von der Mutter. Das Geräusch war anders, als ich es mir vorgestellt hatte, schärfer; ich musste auch mehr Kraft auf die Schere ausüben, als ich erwartet hatte.

Suze musste gewogen und gemessen werden, betatscht, befingert und kontrolliert, in einem Nebenraum. Ada musste hergerichtet und zugenäht werden. Leicht im Kopf und schwankend, als hätte ich zu viel Sauerstoff eingeatmet, wartete ich, bis man mir Suze anvertrauen würde.

Dann lag sie in meinen Armen, in ein Tuch gewickelt, rosarot, fleckig und hilflos. Ich wiegte das Kind, mein eigen Fleisch und Blut, rot, mager, hässlich, lautstark. Mit meinem Herzen und Wesen wiegte ich sie. Schwingen war es eher, ja, schwingen tat ich das Kind, auf meinen Hüften hin und her, und ich legte zum ersten Mal meine Nase auf das Köpfchen meiner Tochter. «Jetzt bist du bei mir», flüsterte ich, «jetzt bist du bei mir.»

4

NACH DEN SCHWANGERSCHAFTEN UND GEBURTEN WAREN ADAS ARME UND BEINE ZWEIMAL SO DICK GEWORDEN. Der Bauch auch, die Brüste quollen fast aus dem BH. Wenn sie nackt war und sich weit vornüberbeugte, zum Beispiel um sich die Zehen abzutrocknen, sah sie von der Seite manchmal aus wie ein Wesen mit sechs Gliedmaßen.

«Früher brauchte ich mich mit nichts vorzusehen», sagte sie. «Aber jetzt?» Sie machte eine hilflose Geste. «Ich brauche ein Mars nur anzuschauen und nehme schon zu.»

«Dann schau halt nicht hin», sagte Mutter.

Die Kinder wurden größer, Ada wurde größer, ich blieb gleich – ich habe immer ein stabiles Gewicht gehalten – und Mutter wurde kleiner. Kompakter. Als ob ihr spezifisches Gewicht zugenommen hätte.

«Beließe sie es nur beim Hinschauen», sagte Vater. Dabei machte er ein Gesicht, als hätte er es schon sehr oft gesagt und als hätte sie nicht auf ihn hören wollen.

Ada setzte sich, behäbiger als zuvor, aber das gehörte dazu.

«Nach zwei solchen Schwangerschaften ist man wirklich nicht mehr dieselbe. Hattest du geglaubt, in einem Frauenkörper würde sich dadurch nichts verändern? Das weißt du doch auch, Tille. Ich konnte doch immer essen, was ich wollte! Gut, das habe ich nicht, natürlich nicht, nein, aber das hatte andere Gründe, darum geht es jetzt nicht. Das weißt du doch auch.»

Ich antwortete ihr nicht, ich fand es nicht schlimm, dass sie gewachsen war, nicht unangenehm. Im Bett konnte ich die Wölbungen riechen, scharf und süß, ich spürte die gestiegene Temperatur des ehelichen Fleisches. «Ada», flüsterte ich, denn alle schliefen schon.

Manchmal stieß ich sie an. «Ada, bist du noch wach?»

Sie ächzte leise.

Ich drehte mich auf die Seite und atmete ihr ins Ohr. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte es Ada Spaß gemacht, wenn wir uns auf dem Bett gegenübersaßen, nackt und mit nur einer schwachen Lampe an, und spielten, wer am längsten die Finger vom anderen lassen konnte. Ich verlor immer, außer wenn ich mich über das Bett zu ihr beugte und ihr sanft ins Ohr atmete. Das hatte ihr immer gefallen, es schien schon wieder eine geraume Zeit her zu sein.

«Du», flüsterte ich, «bist du wach?»

Sie wälzte sich hin und her. «Tille», sagte sie, «ach.»

Ich legte meine Hand auf ihren Bauch, sie war ein Wasserbett aus weißem Fleisch. Die Masse bewegte sich unter meiner Hand, weich und massiv. Einen Nabel konnte ich nicht mehr fühlen, ich fühlte nichts als Fett und Wärme, von einer Form war kaum mehr die Rede.

Langsam glitt meine Hand tiefer. Zu schnell ist nicht gut, außer es ist ein Teil des Spiels. Ich fühlte das Bündchen der Unterhose, den Beginn der scharfen Stoppeln darunter.

«Du», flüsterte ich.

Ich verlangte nicht viel, meine Forderungen waren zu vernachlässigen. Nie schlug ich mit der Faust auf den Tisch, um eine Entscheidung zu forcieren.

Sie zog einen Arm unter der Bettdecke hervor und strich mir über den Kopf. «Tille», sagte sie. «Entschuldige, aber ich bin echt ein bisschen zu müde jetzt.» Es folgte ein Lächeln, leise und beruhigend. «Komm», sagte sie. «Wollen wir nicht einfach schlafen?»

Manchmal stand ich auf, um zugunsten der Nachtruhe im Badezimmer zu onanieren. Den Umständen entsprechend hielt sich meine Haut noch ordentlich. Das Gesicht hing auch noch ganz normal an Ort und Stelle, an seinem ursprünglichen Platz, in der richtigen Höhe, es war noch nicht abgesackt, wie es mit allen Gesichtern geschah, die Jahre zogen sie langsam nach unten – eines Tages sah man keine oberen Zähne mehr, wenn man jemanden anschaute, sondern nur noch untere.

Ich trank ein Glas, ich wollte rauchen.

In den Lichtpfützen der Straßenlaternen tauchten Fahrräder auf, Jugendliche, Jungen und Mädchen, am Wochenende oft noch spät unterwegs, die sofort wieder im Dunkeln verschwanden – später schwebten ihre Lichter langsam an Derksens Haus vorbei.

Ada hatte sich selbst in De Tangelier neben mich gestellt, nicht umgekehrt. In den ersten Jahren hatte sie einen guten Eindruck gemacht, mehr als gut genug, um eine Familie zu gründen, ein Leben, aber jetzt hatte sich ihr Animo verflüchtigt.

Einmal bin ich nach dem Rauchen zurück nach oben gegangen, aber das war auch aus Frustration. «Ada», sagte ich in einem Ton, als ob es mir jetzt langte. «Los, aufwachen. Hierüber haben wir geredet. Das genau ist jetzt das, worüber wir immer reden.»

Es hatte keinen Sinn, sie reagierte nicht.

Eine Ehefrau gibt Sex wie eine Kuh Milch – ein paar Jahre lang, fünf, sechs, und dann ist die beste Zeit vorbei.

Diese Nacht – so habe ich es auch in den Verhören gesagt – bin ich aufs Fahrrad gesprungen. Ich zog mich an, während ich in die Scheune ging, wo es steht, ein schwarzes Modell mit Sattel, Handgriffen und Reifen in Beige. In der Frauenvariante nennt man es auch Omarad; der Name Oparad hat meines Wissens nie Anklang gefunden.

Ich bog sofort in die Dorfstraße ein und fuhr über das Klinkerpflaster ins nächste Dorf.

Ich fuhr in die Felder, kam ins Naturschutzgebiet, das Überlaufgebiet.

Bei klarem Wetter konnte man schon die Stadt sehen, eine große Halbkugel aus orangefarbenem Licht am Horizont, wie eine untergehende Sonne; das Versprechen von Freiwilligkeit.

«Dreißig Kilometer hin und dreißig zurück», sagte der Ermittlungsbeamte. Es war der Anfang eines neuen Verhörs, der Morgen war noch frisch. «Mitten in der Nacht, dazu immer dieser Wind.» Er schaute schnell nach links und nach rechts, als würde er etwas suchen. «Warum haben Sie nicht einfach das Auto genommen?»

«Weil ich Fahrrad gefahren bin», sagte ich. «Ja, tut mir leid, aber das ist einfach die beste Antwort. Ich bin mit dem Rad gefahren. Ich bin ein Radfahrer, ich fahre gern Rad.»

«Hatten Sie Angst, man könnte ihr Nummernschild erkennen?»

«Nein», sagte ich. «Wieso? Warum sollte jemand mein Nummernschild erkennen? Warum sollte ich das nicht dürfen? Zu den Huren zu gehen, ist doch nicht verboten!»

«Wenn man etwas vorhat», sagte er, «das das Tageslicht scheut, kann es manchmal praktisch sein, wenn nicht jeder das Nummernschild sieht.»

«Ich hatte nichts vor», sagte ich. «Nichts anderes als ich schon gesagt habe. Nichts, was nicht erlaubt wäre jedenfalls. Ich fahre gern Fahrrad. Es macht mich ruhig, dann kann ich meine Gedanken ordnen. Echt, eine halbe Stunde tüchtig in die Pedale getreten und man fühlt schon, wie sich das ganze Herz-Lungensystem entspannt. Wenn ich zurückkomme, sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.»

Sie tauschten einen Blick.

«Radfahren», sagte ich. «Das kennen Sie doch?» Ich lachte. «Schwerer Tag, der Kopf ist voll, Ärger, Lärm, nirgends Ruhe im Haus. Dass man mal kurz raus muss, an die frische Luft?»

Ich fuhr überall hin.

Ich radelte über alle Dörfer in der Umgebung.

Zum Asylbewerberheim, und weiter noch an der Dorfkneipe De Dorelaer vorbei – manchmal bin ich dem Wasser gefolgt, bis ich das Watt riechen konnte.

Die Ermittler begriffen nicht, dass es mir um das Radfahren zu tun war. Sie haben darüber gelacht. Der Spott ist mir nicht entgangen, der Sarkasmus, der harte, ausgehärtete Unglaube. Aber sie lachten mit langen Gesichtern, flach und tonlos, als hätte jemand einen Witz gemacht, der bei näherem Hinsehen doch nicht so witzig war.

5

EIN UNGEÜBTES AUGE SIEHT AUF EINER KOPPEL MIT KÜHEN KEINE ORDNUNG. Man muss erst eine Weile mit ihnen arbeiten, bevor man die Verhältnisse zueinander erkennt, die Unterschiede im Verhalten, und allmählich auch entdeckt, dass in dieser augenscheinlich so lahmen Reihe von Tieren, die jeden Tag in dem gleichen fast willenlosen Tempo zur Weide unterwegs sind, tatsächlich so etwas wie eine Hierarchie existiert.

Manchmal möchte man an dieser Rangordnung etwas verändern. Dann läuft es nicht rund, dann geht alles durcheinander. Man kann aber selbst viel dazutun. Man kann einige absondern und sie aus dem offenen Stall gegenüber ein paar Tage den anderen zusehen lassen. Man kann sie in die gewünschte Reihenfolge zwingen, wenn man das will, wenn es nötig ist, was fast nie vorkommt.

In der Schweiz hängen sie den Tieren in solchen Fällen nach dem Winter andere Glocken um. Eine Dame, die etwas weniger vorlaut sein soll, bekommt eine kleinere, leichtere als sie gewohnt ist; eine junge Kuh, noch etwas schüchtern in der Gruppe, bekommt eine große, schwere.

Wieder auf der Weide kommen die Tiere durch den frustrierenden Klangbrei, den sie selbst fabrizieren, aus dem Tritt. Darum arbeiten sie wieder zusammen, sie müssen ja, sonst werden sie verrückt. So wie ich Fahrrad fahre, laufen sie voreinander her. Sie bewegen den Lärm fort, bis er Musik geworden ist.

In der Küche stand jetzt eine tüchtige Frau, eine Mutter, eine Storkema, mit neben sich in derselben Küche noch einer Frau, noch einer Mutter, noch einer Storkema, alt, aber ungebrochen über eine Einkaufsliste gebeugt, die die andere nicht sehen durfte.

«Wollen wir nicht mal Fisch essen?», versuchte es Ada. «Fisch? Ist gesund, Fisch. Jeden Tag Fleisch ist auch nicht gut, oder?»

Ada konnte sich nicht an unser Kalbfleisch gewöhnen, die Tiere taten ihr immer noch leid, obwohl ich ihr erklärt hatte, dass die andere Option für Stierkälber das Vergastwerden war, so wie bei den männlichen Küken von Legehennen. Was sollte man sonst damit machen? So hatten die Kälbchen noch ein kleines Leben, wenn auch nicht viel, und man selbst hatte auch noch etwas davon. Alle redeten immer von den armen Kälbchen, aber über die männlichen Küken verlor keiner ein Wort.

«Nein», sagte sie, «die männlichen Küken, nach denen kräht kein Hahn.» Und sie fing an zu lachen, was ich mir gemerkt habe, nicht wegen des angeblichen Witzes, sondern weil ich zum allerersten Mal sah, dass jemand etwas verstehen und gleichzeitig nicht verstehen konnte.

Mutter gab keine Antwort.

Vielleicht, dachte ich, war das Haus nicht groß genug für zwei Ehepaare – es waren ja auch noch zwei Kinder hinzugekommen. Es gab zu viele Männer im Haus, zu viele Frauen, zu viele Leiber, Gliedmaßen. Jeden Abend gab es Streit um die Fernbedienung.

«Ich wüsste eigentlich auch noch ein paar Auflaufrezepte», sagte Ada, aber Mutter zog schon den Mantel an, nahm ihre Tasche und ging zur Tür hinaus.

Es war Frühjahr, die Zeit von Amseln, Gänseblümchen; die erste Mäharbeit im Jahr. Am Morgen hatte sich eine Kuh aus der Reihe gelöst. Sie schaute mich an, ich schaute zurück. War es Zuneigung? Dankbarkeit?

Manche Leute sagen, Kühe würden die Bauern lieben wie Geiseln ihre Geiselnehmer, aber wenn das stimmt, kann man von Bauern das Gleiche sagen.

Macht das einen Unterschied?

Aufmerksamkeit ist Aufmerksamkeit, Liebe ist Liebe. Wenn Liebe nicht schon aus Abhängigkeit geboren wird, dann stirbt sie darin.

Liebe wird aufgebaut, Tag für Tag.

Vielleicht ist es Vertrauen.

Jeden Tag Aufmerksamkeit, jeden Tag neues Futter, jeden Tag wieder ein nettes Wort. Die guten Erfahrungen stapeln sich. Jeden Tag kommt wieder ein bisschen Vertrauen obendrauf. Die Kuh fühlt sich immer besser bei dem Bauern, je mehr die Zeit voranschreitet. Am letzten Tag vor der Schlachtung ist ihre Liebe dadurch auf dem Höhepunkt.

Das ist das Verrückte, das Widersprüchliche: In dem Moment, wenn die Gefahr am größten ist, fühlen sich die Kühe am sichersten.

Ada kam und stand hinter mir, eine Hand auf meiner Schulter. Ich frühstückte erst dann, wenn die erste Arbeit getan war, wenn ich ruhig sein konnte, was die Arbeit anging, wenn das Haus auch ruhig war. Durch das Fenster sahen wir Mutter ins Dorf radeln, ohne dass sie sich umdrehte oder winkte.

Eine Weile blieb es still.

Ich versuchte zu kauen, ohne Geräusche zu machen; eine Aufgabe, die umso schwieriger wird, je länger man sie durchzuhalten versucht.

«Dieses Haus», sagte sie. «Dieser Tisch allein schon. Wie lange steht dieser Tisch jetzt schon hier?»

«Lange», sagte ich. «Sehr lange. Schon immer, wenn du mich fragst.»

Der Tisch war braun und robust, mit massiven, quadratischen Beinen. Unter diesem Tisch hatte ich einen Teil meiner frühen Kindheit verbracht. Mutter hörte Platten in dieser Zeit, wir hatten einen Plattenspieler. Das Ave Maria am liebsten. Immer das Ave Maria. Ich kenne den Text noch größtenteils auswendig.

Der Tisch würde noch eine Weile halten, wenn man mich fragt. Ihn zu ersetzen, war noch längst nicht an der Reihe.

«Ja», sagte sie, «das meine ich nicht. Ich meine» – sie schaute um sich, betrachtete alles ganz genau, die Fenster, die Fensterrahmen, die Fensterbank, die Tapete, die Lampenschirme und die Kacheln an der Küchenwand – «wann ist an diesem Haus das letzte Mal etwas getan worden?»

Am selben Abend – ich denke, es war derselbe Abend, es kann auch ein paar Abende später gewesen sein – saßen wir nach dem Essen im Wohnzimmer, die Kinder lagen gerade im Bett. Unerwartet stand Ada vom Sofa auf. «Mir kommt auf einmal eine gute Idee», sagte sie. «Ein Wintergarten. Ja, ein Wintergarten. Wir müssten hier eigentlich einen Wintergarten anbauen.»

Sie drehte sich zu uns um und strahlte. «Ja», sagte sie. «Ein Wintergarten, ein Anbau, mit ganz viel Glas, das macht es hier drinnen gleich ein Stück geräumiger.»

Es wurde still im Wohnzimmer, die Stille berappelte sich wieder. Mutter schaute zu Vater.

Vater saß in seinem Sessel vor dem Fernseher, das Bein und den Stumpf ein Stück auseinander, der Bauch musste atmen können, und rieb mit der Hand über die Stelle im luftleeren Raum, wo sich sein linkes Bein befunden hatte, das beinförmige Loch in der Wirklichkeit.

«Für den Wert des Hauses», sagte Ada, «ist ein Wintergarten übrigens auch nicht schlecht. Echt, alle wollen heutzutage einen Wintergarten. Das treibt den Preis gleich in die Höhe.»

«Ja», sagte Vater. «Gute Idee. Was machen wir mit einem Wintergarten?»

Ada ging zu dem Tisch und schob diesen andeutungsweise an die Stelle, wo er in ihrer Vorstellung stehen würde. «Also», sagte sie, «dann kann der da schön stehen, im Wintergarten.» Sie hob den Kopf und lachte. «Stellt euch mal vor, wie viel zusätzliches Licht man dann bekommt.»

«Platz, um den Tisch hinzustellen», sagte Vater. «Platz, um den Tisch hinzustellen. Ja, ich verstehe. Aber dürfte ich dir dann eine Frage stellen? Wo steht er jetzt?»

«Ja», sagte Ada. «Tja.» Sie verstand die Frage nicht ganz, sie verstand nicht, worauf er hinauswollte, was er hören wollte und was nicht – das Einzige, was sie verstand, was sie zu verstehen können meinte, war, dass es sich vermutlich um eine Fangfrage handelte. «Ja», sagte sie leise. «Der Tisch steht hier. Wo er halt immer steht.»

«Genau», ächzte Vater – das beinförmige Loch in der Wirklichkeit hatte sich mit Phantomschmerz vollgesogen. «Der Tisch steht, wo er jetzt steht. Er steht, wo er immer steht, wo er schon stand, als Tille noch geboren werden musste. Aber lass mich dich noch etwas fragen, wenn du gestattest – was machen wir dann mit dem Platz, wo der Tisch jetzt steht?»

«Ja», sagte Ada. «Ja, nichts halt. Der ist dann einfach da, der Platz. Das ist doch gerade schön, das macht es im Haus doch angenehmer. Dass man mehr Luft zum Atmen hat. Zum Bewegen. So groß ist es hier ja wirklich nicht. Wir alle könnten durchaus etwas mehr Raum gebrauchen.»

«Und diesen Raum nutzt du», sagte Vater mit reibender Hand, «wenn ich es richtig verstanden habe, um ihn dir anzusehen. Um dich hineinzustellen. Richtig? Ja, das tust du damit, mit dem neuen Raum, was sonst sollst du damit anfangen. Du stellst dich hinein. Und sonst nutzt jemand anderes ihn, um sich hineinzustellen. Ist es nicht so? Ein Wintergarten kostet an die zwanzigtausend. Zwanzigtausend Euro für etwas zusätzliche Stehfläche. Ist es nicht so?»

«Früher stand hier nie jemand», sagte Mutter. «Es war nicht nötig, sich dort hinzustellen. Warum sollte man sich mitten ins Zimmer stellen? Es gibt doch Sitzmöbel!»

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