Kitabı oku: «Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren», sayfa 9

Yazı tipi:

2.6.1 Gerichtsverfassung

Der Sachsenspiegel betont das friedliche Nebeneinander weltlicher und geistlicher Gerichtsbarkeit. Das Verhältnis von Kaiser und Papst beschreibt Eike von Repgow als gleichrangig und benutzt dafür anschaulich die sog. Zweischwerterlehre. Dabei handelte es sich um ein verbreitetes Bild, um kaiserlich-weltliche von päpstlich-kirchlicher Macht abzugrenzen. Gott hatte danach zwei Schwerter auf das Erdreich gegeben, um die Christenheit zu beschirmen. Nach Eike von Repgow sollten das geistliche und das weltliche Schwert sich gegenseitig unterstützen, wenn der jeweilige Gerichtszwang an seine Grenzen stieß und der eine Herrscher die Unterstützung der anderen Gerichtsbarkeit benötigte. Kaiser und Papst erschienen damit als gleichgestellte oberste Richter, die sich gegenseitige Hilfe schuldeten. Geradezu selbstverständlich enthält der Sachsenspiegel damit auch Vorschriften über geistliche Gerichte. So musste jeder Christ dreimal pro Jahr seine Sendpflicht erfüllen, also das Sendgericht, ein bischöfliches, später allgemeiner ein kirchliches Niedergericht, besuchen. Ebenso war man verpflichtet, am weltlichen Gericht teilzunehmen. Die überkommene allgemeine [<<69] Dingpflicht ist in solchen Gewohnheiten noch erkennbar. Eine hervorgehobene Rolle spielten die Schöffenbarfreien. Es handelt sich um diejenigen, aus deren Reihen die Schöffen erwählt wurden. Schöffenbarfreie sollten alle 18 Wochen am Grafending unter dem Königsbann teilnehmen. Der Graf repräsentierte in dieser Sichtweise die königliche Gerichtsgewalt. Der sog. Bann drückte diese Anbindung aus. Der König selbst war freilich jederzeit dort Richter, wo er sich aufhielt. Wenn er an einen Ort kam, wurden alle Gerichte ledig, teilt der Sachsenspiegel mit. Der König selbst sollte dann über alle Klagen richten, die bereits anhängig waren. An regelmäßigen Gerichten kennt der Sachsenspiegel außerdem noch ein Schultheißending, ein Gaugrafending, ein Bauermeistergericht und andere Gerichte. Die jeweilige Zugehörigkeit richtete sich u. a. danach, ob man modern gesprochen Grundeigentum hatte oder abgabenpflichtig war. Ohne Weiteres konnte die Landbevölkerung aber mehreren Gerichten unterstehen, je nachdem, um welche Lebenszusammenhänge es ging. Neben der räumlichen Abgrenzung der Gerichtsbezirke (Sprengel) kannte die mittelalterliche Gerichtsverfassung eine Vielzahl verschiedener Gerichte, deren Zusammensetzung und Zuständigkeiten sich oftmals überlappten. Diese Vielfalt gab es bis weit in die frühe Neuzeit hinein. Der Aufbau einer klar abgesteckten ordentlichen Gerichtsbarkeit fällt in den meisten Territorien in das 19. Jahrhundert. Die Anbindung an die königliche Gerichtsherrschaft war unterschiedlich ausgeprägt. Je nachdem, in welchem Maße die gräfliche Gewalt den Charakter von Landesherrschaft annahm, wandelten sich die Königsgerichte in territoriale Gerichte. Doch selbst dann blieb die Gerichtsgewalt Gegenstand der Belehnungen und Privilegien. Eine lockere Bindung der weltlichen Gerichtsbarkeit an den König bzw. Kaiser gab es bis zum Ende des Alten Reiches 1806. Nicht zuletzt deswegen ist die Vorstellung von souveränen Territorien vor 1806, wie die ältere Lehre sie verbreitete, reichlich anachronistisch.

Der Sachsenspiegel kannte die überkommene Unterscheidung von Richter und Urteilern (Schöffen). Dazu kam ein Fronbote. Er entstammte nicht den Schöffenbarfreien, sondern war aus den niedriger gestellten zinspflichtigen Leuten zu wählen. Als Gerichtsdiener, in anderen Gegenden Büttel oder Stockknecht genannt, sollte der Fronbote u. a. Vollstreckungsaufgaben übernehmen. Das Gericht tagte unter offenem Himmel und an festen Plätzen. Zum Verfahren, das ausschließlich mündlich stattfand, erschienen die Parteien grundsätzlich persönlich mit ihren Fürsprechern (Vorsprechern). Eine deutliche Unterscheidung zwischen Strafprozess und Zivilprozess war dem Sachsenspiegel fremd. Er kannte in der Tradition der Landfrieden zahlreiche peinliche Strafen für schwere Verbrechen. Die vielfachen Hinweise auf Bußen und Wergelder deuten aber auf das immer noch praktizierte ältere Modell mit seinen Sühnezahlungen hin. [<<70]

2.6.2 Prozessrecht

Das ungelehrte mittelalterliche Gerichtsverfahren war nicht über Jahrhunderte hinweg im gesamten deutschsprachigen Raum gleich. Deutliche Unterschiede zwischen dem städtischen und dem ländlichen Bereich sind klar zu erkennen. Teilweise zeigen sich erkennbare Parallelen und Anlehnungen an das römisch-kanonische Prozessrecht, aber vielfach war das Verfahren von diesen Strömungen auch weitgehend unbeeinflusst. Vor allem in zweifacher Hinsicht wichen beide Modelle deutlich voneinander ab. Zum einen spielte die Schrift im ungelehrten Prozess eine erheblich geringere Rolle als im Verfahren der universitär gebildeten Juristen. Und zum anderen war das Beweisrecht deutlich verschieden beschaffen. In der rechtshistorischen Forschung spielt das Gerichtsverfahren des Sachsenpiegels eine besonders hervorgehobene Rolle. Im Folgenden geht es weniger um die Feinheiten des sächsischen Prozesses als vielmehr um den Idealtyp des ungelehrten einheimischen Verfahrens. Erst im Anschluss zeigt eine Quelle aus dem Sachsenspiegel die komplizierte Gemengelage zwischen materiellem Recht und Prozessrecht sowie zwischen Strafrecht und Zivilrecht.

Der Kampf mit Worten

Das mittelalterliche Gerichtsverfahren war weithin von Mündlichkeit geprägt. Zahlreiche zeitgenössische Rechtswörter entstammen unmittelbar dem Wortfeld „Rede“. So hieß die Klage teilweise „Ansprache“, der Beklagte „Antwortsmann“, der Wortwechsel vor Gericht „Rede und Widerrede“, der Rechtsbeistand „Vorsprecher“. Das Wortgefecht der Parteien haben Zeitgenossen als symbolischen Kampf wahrgenommen. Das römische Wort lis für Rechtsstreit übersetzte die deutsche mittelalterliche Praxis häufig als „Krieg“. Die rechtshistorische Germanistik hat ihre farbigen Schilderungen vom Silbenstechen und Wortgefecht vor Gericht aber oftmals übertrieben und drastisch zugespitzt. Das mündliche Gespräch der Streitparteien vor Gericht war über weite Strecken nicht an Wortformeln gebunden und auch friedlicher, als die romantisierenden Vorstellungen des 19. Jahrhunderts es erscheinen lassen. Die gerichtliche Klage bedeutete einen Vorwurf an den Beklagten, er habe sich unrecht verhalten. Damit war das friedliche Zusammenleben gestört. Wenn man nun auf Gewalt und Selbsthilfe verzichtete und zugleich eine gütliche Einigung scheiterte, war es die Aufgabe des Gerichtsverfahrens, den verletzten Frieden wiederherzustellen. In moderner Begrifflichkeit ging es also weniger um Tatsachenaufklärung oder materielle Wahrheitsfindung als vielmehr unmittelbar um Recht und Unrecht. [<<71]

Der gerichtliche Beweis

Das hatte erhebliche Auswirkungen auf das Beweisverfahren. Nicht derjenige, der eine Klage erhob, war gehalten, seine Vorwürfe zu beweisen. Vielmehr konnte der Beklagte sich gegen die Angriffe verteidigen und mit Beweiskraft reinigen. Dahinter stand die Vorstellung vom Beweis als Vorrecht der einen Seite. Nicht das Risiko zu scheitern, das sich im modernen Recht mit der Beweislast verbindet, prägte das ungelehrte mittelalterliche Rechtsdenken. Der Beweis erschien vielmehr als Chance, die eigene Rechtsposition zu bekräftigen. Ob diese Sichtweise zugleich bedeutete, dass die geforderten Beweise leicht zu erbringen waren, steht nicht fest. Aber in der Praxis lag das Beweisvorrecht wohl oftmals bei demjenigen, für dessen Rechtsposition die besseren Indizien sprachen. Und das war regelmäßig der Beklagte, wenn der Kläger keine stichhaltigen Argumente auf seiner Seite hatte. Die Folge lag auf der Hand: Sprachen überwiegende Gesichtspunkte dafür, dass der Kläger zu Recht das Gericht angerufen hatte, verwehrte man dem Beklagten die Reinigung und gestattete es dem Kläger, den Beklagten zu überführen. Welche Seite den Beweis erbringen durfte bzw. musste, war also eine vorgelagerte und entscheidende Weichenstellung des Verfahrens. Besonders brisant war die Beweisverteilung deswegen, weil die Reinigung des Beklagten üblicherweise durch einen Eid erfolgte. Dieser Reinigungseid bezog sich nicht auf bestimmte Tatsachen, die der Beklagte beschwören sollte. Vielmehr musste er unmittelbar beeiden, dass die erhobenen Vorwürfe nicht zutrafen und er kein Unrecht begangen hatte.

Die Gefahr war unübersehbar. Wer diesen Eid leistete, konnte vor Gericht nie verlieren. Die Verlockung, durch einen Meineid das Verfahren zu den eigenen Gunsten zu wenden, haben die Zeitgenossen durchaus als Gefahr erkannt. In dreifacher Hinsicht bauten sie Hürden ein, um leichtfertige Reinigungseide einzudämmen. Zunächst war der Eid eine Anrufung Gottes, verbunden mit einer bedingten Selbstverfluchung. Wenn als Strafe für einen Meineid die ewige Höllenpein vor Augen stand, mochte dies durchaus disziplinierende Wirkung haben. Deswegen musste der Schwörende bei seinem Eid auch einen Reliquienschrein berühren, um sein Vertrauen zu Gott für jedermann sichtbar zu zeigen. Zweitens gab das Gericht oftmals feste Eidesformeln vor, die der Beklagte nachzusprechen hatte. Auf diese Weise erhielt der Eid zugleich den Charakter eines Gottesurteils. Wenn Gott es zuließ, dass der Beklagte die vorgeschriebenen Worte in der richtigen Reihenfolge wiederholte, war er offensichtlich im Recht. Scheiterte der Beklagte dagegen mit der Eidesformel, hatte Gott ihm die Unterstützung versagt. Drittens durfte der Eidespflichtige regelmäßig nicht allein schwören. Er benötigte vielmehr Eideshelfer, und dies erschwerte die Reinigung zusätzlich. Die Eideshelfer waren nämlich keine Tatsachenzeugen. Vielmehr bestand ihre Aufgabe darin, [<<72] die Redlichkeit und den Leumund des Beklagten zu beschwören. Je nachdem, welcher Vorwurf im Raume stand, benötigte der Beschuldigte mehrere Leumundszeugen. Man sprach vom Eid selbdritt, selbsiebt oder selbzwölft. Schon die Leges barbarorum der fränkischen Zeit kannten unterschiedliche Zahlen von Eideshelfern. Hier schließt sich der Kreis zu den zeitgenössischen Friedensvorstellungen. Derjenige, der vor Gericht verklagt war, stand im Verdacht, durch eine Unrechtstat das friedliche Zusammenleben gestört zu haben. Trat er jetzt gemeinsam mit seinen Eideshelfern vor Gericht auf und reinigte sich, zeigte er damit zugleich, dass er keineswegs ausgestoßen und isoliert, sondern weiterhin sozial integriert war. Er konnte sich auch in schwierigen Situationen auf Freunde und Helfer verlassen. Und genau so jemandem traute man offenbar nicht zu, Unrecht zu begehen. Friedliches Zusammenleben, rechtmäßiges Verhalten und soziale Verwurzelung in der Gemeinschaft lagen nach dieser Auffassung untrennbar nebeneinander. Zu Recht hat man das Gerichts- und Beweisverfahren des Sachsenspiegels daher als Gratwanderung zwischen Indiz und Integrität beschrieben. Wer andererseits als Außenseiter keinen Rückhalt bei Verwandten und Freunden genoss, blieb auch vor Gericht chancenlos. Auch Eideshelfer aus sozial zweifelhaften Schichten und ohne guten Leumund konnten keinen Rückhalt bieten.

Auf einen weiteren Gesichtspunkt hat die Handelsrechtsgeschichte hingewiesen. War etwa ein Kaufmann zu einem Reinigungseid zugelassen und reinigte sich vom Vorwurf, er habe unredliche Geschäfte getätigt, bekam in öffentlicher Gerichtsverhandlung jedermann diesen Schwur zu Ohren. Doch wenn der Verdacht, der Kaufmann habe falsch geschworen und wolle nur seine undurchsichtigen Machenschaften bemänteln, im Raume stehen blieb, verzichtete man vielleicht darauf, mit ihm künftig weiterhin zu handeln. Solche sozialen Sanktionen können durchaus erheblich dazu beitragen, das Verhalten der Beteiligten zu disziplinieren. Die neuere Institutionenökonomik hat im modernen Diamantenhandel ganz ähnliche Verhaltensweisen beschrieben. Auch dort verzichtet man auf den Gang zu staatlichen Gerichten und schließt denjenigen, der gegen die Handelsbräuche verstößt, kurzerhand vom Geschäft aus.

Hier zeigen sich weithin dieselben Verfahrensmuster wie in den ältesten Nachrichten über archaische Rechtskulturen oder in ethnologischen Berichten aus vorstaatlichen Gesellschaften. Der Ausschluss aus der Gemeinschaft stellt eine der frühesten Sanktionen auf Friedensverstöße dar. Ob es sich um die tatsächliche Vertreibung oder um den nahezu zwangsläufigen Rechtsverlust handelte, spielt für den Grundsatz kaum eine Rolle. Das Leben in mittelalterlichen Dörfern, das der Sachsenspiegel vor Augen hatte, war auf friedliches Zusammenleben angelegt. Störenfriede hatten dort nichts zu suchen. Im weiteren Verlauf verengte sich diese Reaktion immer mehr auf Strafsachen. Aus Landfriedensurkunden und Städten ist seit dem 13. Jahrhundert Stadt- bzw. [<<73] Landesverweisung als Strafe belegt. Bis weit in die Neuzeit hinein handelte es sich um ein Grundmuster der Strafrechtsgeschichte. Mit der Verbannung sprichwörtlich dahin, wo der Pfeffer wächst (Französisch Guayana, ursprünglich auf Indien bezogen), haben Kolonialmächte bis ins 20. Jahrhundert hinein diesen Ausstoß aus der Gesellschaft praktiziert. Mit seiner erfolgreichen Reinigung konnte der Beklagte im mittelalterlichen Gerichtsverfahren seinen Platz in der Gemeinschaft behaupten und blieb sozial integriert.

Die eigentliche Entscheidung des Gerichts bestand darin festzulegen, welche Seite den Beweis mit welchem Beweismittel zu erbringen hatte. Die meisten mittelalterlichen Urteile aus dem ungelehrten Prozess sind also Beweisurteile. Zumeist wurde eine Seite zum Eid zugelassen. Ob der Eid dann gelang oder nicht, konnte man bei der mündlichen und öffentlichen Gerichtssitzung unmittelbar sehen. Deswegen benötigte man hierüber nicht noch eine weitere Entscheidung.

Überführung und Gottesurteil

Neben dem Reinigungseid kannte das ungelehrte Gerichtsverfahren verschiedene andere Beweismittel. Urkunden und Wahrnehmungszeugen spielten im Gegensatz zum gelehrten Recht eine erheblich geringere Rolle. Viel wichtiger waren Überführungsbeweise und Gottesurteile. Die Überführungsbeweise waren das Gegenstück zum Reinigungseid des Beklagten. Sie kamen erst dann zum Tragen, wenn dem Beklagten nicht die Möglichkeit offenstand, sich von den Vorwürfen freizuschwören. Der Weg zum Reinigungseid war vor allem dann versperrt, wenn die rechtlichen Angriffe des Klägers von Beginn an als begründet erschienen. Hier waren verschiedene Situationen denkbar. Zunächst konnten der Kläger und andere den Beklagten bei seiner Unrechtstat gestellt haben. Der Sachsenspiegel sprach von der handhaften Tat (Ssp. Ldr. II 35), wenn jemand einen Mann auf frischer Tat oder auf der Flucht ergriff oder wenn der Täter noch gestohlene oder geraubte Sachen in seiner Sachherrschaft (Gewere) hatte. Dann haftete ihm die Tat gleichsam an den Händen. Die Täterschaft des Diebes oder Räubers stand hier von vornherein fest oder war zumindest höchstwahrscheinlich. Ein Reinigungseid schied deswegen aus. Welche prozessualen Handlungen der Geschädigte bzw. der Kläger noch zu erbringen hatte, regelten die mittelalterlichen Rechte unterschiedlich. Vielfach ist überliefert, man habe dem Täter das Diebesgut an den Leib gebunden und ihn so vor Gericht gebracht. Der sog. blickende Schein habe ihn sofort überführt, so dass es gar nicht mehr um den Beweis, sondern nur noch um seine Verurteilung gegangen sei. Möglicherweise galt in solchen Fällen das sog. Gerüfte, wenn der Geschädigte lautstark die frisch begangene Tat ausschrie, bereits als Beginn der Klage. Ganz ohne Klage konnte das Gericht den Prozess nicht beginnen. [<<74] Das bekannte Rechtssprichwort „Wo kein Kläger, da kein Richter“ wurzelt gerade in dieser Regelung des Sachsenspiegels. Die handhafte Tat war nicht nur eine besondere Form der Verfahrenseinleitung. Zugleich eröffnete sie dem Geschädigten lange Zeit hindurch Selbsthilferechte, die zur Zeit der Landfriedensgesetze ansonsten bereits stark beschränkt waren. Er konnte den Täter erschlagen und dann mit einer Klage gegen den toten Mann sich selbst entlasten.

Eng mit der handhaften Tat verbunden war das sog. Übersiebnen des Täters durch den Kläger. Im Sachsenspiegel konnte der Kläger mit sechs weiteren Verhaftungszeugen beweisen, dass er den Beklagten auf frischer Tat ertappt hatte. Später soll sich dieser Überführungseid auf das Verfahren gegen allgemein verdächtige Personen ausgedehnt haben, denen man als landschädlichen Leuten ohne Weiteres die Begehung von Verbrechen zutraute. Die Übersiebnung geriet mehr und mehr zum Leumundseid, gegen den der Beklagte sich nicht reinigen konnte. Der Zusammenhang zwischen Ausgrenzung aus der Gemeinschaft und gerichtlichen Nachteilen ist hier besonders deutlich greifbar.

Brachten die Verwandten und Freunde eines Getöteten die Leiche vor Gericht, sah der Sachsenspiegel die Klage mit dem toten Mann vor. Hier waren wiederum Überführungen möglich und die Reinigung ausgeschlossen. Das Handhaftverfahren und der gerichtliche Prozess verschwammen auf diese Weise ineinander. Mit der Zeit konnte man den Getöteten durch eine Hand, später sogar durch eine Wachsnachbildung ersetzen (sog. Leibzeichen). Auch der Zusammenhang mit der handhaften Tat lockerte sich. Damit standen zwei verschiedene Möglichkeiten offen, das Gerichtsverfahren einzuleiten, die zwei unterschiedliche Beweisverteilungen zur Folge hatten. Das scheinbar starre Beweisvorrecht des Beklagten war auf diese Weise vielfach aufgeweicht, vor allem in Fällen, die man heute als Strafprozess bezeichnen würde.

In besonderen prozessualen Situationen versagte das fein austarierte Modell von Indiz und Integrität bei der Beweisführung. Der Sachsenspiegel nennt ein wichtiges Beispiel. Wer schon einmal wegen Diebstahls oder Raubes überführt wurde, durfte danach bei abermaliger Beschuldigung keinen Reinigungseid mehr leisten (Ssp. Ldr. I 39). In anderen Fällen mochte es unmöglich sein, zwischen dem Beweisantritt des Klägers und der Bereitschaft des Beklagten, sich zu reinigen, zu entscheiden. Im modernen Recht kann der Richter je nachdem, ob die beiderseitigen Vorträge schlüssig und erheblich sind, entscheiden und die Tatsachen in freier Beweiswürdigung beurteilen. Im vormodernen Recht war diese Möglichkeit verschlossen.

Im ungelehrten Prozess gab es nach zeitgenössischer Ansicht womöglich gar kein Recht, wenn nicht jemand seine Ansicht bewiesen hatte. Man konnte das Recht dann nicht finden, wie es teilweise in den Quellen heißt. Doch wenn die Menschen keine Lösung wussten, verließen sie sich auf Gott als obersten Richter, ja als Inbegriff des [<<75] Rechts selbst. Gottesurteile sollten das Patt vor Gericht lösen. Der Sachsenspiegel nennt drei solcher Ordale: die Probe des glühenden Eisens, den Griff in den wallenden Kessel und den Zweikampf. Die dahinterstehende Überlegung war bei allen Gottesurteilen dieselbe. Gott würde demjenigen, der im Recht war, die Stärke geben, das Ordal zu bestehen. Im Zweikampf ging es um Muskelkraft, bei der Eisen- und Heißwasserprobe um die Fähigkeit, brennende Schmerzen zu ertragen. Berühmt wurde der legendäre Gang der Kaiserin Kunigunde über sieben oder neun glühende Pflugscharen. Sie geriet in Verdacht, ihren Gemahl Kaiser Heinrich II. betrogen zu haben. Die Eisenprobe bestand sie ohne eiternde Wunden und bewies damit ihre Unschuld. Zwei Jahrhunderte später sprach sie der große Juristenpapst Innozenz III. heilig (1200). Bei anderen Ordalen musste der Proband einen geweihten Bissen verspeisen. Nun achtete man darauf, ob ihm die Speise bekam oder nicht. Beim Kesselfang ging es darum, Steine oder Münzen aus kochendem Wasser zu fischen. Waren die Verbrühungen nach einer festgesetzten Zeit verheilt und frei von Eiter, galt der Verdächtige als unschuldig.

Zweikampf

Im Zweikampf standen sich die gerichtlichen Parteien dagegen unmittelbar gegenüber. Dies beruhte nicht nur auf einer Entscheidung des Gerichts, sondern konnte bei einer besonderen Prozesseröffnung, der Kampfklage, auch von vornherein vom Kläger geplant sein. Es ging nicht immer darum, den Gegner zu töten, wohl aber, ihn über die Grenzen des Kampfplatzes zu treiben oder zu Fall zu bringen. Eine gewisse vorausgehende Fastenzeit, symbolträchtige Schauplätze und die priesterliche Mitwirkung trugen zu einer denkwürdigen Inszenierung bei. Dennoch war Stellvertretung möglich. Der Sachsenspiegel kannte Berufskämpfer, die gegen Bezahlung Gladiatorendienste im gerichtlichen Duell verrichteten. Auch Berichte über Zweikämpfe zwischen Frauen und Männern sind überliefert. In einem kuriosen Fall erleicherte man der Frau den Kampf und grub den Mann bis zum Bauch ins Erdreich ein. Kaum verwunderlich verhalf Gott dann der Frau zum Sieg. Solche ungleichen Kämpfe, mehrfach bildlich festgehalten, sicherten möglicherweise der Frau den rechtlichen Sieg, wenn man ihr von vornherein zutraute, im Recht zu sein. Doch ob Gott im Ausgang des Ordals wirklich selbst sein Urteil sprach, war bei den Zeitgenossen umstritten. Kaiser Friedrich II., der gebildete Staufer, zweifelte. Vielleicht gewann einfach der Mutigere oder Stärkere und nicht derjenige, der prozessual im Recht war.

Widerstand gegen die Ordale

Die Kirche selbst empfand die Gottesurteile zunehmend als Anmaßung. Sollte sich Gott durch die Entscheidung einiger Schöffen zu einem Eingreifen auf Erden zwingen lassen? Damit hätte die göttliche Allmacht menschlicher Verfügungsmacht offen [<<76] gestanden. Deswegen fasste das von Innozenz III. einberufene vierte Laterankonzil 1215 den Beschluss, die Mitwirkung von Geistlichen an Gottesurteilen zu verbieten. Aber ohne den priesterlichen Beistand ergaben die Ordale keinen Sinn mehr und verschwanden zunehmend. 100 Jahre später kommentierte Johann von Buch die Zweikampfregeln des Sachsenspiegels mit den Worten, sie seien ganz aus der Gewohnheit gekommen. Jetzt gab es freilich unlösbare Beweisschwierigkeiten. Wie sollte man in den schwierigsten Fällen Recht und Unrecht finden, wenn der göttliche Richter schwieg und verschiedene Eidesangebote sich gegenseitig blockierten? Die Kirche unter Innozenz III. durchschlug den gordischen Knoten mit einem mutigen Schnitt. Sie untersagte fortan die Reinigungseide schlechthin. Wenn es Vorwürfe gegen Geistliche gab, sie hätten ihr Amt missbraucht, sollten sie sich nicht einfach freischwören können. Vielmehr wollte man prüfen, ob an den Beschuldigungen etwas dran war.

Der Weg zum Tatsachenbeweis

Genau hier lag der Ursprung einer umstürzenden Rechtserneuerung. Die sog. irrationalen Beweismittel wie Leumundseid und Gottesurteil besaßen durchaus ihren Sinn. Aber es ging in dieser Art von Verfahren nicht um die Wahrheit vergangener Tatsachen. Das änderte sich nun. Zunächst begrenzt auf den kanonischen Prozess vor geistlichen Gerichten, auf strafbare Handlungen und damit auf Vorformen des Inquisitionsverfahrens lag hier der Ansatzpunkt für eine grundlegend andere Auffassung von Recht und Gericht. Es ging nicht länger um Reinheit oder Unreinheit, um soziale Integration oder unmittelbar um Schuld und Unschuld. Vielmehr kam es darauf an, die von den Streitparteien vorgetragenen Behauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Damit erhielten alle Verfahrensbeteiligten neue Aufgaben. Die Parteien waren gehalten, Tatsachen vorzutragen und rationale Beweismittel zu bemühen. Die Rechtsbeistände brauchten nicht mehr länger als Fürsprecher Formeln vorzusagen, sondern konnten sich auf die rechtliche Beratung ihrer Mandanten konzentrieren. Die Urteiler mussten nicht lediglich Eide zuweisen, sondern den Fall abschließend entscheiden. Der Wandel, der von den kirchlichen Reformen ausging, erstreckte sich über einen Zeitraum mehrerer Jahrhunderte, setzte sich zuletzt aber allerorten durch. Das war der entscheidende Schritt zu einem modernen Prozessrecht (vgl. Kap. 2.9). Die wesentlichen Grundsätze des heutigen Gerichtsverfahrens haben damit weit zurückreichende Wurzeln im mittelalterlichen römisch-kanonischen Prozessrecht. Die freie Beweiswürdigung, also die richterliche Möglichkeit, Tatsachen ohne vorgegebene Beweisregeln nach eigener Überzeugung für wahr oder falsch zu halten, folgte allerdings erst Jahrhunderte später (vgl. Kap. 2.8.1). Doch auch sie reicht in einzelnen Gesichtspunkten in die gelehrte mittelalterliche Diskussion zurück. [<<77]