Kitabı oku: «Das Veteranentreffen», sayfa 3

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Ich hatte alte Fotos und Filme gesehen, Krankenberichte analysiert und dabei gefunden, dass die Konfrontation mit einem Zeitungsfoto einige Jahre später unvermittelt den Eindruck erzeugen konnte, man habe den Betreffenden nicht nur aus der Ferne, sondern auch persönlich gekannt. Tschernenko zum Beispiel, die Hinfälligkeit seiner Gebärden, kurz bevor er – so das öffentliche Bulletin – einem Lungen- und Leberleiden erlegen war, die Art, wie man ihn stützen und aus dem Zimmer geleiten musste, hatte mir beim ‘Anblick alter Fotos noch Monate später das Gefühl vermittelt, er sei ein guter alter Bekannter gewesen …

Ich fragte mich, was diese Assoziation – von Lederfett und russischen Politikern – so plötzlich wachgerufen haben könnte – vermutlich die nachtschlafende Stunde –‚ und strich mir leicht verwirrt mit den Fingerspitzen über die Stirn.

Dann zog ich den Gürtel meines Morgenrocks enger und machte mich auf den Weg in die Hotelhalle.

Asch stand am Treppenabsatz, als er mich erblickte. Seine vorgebeugte, krumme Valentingestalt unter dem weiten Mantel erinnerte auf bizarre Weise an eine Vogelscheuche – so ausgehöhlt und klapprig, dass sie nicht einmal mehr die Stare ganz ernst nehmen würden.

Aber sein Blick zeigte noch immer jenes besessene, ja fast schon hasserfüllte Brennen, das einem signalisierte, man nehme sich besser vor ihm in Acht. Ich fand seine Lider noch ein wenig geröteter als sonst. Die Augen eines Wahnsinnigen.

Er verzog nicht einmal das Gesicht, sondern deutete nur stumm zum ersten Stockwerk. „Kommen Sie, Frank, da hinauf …“

Die erste Tür im Gang war ein Besprechungszimmer. Fünf, sechs hölzerne Stühle, im Halbkreis aufgestellt, an der Wand dahinter ein kahler Tisch.

„Ich werde morgen nach dem Frühstück eine historische Ansprache halten“, eröffnete er mir, kaum dass wir uns gesetzt hatten. „Sie sollen der erste sein, der davon erfährt. Erinnern Sie sich noch an unsere Nacht auf dem Bahnhof Friedrichstraße? Damals vertraute ich Ihnen an, die Welt dürste nach Verständigung. Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit statt Kaltem Krieg. Glasnost, Transparenz und so weiter …?“

„Ja, ich erinnere mich.“

„Nun ist es so weit, Frank.“

„Es ist so weit? Was meinen Sie?“

„Ich brauche Ihre Hilfe, Frank.“

„Gern – wenn ich meinem guten alten Freund Asch einen Gefallen tun kann?“

„Tun Sie’s lieber im Namen der internationalen Verständigung.“

„Meinethalben auch im Namen Albert Schweitzers oder Mutter Theresas. Aber was, zum Teufel, soll ich tun? Worum geht es eigentlich? Sie wissen, dass ich von all dem Verständigungsgesäusel nie viel gehalten habe, Karl? Irgendein kluger Kopf hat mal vorgeschlagen, mehr Kriminalromane zu lesen, weil uns das dazu brächte, unsere schwarzen Phantasien zu kontrollieren. Die Politiker ändern sich nicht. Nach wie vor lesen sie zu wenig Horrorgeschichten – und setzen lieber selber welche in Szene.“

„Ja, Sie sind der alte Zyniker geblieben, Frank.“ Er nickte bekümmert. „Ein kalter Krieger ohne Schwert. Es hat Ihnen noch immer mehr Vergnügen bereitet, die paar positiven Impulse in den Dreck zu ziehen, die große Taten beflügeln, als auch nur einen davon zu unterstützen oder zu bestärken. Aber diesmal bitte ich Sie als Freund.

Sie sind Experte für Verhörfragen. Sie verstehen es wie kein anderer, Geheimdienstberichte zu analysieren. Und vor allen Dingen: Sie sind Mediziner.“

„Ehrlich gesagt – vielleicht ist es ja nur die vorgerückte Stunde“, erwiderte ich und massierte blinzelnd meine Schläfen mit den Fingerspitzen, „aber Ihre Ausführungen überfordern mich etwas.“

„Ja, natürlich. Ich habe Ihnen noch gar nicht gesagt, weswegen wir hier sind.“

„Man munkelt viel darüber, aber keiner weiß Genaues. Bertrand behauptete, es sei das dickste Ding seit Kaisers Zeiten?“

„Dieser Bertrand, ja, ja …“, meinte er versonnen. „Neigt immer zu Übertreibungen. Aber ein wenig ist schon dran an dem, was er sagt, Frank.

Haben Sie jemals darüber nachgedacht, was mit dem Wissen alter ausgemusterter Geheimdienstler passiert?

Einige sind verbrannt, andere verlassen den Dienst, weil sie die Altersgrenze erreicht haben. Wegen Schwerhörigkeit, Herzschwäche oder weil die Augen nicht mehr mitmachen. Und die Nerven natürlich. Sie gehen in Pension und sind zum Schweigen verurteilt, aber jeder Journalist würde sich nach ihren Informationen die Finger lecken.“

„Na und?“, fragte ich.

„Das alte Wissen, Frank … es ist nicht wert- oder bedeutungslos. Einst wurde damit Politik gemacht.“

„Schnee von gestern“, sagte ich.

„Nicht immer, Frank. Manchmal, ja. Aber es gibt genug, das erst auszuloten wäre. Diese Leute sind schließlich Geheimnisträger. Man hat ihnen Auflagen erteilt, die sie zum Schweigen verpflichten – aber was, wenn jemand käme und ihr altes Wissen als Kapital betrachtete?“

„Ehrlich gesagt, Karl, ich verstehe noch immer nicht, worauf Sie eigentlich hinaus wollen?“

„All die alten, nutzlos dahinvegetierenden Knaben könnten ihre Kenntnisse, ihre früheren Kontakte und Beziehungen in die Waagschale werfen.“

„Und wozu, Karl?“

„Um ein wenig Glasnost in die Ost-West-Politik zu bringen.“

„Glasnost, aha.“

„Und um Druck auszuüben. Um durch gezielte Informationen Politik zu machen. Im guten, im besten Sinne, Frank.

Die gegenwärtige Situation ist besonders günstig dafür. Nie standen die Zeichen der Zeit so deutlich auf Verständigung und Abrüstung wie jetzt. Niemals vorher seit dem Zweiten Weltkrieg gab es so viel Bereitschaft, den Karren aus dem Dreck zu ziehen.

Was, wenn wir dabei ein wenig nachhelfen, Frank? Wenn wir die Erzkonservativen, die Renegaten und Desillusionierten, die Bremser und ewig Gestrigen im rechten und linken Lager ein wenig auf Trab brächten?

Würde uns das keinen Platz in der Geschichte sichern, Frank? Das wäre doch eine lobende Erwähnung wert?“

Ich kramte in der Tasche meines Morgenrocks nach einem von ‚Mayers sauren Krümeltürken’, zündete ihn an und blies den Rauch gedankenverloren zum Fenster … Also darauf war Asch aus: Von seiner eigenen Bedeutungslosigkeit erfüllt, trieb es ihn jetzt kurz vor Toresschluss dazu, sich ein wenig bemerkbar zu machen, Spuren zu hinterlassen. Wenn ich richtig sah, hatte er weder Frau noch Kinder. Sein Werk würde alles sein, was blieb. Asch als historische Gestalt, als heimlicher Lenker der Politik …

„Die lange Enthaltsamkeit vom Dienst scheint Ihnen gar nicht gut bekommen zu sein, Karl“, sagte ich so vorsichtig wie möglich.

„Keinem von uns bekommt so etwas gut, Frank. Ausgeschlossen zu sein, mit dem Rücken zur Wand und vor Ihnen nur noch das Altersheim. Weder Ihnen noch mir.

Sehen Sie sich doch diese wandelnden Leichname an. Ordenbehängte Haudegen, bewährte Kämpfer von einst, die jetzt ihr Gebiss in den Schubladen verlegen.

Werden vergesslich. Grübeln über ihre Hämorrhoiden und Verdauungsbeschwerden nach. Weicher Stuhlgang? Harter Stuhlgang? Und ob die Stationsschwester ihnen das Taschengeld kürzen darf. Wer will schon ein so bedeutungsloses Pensionärsdasein führen?“

„Und wie?“, fragte ich. „Wie wollen Sie das bewältigen, Asch?“

„Indem wir einen Klub gründen, Frank – den Klub der Veteranen, der die politische Erneuerung auf seine Fahnen geschrieben hat. Ein bisschen Indoktrination muss natürlich schon im Spiel sein. Moralische Aufrüstung, wenn Sie so wollen. Falls Ihnen der Ausdruck nicht zu hochgestochen vorkommt.“

„Ist das wirklich Ihr Ernst?“

„Mir war es nie ernster mit irgendetwas, Frank.“

„Ziemlich riskant, oder?“

„Weil wir viele Feinde haben? Ja. Wir werden im Verborgenen arbeiten müssen. Und über Mittelsmänner agieren.“

Ich dachte nach und versuchte auf den Punkt zu kommen, ohne ihn durch das Wort ‚Erpressung’ unnötig herauszufordern. „Sie wollen Politiker mit vergangenen Verfehlungen unter Druck setzen, nicht wahr?“

„Mit allem, was Erfolg verspricht, Frank. Nach dem Motto:

‚Entschuldigen Sie die Störung. Aber Sie erinnern sich sicher eines gewissen Vorfalls damals in den Zeiten des Kalten Krieges?’ Sieht man sich an, was seit dem Zweiten Weltkrieg hinter den Kulissen getrieben wurde – und wer wüsste darüber mehr zu sagen als wir? Man braucht das alte Wissen nur zu aktivieren, Frank –, dann müsste ein großer Teil der bekannten Geschichte neu geschrieben werden. Daran haben wir natürlich kein Interesse. Die Geschichte den Historikern.

Wir wollen nur, dass man sich all der schäbigen kleinen Klüngel, der Komplotte und Einflussnahmen erinnert, der Gefälligkeiten, des Stimmenkaufs, der Rücksichtnahme auf Parteifreunde und politisch Gleichgesinnte – dass man uns gegenüber jetzt die gleichen politischen Konzessionen macht, wie andere einst, die damals klein beigeben mussten.“

„Hm … gar nicht mal so übel, Ihre Idee, Karl. Vielleicht funktioniert’s ja sogar. Eine Zeit lang, meine ich. Ich frage mich bloß, wie Sie das mit den Fahnen der moralischen Erneuerung vereinbaren wollen?“

„Vergleichen Sie’s ganz einfach mit dem Klaps aufs Hinterteil, den Ihnen ein wohlmeinender Erziehungsberechtigter versetzt. In der Erziehung geht’s nun mal nicht immer friedlich und mit sanften Mitteln zu.“

„Und wie wollen Sie das Ganze finanzieren? Dazu braucht man Mitarbeiter und Büros, Datenbanken. Vom Telefon bis zur Portokasse, von kleinen Gefälligkeiten und Schmiergeldern gar nicht zu reden – das alles wird ein Vermögen kosten.“

„Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Frank. Wir haben großzügige Förderer gefunden.“

„So? Und wen, wenn ich fragen darf?“

„Darüber möchte ich jetzt nicht sprechen.“

„Wer so lobenswerte Absichten hat, der sollte sich nicht verstecken müssen, Karl.“

„Von verstecken kann gar keine Rede sein“, sagte er aufgebracht. „Gegenwärtig konstituiert sich hier in Berlin eine Stiftung für Ost-West-Verständigung, die unsere Arbeit finanzieren wird. Ich möchte nicht in laufende Verfahren eingreifen. Das würde bei den Stiftungsmitgliedern und Förderern nur zu Irritationen führen.“

„Und Bertrand? Sie haben Bertrand doch sicher eingeweiht, Karl?“

„Er weiß nicht mehr als Sie. Noch bin ich zum Schweigen verpflichtet. Ich möchte, dass Sie den Dritten im Bunde spielen, Frank. Als Triumvirat könnten wir es schaffen – Sie, Bertrand und ich. Was halten Sie davon?“

„Ich werde darüber nachdenken.“

„Wir fangen übermorgen mit den Befragungen an. Lassen Sie den alten Knaben noch ein paar Tage Zeit, um sich einzugewöhnen. Vorträge, gesellige Abende, gutes Essen und Trinken, in Erinnerungen schwelgen – das wird sie bei Laune halten. Ich habe ein paar hübsche Einlagen arrangiert, Überraschungsgäste.“

„Und so ganz nebenbei …?“

„Nein, gezielt, ganz offen. Mit Hinterm-Berg-Halten ist uns nicht gedient. Man muss sie ausdrücklich für die Sache gewinnen, Frank. Sie werden nicht so ohne Weiteres mitarbeiten wollen. Zu Anfang vielleicht. Wenn die Wellen der Begeisterung hochschlagen … aber dann? Das Gefühl, nicht mehr bloß zum alten Eisen zu gehören, wird sich schnell abnutzen. Deshalb gründen wir einen Verein mit eindeutigen Zielsetzungen. Die Aufgabe jedes einzelnen Mitglieds ist klar definiert. Jeder hat seine Rechte und Pflichten.

Oberste Pflicht ist die Preisgabe aller Informationen.

Uneingeschränkt, Frank – ohne Wenn und Aber. Wir brauchen von jedem einzelnen verwertbare Informationen, die sich in konkrete Politik umsetzen lassen. Das wird nicht so ganz leicht sein. Viele lange, vielleicht sogar quälende Stunden, die mehr Verhören als wohlmeinenden Gesprächen gleichen dürften.“

„Und wenn die Sache auffliegt?“, fragte ich. „Wenn einer aussteigt und redet?“

„Unsere Absichten sind nicht unmoralisch, Frank.“

„Aber die Methoden, nicht wahr?“

„Was wir mit ihren Informationen machen – wie wir sie einsetzen – ist unsere Sache. Und glauben Sie wirklich, dass einer von denen seine alten Kameraden vor der Presse so leichten Herzens bloßstellen wird? Sie der Geheimbündelei bezichtigen? Dazu überblicken sie auch das Ganze gar nicht.“

Drittes Kapitel

KLUBGRÜNDUNG

1

Ein Blinder, der in einem stockfinsteren Zimmer nach Dingen sucht, die nicht existieren, hätte mein alter Freund Richards gesagt. Aschs Sendungsbewusstsein musste irgendwann so weit abgehoben haben, dass seine Zehenspitzen schon längst nicht mehr den Boden der Realität berührten, dachte ich, während ich mich ins Bett zurücklegte.

Nun gut, damit konnte ich leben. War schließlich sein ganz persönliches Problem, was er aus seinen verrückten Einfällen machte.

Ich saß an der Quelle, ich hatte das Privileg, alles aus nächster Nähe verfolgen zu können – als das eine Drittel des Triumvirats. Sicher gibt es wenig Unterhaltsameres als einen Haufen Verrückter mit moralischen Prinzipien.

Irgendwann in der Nacht wurde ich vom Lärm des unter mir auf das Wellblechdach trommelnden Gewittergusses geweckt. In diesem Teil der Stadt schien endgültig die Regenzeit angebrochen zu sein, die lange, melancholische Zeit voller Dunst und Düsternis.

Da ich nicht mehr einschlafen konnte, spülte ich mir den Mund mit einem halben Glas stark verdünnter Zahnpasta aus, zog mich an und ging hinunter, um ein wenig Hotelluft zu schnuppern.

Die Halle war leer, aber vor dem Eingang – draußen im Nieselregen auf den unebenen Plastersteinen der Zufahrt – saß Lothar Laflöhr und meditierte im Schneidersitz, die Arme abgespreizt, seine Handflächen dem Regen zugekehrt.

Ich musterte ihn eine Zeit lang durch die regenverschmierten Scheiben. Sein Oberkörper war nackt. Er trug eine helle, grobe Leinenhose, die völlig durchnässt war, und neben ihm auf dem Pflaster lag sein Zwicker.

Nun gut – auch damit konnte man leben!

Als ich eines der beiden Frühstückszimmer passierte, hörte ich drinnen Stimmen. Jemand sagte: „Sander wird sich kaum auf ein so dubioses Unternehmen einlassen.“

Darauf die Antwort: „Warten wir’s ab. Ich sage schon jetzt: Bei der Sache werden sich schnell Fraktionen bilden. Dann kommen die Macht-, die Diadochenkämpfe. Und Sander ist noch das Beste, was uns in so einem Verein passieren kann. Er hat Erfahrung.“

Ich ging weiter – nicht weil es mir peinlich gewesen wäre, eine so wohlmeinende Einschätzung meiner Person zu hören –‚ sondern weil sich unten im Gang eine Tür öffnete. Für halb vier Uhr morgens bemerkenswert viel Betrieb. Bertrand betrat in Begleitung Elviras die Szene, und ich brachte es gerade noch fertig, mich mit einem nervösen Sprung in eine Schranknische zu retten.

Als sich ihre Schritte näherten, verstummten auch die Stimmen im Frühstückszimmer: Ich trat – den Rücken zum Gang – noch tiefer in den Schatten. Doch das bewahrte mich nicht davor, entdeckt zu werden.

„Frank …“, sagte Elviras Stimme neben mir. „Um Gottes willen, ist Ihnen nicht gut? Sollen wir den Arzt rufen?“ Dann legte sich Bertrands schwere, feuchte Affenhand auf meine Schulter.

„Bin selber Arzt, falls Ihnen das entgangen sein sollte“, meinte ich verdrießlich.

„Kommen Sie, lassen Sie uns einen kleinen Spaziergang durch den Park machen. Sauerstoff und Bewegung. Das bringt Sie wieder auf die Beine.“

„Ich glaube nicht, dass ich …?“

„Wir haben mit Ihnen zu reden.“

„Ja, zu reden“, bestätigte Bertrand.

„Außerdem regnet es“, wandte ich ein.

„Gehen wir doch ins Gartenhäuschen, da sind wir vor dem Regen geschützt“, schlug Elvira vor.

Das Gartenhäuschen war ein auf dünnen hölzernen Säulen ruhendes Spitzdach, in dessen Gestühl ein leerer Vogelkäfig hing. Am oberen Ende der beiden Holzstufen standen zu einem Dreieck angeordnete eiserne Parkbänke.

Elvira steuerte mit entschlossener Miene darauf zu. Ich setzte mich so in die Mitte, dass Bertrand mit dem Platz links außen vorlieb nehmen musste. Er registrierte es schnaufend und mit allen Anzeichen bohrenden Ärgers; vermutlich hatte er sich wie jeder ernstzunehmende Mensch auf der Stelle in Elvira verliebt.

Ich nahm ihre Hand und fragte: „Also?“

„Ein klares Ja oder Nein, Frank – das ist alles, was wir von Ihnen wollen.“

„Und wozu, wenn ich fragen darf?“

„Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind.“

„Also wirklich … ich weiß nicht …?“

„Haben Sie nun versucht, unser Gespräch zu belauschen, oder nicht?“

„Ganz im Gegenteil, ich wollte nur unbemerkt bleiben.“

„Der Lauscher an der Wand …“, sagte sie und drohte scherzend mit dem Zeigefinger. „Glauben Sie, es sei möglich, einen Menschen so zu töten oder zum Schweigen zu bringen, dass es wie eine ganz gewöhnliche Erkrankung aussieht? Ich frage Sie als Experten, als Arzt.“

„Nun … das ist nicht gerade mein Fach – damit habe ich mich noch nicht näher beschäftigt“, erwiderte ich verblüfft. „Aber was in aller Welt bringt Sie denn bloß auf so abwegige Spekulationen?“

„Wir unterhielten uns über neuere Entwicklungen in der Politik, Frank. Bemerkenswert viele bedeutende Politiker sind unerwartet schnell verstorben. Herzattacken, Lungenleiden. So etwas dürfte doch rechtzeitig zu diagnostizieren sein, oder? Erst recht bei Persönlichkeiten, die in der Öffentlichkeit stehen. Ich meine: beim gegenwärtigen Stand der Medizin? Gestern, während des Essens, äußerte jemand den Verdacht, Alfons Zapata, der mexikanische Revolutionspolitiker, sei nicht einfach nur so einer Leberinfektion erlegen. Dahinter stecke mehr. Seine politischen Gegner – verstehen Sie?“

„Ehrlich gesagt, nein.“

„Gütiger Himmel, sind Sie wirklich so naiv?“

„Wer verbreitet denn solchen Unsinn?“, fragte ich.

„Sie haben schon verstanden, Frank.“ Elvira entzog mir ihre Hand, und ich roch ein wenig von dem Parfüm, mit dem sie vergeblich versuchte, die Verlockungen ihres körpereigenen Hormons und die Anstrengung ihrer Achselhöhlen durch ein schales Industrieprodukt zu ersetzen.

Die frühe Morgenstunde schien Elviras Anziehungskraft noch zu verstärken. Meine Begierde nahm seltsame Proportionen an. Erst ein kräftiges Knurren ihres leeren Magens riss mich wieder in die Wirklichkeit zurück.

„Was ist los mit Ihnen Frank?“

„Wir sind alle ganz verrückt nach Ihnen, Elvira. Sehen Sie sich bloß Bertrands seibernde Lippen an. Ich glaube, Asch hat Sie eingeladen, um etwas Schwung in den Laden zu bringen – um uns allen den Kopf zu verdrehen?“

„Wenn Sie wollen, gehen wir alle rauf in mein Zimmer und vertreiben uns die Zeit mit ‘nem flotten Dreier?“, meinte sie. „Ernsthaft, Bä-ä-r-tra-nd! – brächten Sie das fertig? Ich meine, wozu ist Ihr Rohr sonst gut?

Sie müssen sich nur darauf gefasst machen, dass mein Zimmer wie eine Scheune voller Seegras riecht. Scheint schon seit ein paar Jahren nicht mehr gelüftet worden zu sein. Aber die Matratze ist in Ordnung.“

Bertrand musterte sie ungläubig, die personifizierte Fassungslosigkeit. Sein Blick wanderte zwischen mir und Elvira hin und her, als hätten wir ein entsetzliches Komplott gegen ihn in Szene gesetzt. „Danke“, murmelte er schließlich. „Ein andermal vielleicht. Ich bin leider zum Frühstückmachen verdonnert – Büfett und so weiter. Karl hat nicht genug Personal angemietet, um den Laden zu schmeißen. Außerdem ist um zehn Uhr Klubgründung.“

Damit verschwand er, nicht ohne mir einen Blick zuzuwerfen, der bedeuten sollte: Ich krieg dich schon noch zu fassen, Frank Sander. Und dann gnade dir Gott!

„‘n bisschen arg altmodisch, unser Bertrand, was, Frank?“

„Sie hätten ihn nicht so vor den Kopf stoßen sollen, Elvira. Die Gefühle alter Kerle sind was Kostbares, man muss pfleglich mit ihnen umgehen.“

„Er klebt seit gestern Abend an mir. Wie am Fliegenfänger, Frank. Als ich heute Morgen meine Zimmertür aufmachte, stand er mit einem Besen davor. Ich glaube, er hat die ganze Nacht den Korridor gefegt und darauf gewartet, dass ich meine Schuhe vor die Tür stellen würde.“

„Um sie zu putzen?“

„Er hatte Lappen und Bürste dabei.“

„Ja, er ist sehr ordentlich, der geborene Lakai. Als er noch die Berliner Sektion leitete, achtete er immer streng auf die Kleidung seiner Agenten.“

„Mehr als auf die Strategie seiner Gegner, Frank.“

„Es war eine jener zahllosen Marotten, die ihm schließlich das Genick brachen.“

„Haben Sie schon gehört, welche Aufgabe Asch ihm bei unserem Treffen zugedacht hat?“

„Nein, welche?“

„Er ist sein Stellvertreter.“

Ich betrat den Frühstücksraum mit gemischten Gefühlen. Die Atmosphäre knisterte vor Erwartung wie zur Weihnachtsbescherung einer vielköpfigen Familie.

Den Christbaum ersetzte dabei das kleine erhöhte Rednerpult an der Frontseite des Saals. Es sah aus, als sei es aus irgendeiner nahe gelegenen Grundschule entwendet worden: glanzloses, bleiches Limbaholz, auf dem zahllose Schülergenerationen mit Bleistift, Tinte und Taschenmesser ihre Schmähungen hinterlassen hatten.

Asch saß – nein, man musste schon sagen, residierte – am festlich gedeckten Tisch vor der Rednertribüne und betrachtete mit sichtlichem Vergnügen das Getrampel um sich her.

Er hatte sich nicht mit dem kargen kontinentalen Frühstück begnügt, das hier üblich gewesen wäre, sondern ein langes Büfett auffahren lassen.

Vor den Pfannen und Töpfen spielten sich Szenen ab, die lebhaft an das Gedränge auf dem Jahrmarkt oder beim Schlussverkauf erinnerten.

Eine bekannte Stimme rief mir zu:

„Sander … die gebratenen Champignons, exzellent …“‚ doch ehe ich mehr als den Rücken und Ausschnitt seiner Schulter wahrnehmen konnte, verlor ich ihn wieder aus den Augen, weil mir jemand den Ausgießer einer eisernen Kaffeekanne in die Seite rammte.

Ich entschloss mich, das Tohuwabohu lieber aus der sicheren Deckung des Säulenrundgangs zu beobachten. Dort waren zwei Türen mit der Aufschrift ‚Notausgang’.

Eine unbestimmte Furcht, die ich immer beim Anblick eines so unkontrollierbaren Haufens von Wirrköpfen empfinde, sagte mir, dass, wenn jetzt ein Feuer ausbräche, die Hälfte aller Frühstücksgäste zu Tode getrampelt würde.

Die Gaskocher unter den Töpfen und Schalen sahen nicht so aus, als hätten sie seit Kaiser Wilhelms Zeiten jemals die Gnade irgendeiner Wartung oder Pflege erhalten. Außerdem war mir beim Anblick des Gedränges der Appetit vergangen.

Aschs Rede, als das Klappern der Tassen und Teller nach dem endlosen Zug der Lemminge halbwegs verstummt war, mutete ein wenig an wie die Beschwörungen und düsteren Zukunftsvisionen eines frühchristlichen Propheten. Ich wusste, worauf er hinauswollte, aber sein Anliegen bekam durch das neue, ungewohnte Gewand seiner Worte unverhofften Glanz. Ich glaube, niemand hatte gewusst, dass er ein so begabter Redner war. Er begann taktisch klug mit einem Exkurs über die Langeweile. Kein Krebs, kein Herzleiden sei von so schleichender, zerstörerischer Heimtücke wie ein Leben ohne Aufgabe. Das beifällige Gemurmel, das sich über den von satter Müdigkeit gezeichneten Gesichtern erhob, zeigte an, dass er einen Nerv getroffen haben musste.

„Die Teilhabe“, rief er, „die Teilhabe an allem, was uns politisch angeht – ist das etwa eine vermessene Forderung, Freunde? Und sind wir nicht dank unserer erfolgreichen Arbeit und langen Erfahrung für gewisse Aufgaben geradezu prädestiniert? Wo stände das freie Europa heute ohne uns?“

Dann folgte eine verblüffend genaue Analyse vergeudeter Kräfte und Fähigkeiten. Im Grunde sei alles noch so wie früher. Auch wenn ein paar Ignoranten in den Diensten das niemals einsehen würden.

Jeder Gerontologe bestätige, wie leistungsfähig der Verstand selbst noch im hohen Alter bleibe, wenn man ihn nicht durch überflüssige Ruhigstellung hemme.

Er rate niemandem, sich wie einst die Tage und Nächte an irgendwelchen zugigen Grenzübergängen um die Ohren zu hauen und mit dem Nachtglas nach verloren gegangenen Agenten Ausschau zu halten.

„Keine nervenaufreibenden Beschattungen in feindlichem Territorium, Freunde, kein Nahkampf mit dem Messer. Das erledigen andere für uns. Wir leisten nur die geistige Arbeit, mehr verlangt man nicht von uns …“

Danach kam er auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen. Er redete von politischer und moralischer Erneuerung, von der Notwendigkeit eines Klubs, den er dazu ins Leben rufen wolle – den Klub der Veteranen.

Ein „Gremium der Alten und Weisen“, wie er mit beschwörender Stimme erklärte, das – seit langem überfällig – nun endlich in die Entwicklung eingreifen werde. Als er beim Thema Druck angelangt war – Druck durch gezielte Informationen –‚ verließ ich den Saal und ging hinauf in das umbaute Verandacafé von dem aus man das Hotelportal und die Zufahrt überblicken konnte.

Ich bestellte Kaffee und Cognac, zündete mir einen ‚sauren Krümeltürken’ an und harrte der Dinge, die da kommen würden.

Ich versuchte, grobe Schätzungen darüber anzustellen, wer nach dieser Offenbarung politischen Schwachsinns sofort abreisen würde. Zwei Drittel? Die Hälfte? Oder nur lumpige zehn Prozent?

Ich wartete lange – und vergeblich. Im Haus schrillte eine Klingel zum Zeichen für das gemeinsame Mittagessen, als ich mich endlich erhob, gähnend ein paar alte Illustrierte in die eingesessenen Ledersessel beim Kamin zurückwarf und mich auf mein Zimmer begab.

2

Green hinterließ immer eine Spur feuchten Lehms vom Murellenberg – in gesunder Luft zu wandern war seine große Leidenschaft. Er sagte, im Niemandsland zwischen den Fronten – das war West-Berlin für ihn – sei die Atmosphäre von besonderer Spannung.

Wenn man seine innersten Regungen beobachte, fühle man die unüberbrückbaren Gegensätze. Niemand schien Aschs Ansinnen der Klubgründung als Anlass für seine unverzügliche Abreise anzusehen. Im Grunde ihres Herzens waren sie alle Rebellen. Die bestehende Ordnung zu stützen anstatt sie zu stürzen – bedeutete das nicht auch die Fortsetzung der Langeweile und des Überdrusses?

Man musste abwarten, was passieren würde, sich auf gar keinen Fall von der Quelle entfernen. Erst recht nicht, wenn der Aufenthalt – Zimmer, volle Verpflegung, Nebenkosten und Veranstaltungen – großzügig von einer Stiftung für ‚Ost-West-Verständigung’ getragen wurde. („Schon mal gehört den Namen?“ – „Nein, aber wer hat denn den ganzen Katalog privater und staatlicher Stiftungen im Kopf?“) Erholung und Kurzweil im Namen der Völkerverständigung. Kein Fragebogen, keine Eintragung in Anwesenheitslisten. Nicht mal Extrazuschläge für die Minibar.

Man hätte bis nach Japan telefonieren oder seiner schwerhörigen alten Tante in Neuseeland per Telegramm herzliche Grüße übermitteln lassen können, vorausgesetzt der Portier, der auch den Telefonisten spielte, war aus seinem komaähnlichen Tiefschlaf zu wecken.

Falkners chromglänzender Rollstuhl quietschte unablässig durch die Gänge und Laflöhr zog es vor, sein Mantra nur noch beim Gehen zu murmeln, anstatt draußen am Hotelportal ein Verkehrshindernis zu bilden.

Die Anwesenheit der beiden Amerikaner war eher dem Zufall zu verdanken. Asch hatte sie kurz vor ihrer endgültigen Rückkehr in die Staaten nach Portland an der Kneipe beim Flughafen aufgegabelt. Seine enthusiastische Einladung, ihre Wiedersehensfreude, vor allem aber die Aussicht, oben im Bundesstaate Washington nun den Rest ihres Lebens nichts anderes als dünnes saures Reisbier von der Sorte Budweiser trinken zu müssen, das eher Ähnlichkeit mit harntreibender Gesundheitslimonade als einem alkoholhaltigen Getränk auch nur mäßiger Rasse und Klasse besaß, war genügend Anlass gewesen, den Rückflug auf die nächste Woche umzubuchen.

Nun saßen sie an der Bartheke und nahmen sich ein Fass nach dem anderen vor. Sie tranken ausschließlich Schultheiss-Bier, und das Thema, das sie für das Wichtigste hielten, schien die Feinporigkeit des Schaums zu sein, die Zeit, die eine Pilsblume mindestens halten musste, wenn sie von einwandfreier Qualität war.

Man sah ihnen nicht an, dass die Klubgründung sie sonderlich beeindruckt hätte. Als ich vorüberging, fragte einer: „Sie sind doch früher schon mal in Langley, Virginia, gewesen? Oder täusche ich mich da?“

„Ja, wahrscheinlich“, sagte ich. „Sie müssen sich täuschen. Ich war noch nie in Virginia.“

Während ich weiterging, spürte ich seine Feindseligkeit im Rücken – den missbilligenden Blick, den enttäuschte Neugier hervorruft. Aber Fragen nach privaten Dingen waren mir schon immer suspekt gewesen.

Selbst wenn ich jemals dort gewesen wäre – vermutlich meinte er das Hauptquartier der CIA –‚ hätte ich keinen Grund gesehen, ihn darüber aufzuklären. Ich denke, die Vergangenheit ist es meist nicht wert, wie ein Haufen faulenden Unrats gewendet oder immer wieder auf- und zugedeckt zu werden.

Jemand, den ich nicht kannte und der sich breit lächelnd als Ronald vorstellte (ausgerechnet Ronald), versuchte mich in ein Gespräch zu verwickeln:

„Was halten Sie von der Annahme, dass Gorbatschows Pläne nur ein großes Ablenkungsmanöver sind?“

„Ein Ablenkungsmanöver? Wovon?“

Er lächelte sibyllinisch. „Von seinen wirklichen Motiven. Die alte Garde – Breschnew, Andropow, Tschernenko – war zu konservativ.

So kam man nicht weiter. Wirtschaftlicher Niedergang, Aufrüstung – eine Rüstungsspirale, bei der Mütterchen Russland über kurz oder lang den kürzeren ziehen musste.

Das Land war in latentem Protest. Schiebung statt Ideologie, Sander. Jetzt versucht man es einfach andersherum: Der Wolf hat Kreide gefressen …“

Ich ging achselzuckend weiter. Im ‚Blauen Zimmer’ konnte man einem Vortrag aus der Reihe ‚Weltanschauliche Gespräche’ lauschen, Titel: Unterlassene Hilfeleistung in der Politik.

Mir schien es, als sei das ein Gemeinplatz. Die Politik besteht aus nichts anderem, einmal davon abgesehen, dass die Politiker das große Spiel des gemeinschaftlichen Absahnens betreiben; aber die Veranstaltung war so gerammelt voll, als würden dort weltanschauliche Neuigkeiten verkündet.

Hinten stand man bereits auf zwei ausrangierten Kapellenbänken, die Bertrand in unermüdlichem Beschaffungsdrang aus der Sakristei einer nahe gelegenen Kirche besorgt hatte.

Ein smartes Kerlchen vom Politischen Seminar der hiesigen Universität – dunkelblauer Zweireiher, feinster Nadelstreif – zog Vergleiche zwischen unterlassener Hilfeleistung im privaten und politischen Bereich. Der Begriff, auf gesellschaftliche Verhältnisse angewendet, sei zwar ungewohnt, aber nichtsdestoweniger in der Sache zutreffend. Was unterscheide denjenigen, der einem Ertrinkenden im kalten winterlichen Fluss seine Hilfe versage, eigentlich von jemandem, dem es an politischem Verantwortungsgefühl mangele? Der seine Möglichkeiten zum Nutzen der Gesellschaft nicht voll wahrnehme?

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