Kitabı oku: «Neun richtig, eins falsch.», sayfa 2
Wir alle kennen eine Ariane – Prolog
»Wir glauben, Erfahrungen zu machen. Aber die Erfahrungen machen uns.«
Eugène Ionesco, französisch-rumänischer Autor und Dramatiker, 1909 – 1994
Einer meiner Söhne hatte eine Klassenkameradin, ihr Name ist Ariane. Schon in der Volksschule tat sie sich als überaus begabtes Kind hervor – egal in welchem Unterrichtsfach, den Lernstoff machte sie sich spielerisch zu eigen. Sie war talentiert und lerneifrig und nur in seltenen Fällen gab es eine andere Note als ein »Sehr gut«. Zumeist war auch das »Sehr gut« kein gewöhnliches »Sehr gut«, sondern eine Römische Eins, immer hochverdient, denn Ariane hatte große Freude am Lernen. Gab es bei einer Klassenarbeit die maximale Punktezahl von zehn – Ariane hatte elf.
Unser Sohn kam eines Tages von der Schule nach Hause. Obwohl es gute Nachrichten aus der Bildungsstätte zu berichten gab, schien er etwas verhalten. Es hatte ein Diktat gegeben, auf das er mit »gut« benotet worden war. Von zehn Wörtern hatte er neun richtig geschrieben, nur eines falsch, und zwar das Wort »immer«, bei dem er ein »m« vergessen hatte.
Neun von zehn Wörtern richtig geschrieben, und nur eines davon falsch – dafür hätte er sich ein kräftiges Lob und die Würdigung seiner guten Leistung verdient, aber stattdessen hatte er von der Lehrerin eine Sonderaufgabe mit nach Hause bekommen. Er musste »immer« dreißigmal schreiben, drei weitere Wörter mit Doppel-m suchen und diese jeweils zehnmal schreiben. Dabei hatte es wesentlich schwierigere Wörter zum Diktat gegeben als das eine, das er falsch geschrieben hatte: das Wort »vielleicht« beispielsweise, ein Wort mit »v«, »ie«, Doppel-l und gleich zwei Zwielauten!
Im Diktat selbst war das fehlende »m« kräftig in Rot markiert, während die neun richtig geschriebenen neben dem einen in Signalfarbe gekennzeichneten Wort natürlich gänzlich verblassten – dieses Bild hat sich mir zutiefst eingeprägt.
Ariane hatte übrigens zehn von zehn Wörtern richtig geschrieben. Warum ich das erwähne? Nun. Unser Sohn war damals doppelt gefordert, denn für mich war das Abschneiden von High-Performerin Ariane bei Leistungstests die Benchmark, an der es sich zumindest zu orientieren galt.
Das sah dann beispielsweise so aus:
»Papa, ich habe eine Eins!«
»Sehr gut! Was hat denn die Ariane?«
In meinen Vorträgen schreien die Zuhörer an dieser Stelle meistens laut auf und lachen herzhaft – so gut wie jeder erkennt sich in irgendeiner Form wieder: Entweder in dem Bild mit den rot markierten Fehlern oder sie kennen jemanden, der zwar nicht Ariane heißt, aber trotzdem an die eher aussichtslose Hürde aus früheren Schultagen erinnert, die es performancemäßig zu überwinden galt, wenn man die Eltern stolz machen wollte.
Ist das nicht verrückt? Es muss völlig egal sein, welche Note Ariane hat, eine Eins ist die beste Note – das muss gewürdigt werden und verdient Lob und Anerkennung!
Wenn ich die Geschichte in meinen Vorträgen erzähle, frage ich an dieser Stelle gern die Zuhörer, ob sie sich vorstellen können, welche Frage der Papa in der Geschichte (also ich) ihrer Ansicht nach als nächstes stellt. Die Auflösung aus den Reihen der Teilnehmer kommt immer prompt:
»Wie viele ›Sehr gut‹ gab es denn?«
Ich habe in der Tat danach gefragt, wie viele »Sehr gut« es gegeben hatte, und wenn ich daran denke, ärgere ich mich heute maßlos über mich selbst. Denn es muss nicht nur egal sein, welche Note eine Ariane hat, es muss auch völlig egal sein, wie viele Einser es insgesamt gegeben hat. Eine Eins ist die beste Note und sie ist nicht weniger wert, wenn es mehrere Einser in der Klasse gibt!
Ist es nicht ein Irrsinn, was wir mit unserem Fokus auf das Falsche, das Negative, das rot Markierte schon unseren Kindern zumuten? Ich stehe nicht an zuzugeben, dass ich eine ganze Weile in dieser Ecke zu Hause war und das ist auch einer der Gründe, weshalb Sie dieses Buch heute in Händen halten. Die Geschichte von Ariane war für mich einer der wesentlichen Ausgangspunkte dafür, unseren Fokus auf das Negative genau unter die Lupe zu nehmen, selbst zu erkennen und aufzuzeigen, wie sehr er den allerkleinsten Dingen des Lebens innewohnt.
Ich kann mir lebhaft vorstellen, dass der eine oder andere Leser von sich sagen wird, dass auch er früher so gehandelt und gedacht hat oder vielleicht sogar heute noch das eine falsche zuerst oder sogar anstatt der neun richtigen Wörter sieht.
Wann auch immer ich die Geschichte von Ariane in meinen Vorträgen erzähle, kommen jedes Mal starke Reaktionen aus dem Publikum – die Erzählung lässt kaum jemanden unberührt. Oft höre ich: »Wir haben auch eine Ariane, nur bei uns heißt sie Maximilian«, oder die Zuhörer bringen ihre Bestürzung zum Ausdruck und nehmen sich vor: »Ich frage meine Tochter nie wieder nach den Noten der anderen!«
Was das zuvor beschriebene Verhalten mit unseren Kindern macht? Ich erzähle Ihnen, wie bei uns daheim die Geschichte weiterging:
Wieder einmal kam unser Sohn von der Schule nach Hause und wir waren schon gespannt, denn die Kinder sollten an dem Tag die Mathematikschularbeit zurückbekommen. Die Haustür war kaum ins Schloss gefallen und die Schultasche abgestellt, schallte uns vom Flur schon das Ergebnis entgegen: »Ich habe ein ›Befriedigend‹, und Paps, bevor du fragst: Die Ariane hat auch nur ein ›Gut‹!«
Kinder können Erwachsenen ganz schön die Decke wegziehen.
Mein Sohn berichtete überdies, dass er ein Beispiel richtig gerechnet hatte, welches Ariane nicht hatte lösen können. Mein Verhalten, seine Leistungen dahingehend abzuklopfen, ob es nicht auch noch ein wenig besser (am besten besser als Ariane) gegangen wäre, hatte also dazu geführt, dass er sich über Ariane rechtfertigte (wozu überdies bei einem »Befriedigend« überhaupt keine Notwendigkeit bestand).
Die Schularbeit war offenbar sehr fordernd gewesen, denn unser Sohn präsentierte uns (bevor ich ihn danach fragen konnte) neben seiner Arbeit auch gleich die Klassenergebnisse dazu: Es hatte viele »Nicht genügend« gegeben, sodass kurze Zeit sogar eine Wiederholung der Arbeit im Raum gestanden war, sehr viele »Genügend«, nur eine Handvoll »Befriedigend«, lediglich ein »Gut« von Ariane und kein einziges »Sehr gut«. Das »Befriedigend« unseres Sohnes war angesichts des Schwierigkeitsgrades des Geforderten ein sehr beachtliches und – eben! – zufriedenstellendes Resultat gewesen, aber mein Lob kam nicht mehr ungefiltert bei ihm an, das habe ich gespürt.
Die Geschichte geht noch weiter.
Unser Sohn ist mittlerweile Mitte dreißig, in einer Geschäftsführerposition in der österreichischen Handelslandschaft tätig und hat selbst Familie. Er rief mich vor rund einem Jahr an, um mir zu erzählen, dass bei ihm ein nächster Karriereschritt bevorstünde: Er würde ab kommendem Monat die Geschäftsleitung einer Handelskette im Nahrungsmittelbereich übernehmen, bekäme einen Firmenwagen und ein noch attraktiveres Gehalt und sei sehr motiviert, denn die Beförderung wäre genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen.
Ich darf an dieser Stelle gleich vorwegnehmen, dass es im Leben mit der bloßen Einsicht, etwas nicht ganz richtig gemacht zu haben und mit der konsequenten Umsetzung der Entscheidung, es ab da besser zu machen, nicht immer getan ist. Oft holt uns nämlich noch viele Jahre später die Erkenntnis ein, welche Spuren wir mit unserem Verhalten bei anderen hinterlassen haben, wie auch in diesem Fall. Denn mein Sohn fügte folgenden Satz hinzu:
»Und Paps, bevor du fragst: Ich weiß nicht, wie viel Ariane verdient, und ob sie ebenfalls einen Firmenwagen hat, und ob und wie viele Mitarbeiter sie führt, das weiß ich auch nicht!«
Ich habe schon erwähnt, dass sich mir das Bild des einen, im Diktat falsch geschriebenen und rot markierten Wortes zutiefst eingeprägt hat. Nicht zufällig ist diese Geschichte auch titelgebend.
Der Gedanke, die neun richtig geschriebenen Wörter grün zu markieren oder sie zumindest positiv zu kommentieren, ist der Lehrerin vermutlich gar nicht in den Sinn gekommen. Ich persönlich achte seit jenen Tagen rigoros drauf, nur in Blau zu schreiben, ausschließlich das Positive zu markieren und anzumerken und mein Umfeld mit diesem eher ungewöhnlichen Verhalten »anzustecken«. Sobald ich sehe, dass jemand mit Rot schreibt oder etwas rot markiert, spreche ich ihn darauf an und weise darauf hin, dass er sich mit der roten Farbe seitenweise selbst darauf hinweist, etwas falsch gemacht zu haben, etwas korrigieren, etwas besser machen zu müssen. Ich darf Ihnen sagen, dass wirklich jeder sofort versteht, was ich damit meine. Denn die meisten haben gelernt, dass es im Leben darum geht, möglichst wenige Fehler zu machen, und dieses Verständnis wird früh gefördert, indem Fehler traditionell in Rot markiert werden. Auf ihnen liegt das Augenmerk – nicht auf dem, was richtig gemacht wurde.
Stellen Sie sich kurz vor, Sie befinden sich in einem Meeting, Sie schreiben die wichtigsten Sachen mit und Ihr blauer Kugelschreiber gibt plötzlich den Geist auf. Sie borgen sich einen roten Kugelschreiber und schreiben eine Weile mit diesem mit. Nach einer kurzen Pause geht die Besprechung weiter, aber der rote Kugelschreiber ist weg, denn den hat ein Kollege ausgeborgt. Sie borgen sich also einen neuen Stift, der ist diesmal schwarz, und Sie schreiben weiter mit. Visualisieren Sie bitte nun Ihre Mitschrift aus dieser Besprechung. Sie haben nur die allerwichtigsten Sachen zu Papier gebracht, aber welche Dinge werden Ihnen als Erste ins Auge fallen, wenn Sie die Mitschrift am nächsten Tag zur Hand nehmen? Blau, rot oder schwarz? Möglicherweise waren es To-dos – auf welche Farbe fällt Ihr Blick zuerst und welche Aufgaben werden Sie deshalb möglicherweise sofort in Angriff nehmen? Sehen Sie, was die Farbe Rot mit uns macht?
Ich habe die Schulergebnisse meines Sohnes mit meiner Orientierung an der Klassenbesten unabsichtlich abgewertet und dem Positiven, dem Richtigen weniger Beachtung geschenkt als den rot markierten Stellen. Jahrzehnte später ist mir während des Telefonats mit meinem Sohn ein weiteres Mal intensiv ins Bewusstsein gerückt worden, wie konsequent wir alle darauf achten, was vermeintlich nicht passt und welche Spuren diese Prägung hinterlassen kann.
Ich erzähle die Geschichte von Ariane häufig in meinen Vorträgen und bitte zum Schluss das Publikum, die Hand zu heben – Sie sind jetzt eingeladen, mitzumachen! – , wer ebenfalls eine Ariane kennt. Und ich kann Ihnen sagen: Jeder kennt eine Ariane – auch wenn sie Emma oder Maximilian heißt!
Woher kommt unser Fokus auf das Negative?
WEIL WIR ES VON KLEIN AUF GELERNT HABEN
Wie soll ein Volksschulkind auf die Idee kommen, sich über neun richtig geschriebene Wörter zu freuen, wenn ihm nur das eine falsche, das rot markierte Wort in die Augen springt? Anstatt neunmal die Farbe Grün zu benutzen, setzt die Lehrerin einmal Rot ein – und eine »Strafaufgabe« gibt es obendrein (denn wie soll ein Volksschüler das als »Vertiefungsübung« sehen können?). Auch wenn in den vergangenen Jahren viel darüber diskutiert und geschrieben wurde, dass wir uns darauf konzentrieren sollten, die Talente unserer Kinder zu fördern, und nicht ausschließlich auf die Schwächen zu blicken, hat sich in der gelebten Praxis dahingehend nicht sehr viel bewegt. Von klein auf werden wir durch das rote Kennzeichnen darauf hingewiesen, was falsch ist. Das Augenmerk liegt auf jenen Aspekten, die es zu korrigieren und zu verbessern gilt – nicht auf Stärken und auf Talenten. Wir haben gelernt, dass es im Leben darum geht, das Negative auszumerzen, besser werden zu müssen und so wenige Fehler wie möglich zu machen. Der Preis, den wir dafür bezahlt haben, ist der, dass wir für die positiven Dinge keinen Blick und kein Sensorium mehr haben. Wir kennen es nicht anders, wir sind daran gewöhnt: Gewohnheiten sind vergleichbar mit ausgetretenen Wegen in einem großen Garten – wir nehmen den bereits bekannten, sichtbaren Weg und nicht zuallererst den unbekannten durch dichtes Gestrüpp.
Unser Gehirn ist evolutionsbedingt darauf ausgerichtet, uns vor Gefahren zu schützen. Das bedeutet, dass wir sehr achtsam für Negatives in unserem Leben sind und sehr schnell auf gefährliche Situationen reagieren. Das ist zunächst einmal nicht schlimm, sondern sichert unser Überleben.
Wenn Sie mit Ihrer Hand eine heiße Herdplatte berühren, ziehen Sie Ihre Hand automatisch zurück. Sinnes- und Nervenzellen nehmen den Schmerz wahr und leiten ihn weiter, wir empfinden Schmerz, und aus unserer Empfindung »heiß!« wird die Reaktion »Hand wegziehen!«. Synapsen – vom griechischen Wort synapsis (Verbindung) abgeleitet – sind die Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen, zwischen Nerven- und Sinneszellen oder zwischen Nervenzellen und Muskelfasern, und diese Verbindungen brauchen wir, damit solche wichtigen Informationen wie in obigem Fall schnellstmöglich übertragen werden und Informationen sowie Impulse weitergeleitet werden, um beispielsweise »heiß!« augenblicklich zu erkennen und die Hand mithilfe der Muskelfasern auf der Stelle wegziehen zu können.
Verhaltensmuster setzen sich durch ihre permanente Wiederholung fest und hinterlassen an diesen Stellen verdickte Synapsenstränge. Unter Druck oder in Stresssituationen reagieren diese Stellen durch ihre stärkere Ausformung schneller als die anderen, die weniger benutzten, und so wiederholen wir uns in diesem gelernten Verhalten – wir benutzen den bequemeren, bekannten, fein ausgetretenen Weg durch den Garten.
Unsere persönliche Wertewelt wird von tief in uns eingeprägten Parametern gesteuert: von unserem Umgang mit richtig oder falsch, von dem Stellenwert, dem wir positiv oder negativ beimessen und von unserer Gewichtung von »Grün« und »Rot«. Je nachdem, welchen Rang richtig und falsch in unserer Kindheit hatten und welche Reaktionen und Verhaltensweisen uns von unseren Bezugspersonen und unserem Umfeld von klein auf vorgelebt wurden – die Summe unserer Erfahrungen ist das Fundament für unsere eigene Priorisierung von gut oder schlecht, richtig oder falsch, »Grün« oder »Rot«.
DER SOZIALE VERGLEICH PRÄGT UNSERE VERHALTENSMUSTER
Viele unserer Verhaltensmuster sind durch Erwartungshaltungen geprägt. Wir verhalten uns schon von Kindheit an so, wie wir denken, es könnte den Bezugspersonen gefallen – sei es der Mutter, dem Vater, der Kindergärtnerin oder dem Handarbeitslehrer. Der soziale Vergleich spielt dabei eine immens große Rolle.
Bei der Erstkommunion sind viele Eltern darauf erpicht, dass ihr Kind das hübscheste ist – welches der Kinder sich bei der Erstkommunionvorbereitung am interessiertesten und präsentesten hervorgetan hat, ist den meisten Eltern weniger wichtig, es gibt so viele andere, nach außen gerichtete Dinge zu organisieren und vorzubereiten. Die Hochsteckfrisuren vieler Erstkommunionmädchen lassen manche erwachsene Braut erblassen – eine außergegenständliche Wertung dominiert das Geschehen, eine optische nämlich, und es geht maximal am Rande um ein gemeinsames Erleben dieser schönen und bedeutsamen Feier. Schon während Firmungen und Erstkommunionfeiern wird unter den Eltern hinter vorgehaltener Hand über jene gesprochen, die »ein ausgeborgtes Kleid« und »keine ordentliche Frisur« haben. Sei hübsch, sei perfekt, sei brav, bringe keine Flecken an das teure Outfit und mache keine Fehler beim Vorlesen in der Kirche – das ist es, was die meisten Kinder aus diesen Events mitnehmen (neben ein paar Geschenken und später hoffentlich dem angenehmen Gefühl, dass alles fehlerlos über die Bühne gegangen ist).
Der Sportlehrer sagt zum jüngeren Bruder: »Die Sportsachen zu Hause vergessen … das hätte es bei deinem älteren Bruder nicht gegeben!« Er sagt nicht: »Schön, dich in meiner Klasse zu haben – dieses Jahr haben wir endlich einen Fußballer in der Mannschaft, mit dem wir die Fußballmeisterschaft der Schule gewinnen können.« Er sagt auch nicht: »Dein Bruder konnte nicht Fußball spielen, schön dass wir jetzt dich in der Klasse haben – und bitte vergiss die Sportsachen nicht mehr, damit du immer mitmachen kannst!« Nein, er sagt: »Die Sportsachen zu Hause vergessen … das hätte es bei deinem älteren Bruder nicht gegeben!« – Anstatt auf Motivation setzt er auf eine herabwürdigende, fehleraufzeigende und damit sehr effiziente Methode, um den jüngeren Bruder dazu zu bringen, die Sportsachen nicht mehr zu vergessen. Mein älterer Bruder ist einfach so viel besser als ich, dem passieren solche Fehler nicht – das ist es, was der jüngere so von klein auf lernt.
Vielleicht findet sich auch der eine oder andere Leser in einem der beiden Beispiele wieder. In meinen Seminaren und Vorträgen erzählen die Teilnehmer regelmäßig von ähnlich gelagerten Erlebnissen. Woran erinnern Sie sich zuerst, wenn Sie an Ihre Tanzschulzeit, Ihre Hochzeit, den letzten Urlaub oder die letzte Firmen-Weihnachtsfeier denken? Zumeist sind es die Fehler, die Ausrutscher, die negativen Aspekte, die wir in Sekundenbruchteilen abrufen können, oder Situationen, in denen wir (oder andere) im sozialen Vergleich (vermeintlich) schlechter abgeschnitten haben.
Zum sozialen Vergleich gehört auch der Vergleich mit den Eltern: »Du bist wie dein Vater.« Was uns als kleine Kinder noch entzückt, kann später zur Beleidigung oder zur Bedrohung werden. Oder als Entschuldigung herhalten: »Stimmt. Ich trinke ab zu ein Glas Wein zu viel. Mein Vater hat das auch gemacht!«, »Stimmt. Mir rutscht hin und wieder die Hand aus. Ich bin selbst auch geschlagen worden!«, »Meine Mutter hatte einen Putzfimmel, den habe ich offensichtlich von ihr übernommen!« Solche Sätze hören wir regelmäßig, aber kaum jemand kommt auf die Idee, zu artikulieren, was er Gutes von seinen Eltern mitbekommen hat. Wie oft haben Sie schon jemanden sagen gehört: »Ich bin ein fleißiger Mensch, das habe ich von meinem Vater gelernt«, »Ich bin ein guter Sportler, denn meine Mutter war auch vielseitig sportlich begabt«, »Ich bin sehr ordnungsliebend, das habe ich von meiner Mutter übernommen« oder »Ich kann Rückschläge gut wegstecken, das haben mir meine Eltern beigebracht«.
Schreiben Sie ganz spontan Eigenschaften auf, die Sie von Ihren Eltern vermeintlich geerbt haben – links die negativen, rechts die positiven. Darf ich raten, welche Spalte länger ist? Und darf ich fragen, bei wie vielen Begriffen in der Spalte mit den positiven Eigenschaften Sie in Gedanken ein »Eigentlich« oder »Durchaus« hinzugefügt haben, weil Sie sich zwar schon »durchaus mutig« oder »eigentlich ganz klug« finden, sich aber schwergetan haben, sich selbst das Attribut »mutig« oder »klug« zuzuordnen?
Für den sozialen Vergleich ziehen wir in der Regel die Kategorie »Negativ« heran. Wir blicken auf die Dinge, die vermeintlich nicht der allgemeinen Erwartungshaltung – und damit auch nicht der unseren – entsprechen. Wir haben es so gelernt und dieses Verhaltensmuster ist aufgrund der intensiven Prägung so stark in uns verankert, dass es sich nicht so ohne Weiteres ablegen lässt. Wir praktizieren diese Projektion auf das Falsche und das Negative so lange und so intensiv, dass wir als Erwachsene mit Lob und Anerkennung überhaupt nicht mehr umgehen können. In meinen Seminaren orte ich auf diese Aussage hin gelegentlich den einen oder anderen skeptischen Blick, denn wer steht schon gern dazu, zuerst auf das Negative zu blicken und auf das, was seiner Ansicht nach nicht der allgemeinen Erwartungshaltung entspricht? Ich trete dann mithilfe einer kleinen Übung den Beweis für meine These an:
EINE KURZE GEDANKLICHE ÜBUNG ZUM BEWEIS
Stellen Sie sich vor, Ihr Vorgesetzter bittet Sie in sein Büro. Sie wissen nicht genau worum es geht, der Assistent Ihres Chefs hat Ihnen nicht sagen können, was der Grund für den kurzfristig einberufenen Termin ist und Sie gehen daher davon aus, dass von Ihnen nichts Spezielles dafür vorzubereiten ist. Sie nehmen etwas zum Schreiben und Ihr Notizbuch mit und begeben sich zum Termin.
Der Grund für das kurzfristige Treffen überrascht Sie sehr, denn Ihr Vorgesetzter entschuldigt sich für die kurze Arbeitsunterbrechung, aber es war ihm ein großes Anliegen, sich bei Ihnen für Ihren Einsatz bei einem bestimmten Projekt zu bedanken. Er sagt Ihnen, Sie hätten das super gemacht und eine sensationelle Leistung gezeigt.
Lassen Sie diese Situation bitte kurz auf sich wirken und stellen Sie sich vor, wie Sie reagieren werden.
Ich nehme an, Sie werden sich bedanken und die meisten von Ihnen werden etwas in der Art hinzufügen: »Danke. Aber das war ich nicht allein« oder »Danke. Das hätten Sie aber auch ohne mich hinbekommen«.
Die Übung besteht aus zwei Teilen.
Stellen Sie sich bitte ein weiteres Mal vor, Ihr Vorgesetzter bittet Sie in sein Büro. Sie wissen nicht genau worum es geht, der Assistent Ihres Chefs hat Ihnen nicht sagen können, was der Grund für den kurzfristig einberufenen Termin ist und Sie gehen daher davon aus, dass von Ihnen nichts Spezielles dafür vorzubereiten ist. Sie nehmen etwas zum Schreiben und Ihr Notizbuch mit und begeben sich zum Termin.
Der Grund für das Treffen ist leider kein angenehmer. Ihr Vorgesetzter konfrontiert Sie mit einem Fehler, den Sie gemacht haben und der leider sehr kostspielig für das Unternehmen werden kann.
Lassen Sie auch diese Situation bitte kurz auf sich wirken und stellen Sie sich vor, wie Sie reagieren werden.
Ich nehme an, Sie werden den Fehler zur Kenntnis nehmen, sich vielleicht bestürzt zeigen, sich entschuldigen und versichern, für sofortige Abhilfe zu sorgen. Eines aber werden Sie ganz gewiss nicht machen – Sie werden mit Sicherheit nicht sagen: »Das war ich nicht allein, das hat das ganze Team vergeigt« oder gar: »Sie bauen selbst auch gelegentlich Mist«.
An dieser gedanklichen Übung offenbart sich unsere intensive Prägung auf das Negative besonders deutlich: Verläuft ein Gespräch mit dem Vorgesetzten positiv, dann zählt der Zusammenhalt, denn Positives zu betonen und für sich zu reklamieren, wäre eitel – so haben das die meisten von uns gelernt. Negatives auf andere abzuwälzen ist hingegen noch strenger verpönt und deshalb würde im Normalfall kaum jemand sagen: »Das habe ich nicht allein verbockt, da war das ganze Team beteiligt …«