Kitabı oku: «Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick»

Yazı tipi:

Für meinen Mann,

meine Töchter und meine Enkelkinder

Petra Hauser wurde 1950 in Karlsruhe geboren. Sie studierte Germanistik und Anglistik in Heidelberg und war über 30 Jahre lang als Lehrerin vor allem in der Erwachsenenbildung tätig. Ihren ersten Roman „Das Glück ist aus Glas“ veröffentlichte sie 2009 (6. Auflage, 2015). Es folgten die Novelle „Falsche Wimpern“ (2011), der Roman „Die Tage vor uns“ (2012), der Krimi „Binokelrunde“ (2014), der Roman „Heimatstadt“ (2016, 2. Auflage), „Das Geheimnis vom Weihnachtsgebäck“ (2018) sowie 2020 „Ein herrliches Vergessen“.

Petra Hauser

Die Ewigkeit

ist nur ein

Augenblick

Roman

einer badischen Familie

Lindemanns

Ein bisschen muss man immer

an der Wahrheit drehen,

wenn man sie in eine gute Geschichte

verwandeln will.

Man bricht den Lebensstoff in Stücke und fügt ihn wieder zusammen, in anderen, neuen Kombinationen, und manche sind real und manche sind es nicht, manche sind dokumentarisch und manche erfunden. Wer herausfinden will, was daran wahr ist und was nicht, muss schon ein rechter Kleingeist sein. Nichts davon ist wahr und alles davon ist wahr.

Wallace Stegner

Das Glücksgefühl meines Vaters (beim Erzählen) rettete ihn nicht nur, sondern trieb ihn zu Geschichten an und erhält ihn selbst jetzt noch in mir am Leben, wie eine zweite, geduldigere ... Seele in meiner ... Seele.

Sebastian Barry


Richard ...

... Löwenherz. Das denkt man gleich mit. Mancher tut es. Ich zum Beispiel. Weil er für mich das war: ein Mensch mit einem großen Herzen. Gutmütig. Tolerant. Seinen Mut abzuwägen, wäre mir nie eingefallen, weil ich ihn liebte. Ihn entschuldigte, wenn er etwas tat, was keiner verstand. Ihn verstand, weil ich ihn verstehen wollte, weil ich ihn liebte. Er war verschlossen, in sich gekehrt. Aber er konnte erzählen, ausführlich und detailversessen bis zur Schmerzgrenze des Zuhörers. Er legte nie das Vokabular des Soldaten ab, Kraftwörter gingen ihm glatt über die Lippen. Und gleichzeitig liebte er Gedichte, liebte Literatur, auch wenn sie schwierig war. Er liebte Heinrich Heine, Erich Kästner, Ringelnatz und Tucholsky, las alles von Arno Schmidt und Günter Grass, verstand die Theaterstücke von Samuel Beckett. Er hatte das absolute Gehör, konnte Gitarre, Banjo, Ukulele spielen, aber keine Noten lesen. Ich erinnere mich heute noch, wie gern ich ihm dabei zusah, wenn er eine Orange schälte. Geduldig, präzise, so als ob nicht der Verzehr der Orange das Eigentliche wäre, sondern die Befreiung der Frucht von der Schale. Er hasste alles Bürgerliche, musste aber tagtäglich einen Anzug mit Krawatte anziehen, weiße Hemden mit Manschettenknöpfen und zu den Kunden einer Baumaterialfirma fahren, für die er als Werkbüroleiter tätig war. Erfolgreich, denn die kleinen Bauern im Ländle vertrauten auf ihn. Wenn er zu ihnen kam, sich mit seinem schönen Anzug und den glänzend geputzten Schuhen mit den dicken Kreppsohlen auf ihre Baustellen führen ließ, sich dort die Problemzonen anschaute, stumm und aufmerksam zuhörte, wie die verzweifelten Kunden sich in Rage redeten, dann lag die Rettung schon in der Luft allein durch seine Anwesenheit, bevor er ein einziges Wort gesagt hatte. Sein Aftershave vermischte sich mit dem Duft der Reval, die er zu Dutzenden rauchte, immer und überall, auch im Schlafzimmer. Das ergab seinen unverwechselbaren wunderbaren eigenen Geruch, den ich jederzeit an jedem Ort erkannt hätte.

Als wir ihn tot in seinem Bett fanden, hielt er eine abgebrannte Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger, das fragile Aschetürmchen blieb unversehrt, so lange wir neben ihm saßen und auf den Bestatter warteten. Richard hatte Humor und Charme und wirkte auf Frauen so, dass sie an ihrer Frisur herumzupften oder schnell den Lippenstift nachzogen, wenn er sich näherte. Nie habe ich erlebt, dass er eine Frau angemacht hätte. Er bemerkte ihre Bewunderung ohne darauf einzugehen und liebte nur seine Ehefrau. Sie war die Erfüllung seiner Träume. Und noch viel mehr. Sie heilte ihn von seiner Vergangenheit: der ehrgeizigen Mutter, dem Vater, dem er nie den anderen, verlorenen Sohn hatte ersetzen können, der ganzen Verwandtschaft, die erdrückende Erwartungen hatte an ihn. Seine Liebste, die er am Tag ihres Kennenlernens schon erwählte zur Ehefrau, bis dass der Tod sie scheiden würde, war die Einzige, der er von seinen Kriegserlebnissen erzählte. Sie erteilte ihm Absolution für alles, was er ihr beichtete. Er holte sie dafür aus einem zwölf Jahre schweren Alptraum in das ganz normale Leben zurück. Machte sie zu einer Ehefrau und zu einer Mutter, zu einer Schwägerin und Schwiegertochter. Gab ihr Gelegenheit, seine große Familie anzuerkennen als ein Anhängsel, das zu ihm gehörte, ihm wichtig war, auch wenn sie eigentlich jedes einzelne Mitglied dieser Familie aus irgendeinem Grund verachtete und sich nie zurückhielt, diese Verachtung zu formulieren.

Die Urgroßmutter

1951

Wilhelmine sitzt am Küchentisch. Es wird jetzt schon sehr früh dunkel. Wenn man sich nur mit Schmerzen bewegen und bei künstlichem Licht nicht mehr richtig lesen kann, bleibt fast nichts mehr, um sich die Zeit zu vertreiben.

Vor Wilhelmine liegt ein Brief. Gerade hat sie ihn fertiggeschrieben, ins Kuvert gesteckt, adressiert, eine Marke draufgeklebt. Später wird sie ihre jüngste Tochter Sofie bitten, ihn zum Briefkasten zu tragen. Und dann kann sie sich wieder einmal auf einen Antwortbrief freuen. Es ist ein Dankesbrief an ihre Schwiegertochter Hilde. Dank für die schöne Karte zu ihrem 78. Geburtstag. Über all ihre Kinder und Enkelkinder hat sie Hilde berichtet. Denn so geht es ihr tagtäglich, ihre Gedanken wandern von einem zum andern. Es ist ein Innehalten, Erinnern, Nachdenken, Grübeln, ein Fragen: Wie ist das so gekommen und warum? Wie wird es weitergehen? Erst das, was am Ende ihrer Überlegungen bleibt, ganz zum Schluss, wenn sie sich gezwungen hat dazu, auf Distanz zu gehen, auf den Standort einer alten Frau am Ende ihres Lebens, schreibt sie darüber in ihrer ganz eigenen Weise, fast ohne Satzzeichen mit eingesprenkelten Dialektwörtern, sprunghaft bisweilen aber doch mit einer gewissen Selbstsicherheit. Sie weiß, dass Hilde sich über ihren Brief freut. Die lateinischen Schriftzeichen mit den runden Schnörkeln am großen F, B, H, S und T werden zu Arabesken. Wie gemalt sieht das aus. Sie hat ja so viel Zeit!

Immer noch fällt es Mine nicht so leicht, die lateinischen Buchstaben zu verwenden, denn in der Schule haben sie ganz andere Zeichen gelernt. Aber vor rund zehn Jahren kam eines Tages ihre jüngste Tochter Sofie nach Hause mit einer Broschüre und einem leeren Schreibheft.

„So“, sagte sie mit einem bestimmten Ton, „Mutter, es gibt was zu tun für dich. Wenn du weiter deine vielen Briefe und diese hübschen Weihnachts- und Geburtstagskarten schreiben willst und sicher sein willst, dass auch deine Enkelkinder sie lesen können, jetzt und eines Tages noch einmal, wenn sie sie in ihren Schubladen finden und sich an dich erinnern, dann musst du umlernen.“

Sofie zeigte der Mutter den so genannten Normalschrifterlass. Tja, was man damals so normal nannte. Aber man musste sich ja beugen, wenn man weiterexistieren wollte, oder nicht? Immerhin blieb diese Schrift erhalten, auch nachdem das tausendjährige Reich des Herrn Hitler zu Ende war, nachdem alles in Schutt und Asche lag. Die vielen Toten, die ganzen Verbrechen! Ach, ach! Immer wieder schweifen Mines Gedanken ab in die Vergangenheit und dann zwingt sie sich, wieder in die Zukunft zu denken, an ihre Kinder, an ihre Enkel, mit denen das Leben nun weitergeht.

Mine lebt bei ihrer Tochter Sofie und deren Mann. Sie umsorgen sie liebevoll. Den beiden geht es gut. Ihr Geschäft floriert. Versicherungen! Eigentlich versteht Mine nichts davon, aber sie sieht die zufriedenen Gesichter am Abend, wenn Sofie und Karl sich eine Zigarette anzünden und einen Cognac einschenken. Echten französischen Cognac, das kann man doch fast nicht glauben. Welcher normale Deutsche kann sich das leisten, jeden Abend solch einen Luxus? Noch hat man kaum genug Kohlen, um mehr als die Küche zu heizen. Hier auf dem Küchentisch steht Sofies Schreibmaschine, hier empfangen sie die Leute, mit denen sie zu tun haben. Und die ab und zu solche Sachen mitbringen: Cognac, Seidenwäsche, Kaffee, Pralinen.

Dass ihre jüngste Tochter wieder richtig zufrieden ist, lässt Mine aufatmen. Seit 1945 vier Fehlgeburten! Die arme Sofie. Das letzte Mal sah man es schon deutlich. Es war eine richtige Geburt. Und dann die leeren Arme, die leere Wiege. Aber nun die Entscheidung, dieses Kapitel ihres Lebens für immer zu schließen. Verschenkt wurde, was in dem hellen Eckzimmer schon bereitstand: die Wiege, der Wickeltisch, die vielen kleinen Hemden und Strampelhosen. Ab nach Karlsruhe ging alles zu Mines ältestem Enkel Richard und seiner Frau, die beide noch studierten und jede Unterstützung bitter nötig hatten. Ihr Kindchen kam nur wenige Monate nach Sofies Frühgeburt. Die Kinder wären im selben Jahr geboren worden. Zwei Kinder aus zwei verschiedenen Generationen.

Ihr erstes Urenkelkind durfte Wilhelmine also noch begrüßen auf dieser noch gräulich zugerichteten, aber hoffentlich friedlichen und bald wieder besseren Welt.

Ach, wenn ich nur mit dem Paul darüber reden könnte! Seit 21 Jahren ist Wilhelmine Witwe. Zehn Kinder hat sie geboren. Sechs sind ihr noch geblieben. Sieben Enkelkinder hat sie und schon ein Urenkelkind. Eine große Familie.

Brüderchen und Schwester

1911

Abendstille überall ... jetzt kam ihr Einsatz, zusammen mit dem Knabensopran vom Richardle, müsste sie sich zart und rein zu einer Dezime aufschwingen: „Nur am Ba-hach die Na-hachtigall“ sollten sie singen, aber die Nachtigall war verstummt in ihr. Mit dem Tod von ihrem geliebten Richardle war die Nachtigall verstummt. Helene verschloss ihre Lippen, fest presste sie sie aufeinander und die Tränen liefen ihr aus den Augen, über die Wangen, eine landete im Spalt ihrer Lippen und sie leckte sie auf, sie spürte das Salz, ein Schauer rieselte über ihren Nacken, den Rücken entlang. Der Vater und die Mutter bestanden darauf, dass sie alle zu ihrem Alltagsleben zurückkehren mögen, das hatte er gesagt, hatte den ersten Ton angestimmt, den Dreiklang folgen lassen, der Kanon begann mit der Quint, hinab zur Terz, hinauf zur None, Quint, Terz und mit einem Knicks hinunter zum Grundton. Alle anderen sangen. Zaghaft und traurig, die Mutter, Bertl, Johanna, die sechsjährige Paula, sogar der erst drei Jahre alte Walter stimmte ein; aber Helene weigerte sich mitzusingen. Warum nur, warum hatte das Richardle sterben müssen? Der lustige und schlaue kleine Kerl mit der zuckersüßen Stimme.

Als das Richardle geboren wurde, ging es der Mutter schlecht. Johanna und Helene saßen vor dem Elternschlafzimmer und warteten. Sie hörten das Jammern und Klagen der Mutter, das Geschrei. Es schien, als ob sich da drinnen ein Tier befände, das sich mit diesen irren Tönen gegen das Eingesperrtsein wehrte. Dann plötzlich war die Mutter stumm und stattdessen hörte man das dünne, aber doch schon melodische Stimmchen des Neugeborenen. Und wenige Minuten später öffnete sich die Tür, Johanna sprang weg, denn sie sollten hier nicht sitzen, man hatte sie doch in ihre Zimmer gescheucht schon am späten Nachmittag. Helene stand auf und wandte sich dem Vater zu, der mit hochrotem Kopf aus der Tür trat, das kleine Paket aus Tüchern auf dem Arm. Er sah sie kurz an, dann übergab er ihr das Kind.

„Pass auf deinen Bruder auf, Helene. Den Kopf musst du halten, das kann er noch nicht alleine. Er heißt Richard, das haben die Mutter und ich schon längere Zeit so beschlossen.“

Und Helene trug ihn vorsichtig den langen Gang entlang in das Zimmer, das sie mit Johanna teilte. Dort setzte sie sich auf ihr Bett und versenkte sich in den Anblick des winzigen verknautschten Gesichtes, beobachtete verzückt jede seiner Regungen, wie er zuerst ein, dann auch das andere verklebte Augenlid langsam hob, wie die glänzenden schwarzen Äuglein herumkullerten, unkoordiniert und wie um zu üben, die Nasenflügel sich aufblähten, der Mund sich öffnete, weit, zu einem richtigen ausgedehnten Gähnen. Da musste sie lachen und Johanna lachte mit. Als Willi im Jahr davor geboren wurde, waren sie alle einige Tage bei den Tanten geblieben. Sie kamen zurück, da lag das Baby gut verpackt, tief unter seinem Kissenberg versteckt, hinter dem duftig-zarten Voile der Wiege. Unberührbar für viele Tage und sogar Wochen. Ab und zu ließ man die drei Großen von der Türschwelle aus hinüberschauen zum Bett der Mutter. Sah von dort aus den kleinen Haarschopf. Aber jetzt, jetzt hatte der Vater ihr das neue Kind in die Arme gelegt und sie hielt es fest. Weil es leise zu wimmern begann, stand Helene auf und wiegte es hin und her, bis es ruhig wurde. Sie summte die Melodie von „Schlaf, Kindlein, schlaf ...“, immer wieder, immer wieder, bis sich die Gesichtszüge des Babys entspannten, die Fingerchen zu Fäusten ballten, die der Kleine, wie um sich aufzuräumen, dicht an sein Kinn legte, rechts und links. Da waren sie beide zusammengewachsen, das Richardle und die Helene, zu einer Einheit. Und jetzt war er tot. Es kam Helene so vor, als ob ein Teil ihres Körpers von ihr abgebrochen wäre und eine tiefe schmerzende Wunde dort klaffen würde und sie wollte eigentlich nur noch laut schreien und nie mehr aufhören. Als der kleine Bruder Karl im Jahr zuvor im Krankenhaus an Diphterie gestorben war, hatten sie alle geweint und hatten ihn vermisst und hatten im langen Flur ihrer Wohnung einen kleinen Altar aufgebaut, dort alles gesammelt, was unverwechselbar zu ihm gehört hatte. Seinen Tirolerhut, den Silberlöffel, den er von den Tanten zur Taufe bekommen hatte, auf dem sein Name eingraviert war. Seine roten Lederstiefelchen, die neuen, am Tag bevor er ins Krankenhaus kam, hatte der Lehrling von Schuster Beckmann sie abgegeben und er war den ganzen Nachmittag damit in der Wohnung herumgerannt, hatte sich an den Geräuschen gefreut, die die Metallplättchen auf Spitze und Ferse machten, herumgerannt, bis er einen roten Kopf hatte, bis die Mutter ihm an die Stirn fasste und sagte: „Um Gottes Willen, Bub, du bist ja ganz heiß, du hast Fieber, schnell ins Bett.“

In der Nacht fing er an, um Luft zu kämpfen, am nächsten Morgen wurde er ins Krankenhaus gebracht und zwei Tage später war er im Himmel.

Das war schlimm. Das verfolgte die Kinder in ihre Träume. Aber es war nichts im Vergleich zu dem Schmerz, den Helene jetzt empfand, als das Richardle unbedingt dem Karl hinterherfliegen musste, hinauf in den Himmel. Was wollte er dort denn? Er hätte doch hierher gehört, hierher in ihre Arme.

Der Sohnessohn

1941

Die Großmutter kam schon am frühen Morgen und holte ihn und seine Schwester ab. Die Mutter hatte eine Tasche gepackt, Schlafanzüge, Zahnbürsten, vielleicht Spielzeug, daran konnte er sich natürlich nicht mehr erinnern. Aber an den abwesenden starren Gesichtsausdruck der Mutter und dass er sie fragte: „Warum, Mama, warum sollen wir zur Großmutter mit den Schlafanzügen?“ Sie waren oft bei ihr, aber am Abend kamen sie immer wieder zurück in ihre eigene Wohnung, die doch nur wenige Straßen entfernt lag vom Haus der Großmutter. Die Mutter presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf, um seine Frage abzuwehren. Sie wollte nichts sagen. Im Laufe der Jahre, wenn er sich diese Szene vor Augen hielt, und das geschah oft, das geschah immer und immer wieder, als er vielleicht 15 war oder 16, da wusste er plötzlich, dass sie nicht hatte sprechen können. Sie wäre in Tränen ausgebrochen. Denn sie wusste schon, hatte doch schon am Abend zuvor erfahren, dass der Vater tot war. Gestorben. Nicht gefallen. Nicht vermisst. Nicht „im Krieg geblieben“ wie andere Väter. Er war einfach gestorben. An einer Lungenentzündung. Das sagte sie ihnen später, als sie wieder zurückkam, als die Beerdigung hastig vollzogen worden war, als die Nachbarsleute nicht mehr tagtäglich kamen um zu kondolieren, um ihm und seiner Schwester über den Kopf zu streicheln, auch sie mit fest zusammengepressten Lippen. Es war schlimm, aber ein toter Vater war nichts Besonderes. Es gab etliche Halbwaisen ringsum, so der offizielle Ausdruck, den man bei Bedarf in die Formulare eintragen musste. Nur leider brachte Hansi diese Tatsache mit den falschen Leuten zusammen. Dem Albert zum Beispiel, der so dumm war wie lang, einem derben Tölpel, mit dem keiner etwas anfangen konnte, und mit Wilhelm Preuss, dem Sohn des Zahnarztes, einem intriganten Streber, der sich nach dem Tod seines Vaters dem Lehrer, dem alten Herrn Teufel, andiente, dass dem sogar manchmal die Geduld riss und er ihn in den Senkel stellen musste. Die Mutter sprach lange überhaupt nicht mehr über ihren Mann. Sie besuchte regelmäßig sein Grab, legte dort Blumen nieder, erlaubte auch, dass die Kinder etwas zum Grab brachten, einen schönen Stein vielleicht, Hansi sammelte Schrauben, Nägel, kaputtes Werkzeug, wo immer er es fand, und einiges davon trug er zum Grab des Vaters. Die Großmutter schüttelte den Kopf darüber, aber die Mutter ließ ihn gewähren.

Bettys Mutter bestand darauf, dass ihre Tochter die Verwandten des Vaters ihrer beiden Kinder besuchte. Sie wollte wahrscheinlich, dass die Kinder spürten, sie sind nicht allein. Es gibt da eine große Familie. Drei Onkels und den Cousin Richard, der schon erwachsen war. Selbst schon Soldat. Er und der Onkel Bertel hatten die Mutter begleitet, als sie den toten Vater abholen ging in Holland. Sie waren geblieben bis zur Beerdigung. Richard hatte sich neben ihn gesetzt, Schulter an Schulter, den Arm um ihn gelegt, hatte versucht, ihm zu erklären, dass der Vater ein wirklich tapferer Mann gewesen sei. Einer, der sich vor nichts fürchtete. Eine Art Ritter sei er gewesen. Einer, der für das Gute gekämpft hatte und der das Böse hasste. Damit konnte Hansi nichts anfangen.

„Warum hat er eine Lungenentzündung gekriegt? Hatte er keine warmen Kleider?“

Mhm. Ja, vielleicht.

„Weißt du eigentlich, dass dein Vater einen Bruder hatte, der schon mit zehn Jahren an einer Lungenentzündung gestorben ist? Da hatte dein Vater Glück, dass er noch ein Mann wurde, ein Ehemann und ein Vater, bevor ihm das Gleiche passiert ist. So etwas passiert, es passiert immer wieder. Und ...“

„Und es ist Gottes Wille, wie der Pfarrer sagte?“

„Nein. Das glaube ich nicht. Es ist ein unerklärlicher Zufall. Etwas, das geschieht, ohne dass man es je verstehen wird.“

Kein besonders tröstlicher Gedanke.

„Aber ein Teil von deinem Vater ist auch in dir drin und der lebt mit dir weiter. Das spürst du. Vielleicht nicht jetzt gerade, aber du wirst lernen, es zu spüren. Du kannst mit ihm Kontakt aufnehmen und er wird dir Ratschläge geben, wenn du sie brauchst. Er tröstet dich, wenn du dich allein fühlst. Er freut sich mit dir, wenn du glücklich bist. Ich werde dich danach fragen, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Bald schon. Ich versprech’s dir, dass wir uns ganz bald schon wiedersehen werden. Du und ich, wir sind Familie, weißt du, Hansi. Das bleibt für immer.“

So hatte ihn das Zusammensein mit Richard trotzdem getröstet. Weil er so schöne Sachen erzählt hatte. Versprechen gegeben. Die Familie beschworen. Der Richard, das war einer, von dem in der Verwandtschaft des Vaters viel geredet wurde. Der Richard dies und der Richard das. Manchmal voller Bewunderung mit leuchtenden Augen. Manchmal, indem man die Augenbrauen aufspannte und bedeutsam die Lippen kräuselte. Zu Richard wie zu jedem anderen Mitglied seiner väterlichen Familie hatte Hansi eine lange wechselhafte Beziehungsgeschichte. Immer auf der Suche nach seinem Vater, zog es ihn zu den Onkels und Tanten, den Cousins und Cousinen. Bis er einen anderen Weg fand, um dem Vater näher zu kommen. Bis er begann, Berichte über den Zweiten Weltkrieg zu lesen. Biographien von Soldaten. Dann sah er sich die Dokumentationen an, die an Jubiläumstagen im Fernsehen gezeigt wurden. Es brachte ihn nicht wirklich weiter. Es nährte jedoch den Verdacht, dass beim Tod des Vaters etwas vertuscht worden war. Etwas, was vielleicht auch die Mutter nie erfahren hatte. Vielleicht auch der Onkel und der Cousin nicht. Oder sie schwiegen aus Kadavergehorsam. Und als er so weit gekommen war mit seinen Überlegungen, fühlte er in sich große Dankbarkeit über den Zeitpunkt seiner Geburt. Er war kein Täter. Er war einer, der das Recht hatte, dieses Land, das neue Deutschland, zu bevölkern. Er war der Sohn einer Kriegerwitwe. Na und! Die Welt stand ihm trotzdem offen. Er war ein guter Schüler, machte eine Lehre als Maschinenbauer, ging dann an die Fachhochschule und studierte dort Maschinenbau. Ohne große Mühe, mit ein bisschen Rückenwind von Onkel Bertel, wurde er bei MAN eingestellt. Spezialgebiet Schiffsmotoren. Er nahm sich einen Privatlehrer für technisches Englisch, ließ sich einen Sommer lang nach Belfast versetzen, bis er alle Redewendungen drauf hatte. Dann absolvierte er ein Zusatzstudium für Betriebswirtschaft und stieg in der Firma auf bis zum Abteilungsleiter, hielt sich dort so lange, bis die jüngere Generation, die Herren Doktoren und Diplomingenieure sich ihm in den Weg oder besser gesagt vor die Nase stellten. Da sagte er Adieu mit 60 Jahren. Sein Schäfchen hatte er im Trockenen.

Nur ein Jahr später allerdings verlor er seine Frau. Sie hatten mehrere Reisen geplant gehabt, wollten ab jetzt viel Zeit miteinander verbringen, sich mehr für die Hobbys des anderen interessieren. Er blieb zurück, vereinzelt und doch nicht allein, denn er hatte seine beiden Töchter. Was für ein vitales Vermächtnis, was für ein bleibendes Glück. Zu dritt blieben sie eine Familie.

Türler ve etiketler

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0+
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341 s. 2 illüstrasyon
ISBN:
9783963081613
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