Kitabı oku: «Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick», sayfa 3
Die Großfamilie
Karl Friedrich Walker hatte drei Töchter und zwei Söhne, die das Erwachsenenalter erreichten. Wilhelmine Sömmer war seine jüngste Tochter. Die beiden anderen Töchter und die Söhne blieben ledig. Sofie, die älteste Tochter, war Schneiderin und übernahm das Atelier der Agnes Wawrina, Lene, nur ein Jahr jünger als ihre Schwester Sofie, war zunächst Angestellte im Tabak- und Zeitungsladen Knopf, der, in unmittelbarer Nähe zum Theater gelegen, vor allem die dort Beschäftigten und die Theaterbesucher anzog, eine ganz bestimmte Klientel von bürgerlich gekleideten Exzentrikern. Nach dem Tod des Besitzers übernahm Lene den Laden, versorgte die Witwe ihres Chefs, die noch im Haus wohnte, bis sie starb, und zahlte ihr als Pacht einen Betrag, der den Einkünften angepasst wurde. Das hatte ihr Chef für sie eingerichtet und testamentarisch festgelegt. Man munkelte in der Verwandtschaft, dass Lene ihrem Chef mehr gewesen sei als eine tüchtige, loyale Angestellte und das sogar mit Duldung der Ehefrau, die um einiges älter war als ihr Mann. In Lenes Umgebung jedenfalls gab es keinen anderen Mann, der von ihr als Ehemann in Betracht gezogen worden wäre. Das glaubten ihre Geschwister zu wissen und einer flüsterte es dem anderen immer wieder einmal zu, so laut und unverhohlen, dass es bis zu Wilhelmines Kindern durchdrang. Als sie die Lene-Tante geworden war – das war nach der Geburt ihrer Nichte Helene, Wilhelmines zweitältester Tochter –, war sie schon um die 40 Jahre alt und überaus zufrieden mit ihrem Status als Geschäftsfrau in so einem interessanten Milieu. Die Künstler vom Theater, ganz besonders die männlichen, wussten, dass sie ihre Lieblingstabakwaren vorhielt, die Zeitungen bei vorteilhaften Besprechungen auf der Seite mit den Theaterkritiken aufgeschlagen auf der Theke ausgebreitet hatte und die kleinen Fläschchen mit dem Hochprozentigen griffbereit, wenn man sich mal wieder mit einem Verriss auseinandersetzen musste. Den ersten Ärger darüber wurden die empfindsamen Herren gleich bei Lene los. Ganz oft folgten sie ihrem Rat und lasen gar nicht, was irgendein ignoranter Schreiberling sich aus den Fingern gesaugt hatte.
„Taugt gerade noch zum Anfeuern“, das war Lenes Standardsatz, begleitet von einer wegwerfenden Handbewegung und einem energischen Schubser auf ihren Zwicker.
Lene und Sofie versicherten einander viele Male, dass sie mit der armen Mine niemals würden tauschen wollen. Die vielen Schwangerschaften, all diese Kinder, immer den temperamentvollen Mann um sich rum, der ihr Leben bestimmte, Tag und Nacht! Aber was wollte man machen. Das normale Los einer Frau war die Ehe, das wussten auch Lene und Sofie und priesen sich glücklich, dass sie rechtzeitig abgebogen waren auf ihrem Lebensweg, bevor er in diese Sackgasse geführt hätte.
Sie bedauerten ihre kleine Schwester nicht nur, sie liebten sie auch, sie fühlten sich verantwortlich für jedes der Kinder, die da gepurzelt kamen. Und ganz besonders für die kleine Paula, nach deren Geburt es Wilhelmine so schlecht ging, dass alle fürchteten, sie werde nicht wieder gesund werden, sondern sich als Engel den irdischen Pflichten entziehen und ihren Mann mit der Kinderschar seinem Schicksal überlassen, in das sich die Schwägerinnen dann mal so richtig resolut hätten einmischen wollen. Vorerst rissen sie schon einmal das neugeborene Kindchen an sich und stritten gar darum, wer sie halten, wickeln, füttern durfte, obwohl da noch Paulas Schwestern Helene und Johanna waren, im Kinderhüten schon sehr geübt und nicht unbedingt erbaut über das Eindringen ihrer beiden Tanten in ihre Familie.
Paula lernte früh zu lächeln, sie streckte ihre Ärmchen aus nach jedem, der sich ihrer Wiege näherte, sie bezauberte mit ihren glänzenden dunklen Augen, dem ungewöhnlich dichten kastanienbraunen Haarflaum. Sie entwickelte sich zum Liebling der ganzen Familie, zog die Aufmerksamkeit auf sich und lernte deshalb schneller laufen, sprechen, singen. Sie bewegte sich wie jemand, der sich absolut wohlfühlt in seinem Körper. Jemand, der weiß, dass er nur lächeln muss und schon hat er sein Gegenüber für sich eingenommen. Jemand, der keinerlei Angst hat vor Fehlern oder Versagen. Das gab es einfach nicht in ihrem Weltbild.
Als Paula geboren wurde, war das Karlchen fünf, Willi drei und das Richardle zwei Jahre alt. Diese drei hatten einander zum Spielen, zum Streiten, um einander das Brot wegzuessen oder zuzuschieben. Das Karlchen und der Willi hatten die blauen Augen und hellblonden Lockenhaare ihrer Mutter geerbt, das Richardle schlug eher dem Vater nach, der diese Söhne „mein Glückskleeblatt“ nannte, hauptsächlich dann, wenn er gerade mit dem Geigenkasten unterm Arm und in gehobener Stimmung am späten Nachmittag aus dem Haus ging und er die drei sich selbst und ihren älteren Geschwistern überlassen konnte, weil es bei ihm ja darum ging, Geld zu verdienen, damit die Familie etwas zu essen hatte.
Zum Zeitpunkt von Paulas Geburt lag die Sorge um die Kleidung der Kinder schon ganz und gar in Händen der Sofie-Tante und die Lene-Tante hielt zum Vorteil ihrer ungebärdigen Nichten und Neffen engen Kontakt mit dem Schulrektor Knöpfle, einem Freund der Oper und der Operette, dem sie dann und wann eine Freikarte zustecken konnte, wenn sie dem Heldentenor seine Lieblings-Kuba-Zigarren besorgt und fast zum Einkaufspreis durchgeschoben hatte. Der hochverehrte Sänger wollte sich absolut nichts schenken lassen, aber für einen fairen Handel quid pro quo erwärmte er sich durchaus, nachdem er sich der Diskretion der werten Frau Walker hatte versichern können. Darauf war Lene stolz: Dass er sie wie all ihre Stammkunden stur Frau Walker nannte und das lächerliche altjüngferliche „Fräulein“ vermied. Ein Punkt, in dem die beiden unverheirateten Walker Schwestern einander uneins waren. Die Sofie-Tante wollte Fräulein genannt werden, sie betrachtete das als Ehrenbezeigung, denn konnte sie so nicht öffentlich darlegen, dass sie als niemandes Dekoration oder „bessere Hälfte“ – wer hatte sich dieses schreckliche Etikett wohl einfallen lassen? –, sondern ganz aus sich selbst heraus existierte und für ihre Existenz hart arbeitete, so hart wie ein Mann, so eigenständig und eigenverantwortlich.
Die drei Buben konnte man auch zusammen in ein Zimmer stecken und ihnen irgendetwas hinstellen, eine Kiste mit Knöpfen oder die Schublade mit den Taschentüchern des Vaters, sie wussten sich damit zu beschäftigen, sich darum zu zanken, sie zu verstecken und wieder aufzufinden. Manchmal tobten sie durch alle Räume, kletterten aufs Pianoforte und nahmen die Klaviatur als Treppenstufe, rissen Pauls Noten aus dem Regal, so dass Johanna stundelang davor kauern musste, um die Papiere mühsam wieder zu sortieren. Sie musste es nicht!
„Lass doch Hanne, das kann der Vater doch am besten wieder selbst richten“, schimpfte Helene. Aber Johanna wollte es müssen, sie wollte mit dieser Tätigkeit für den Vater etwas tun, was sonst keiner tun wollte, und wollte damit genau fühlen, wer sie war: Papas großes Mädchen. Dass er sie versonnen ansah, wenn er sich bei ihr bedankte, dass in seinem verträumten Blick eine winzige Erinnerung funkelte an seine Wilhelmine, so wie sie damals auf ihn zukam bei ihrem ersten Treffen, als er in den Bann ihrer lieben hellblauen Augen geriet ... Ach ja, längst vorbei ... das spürte Johanna mit ihrem Herzen und fühlte sich dem Vater nah und vertraut, in Liebe verbunden jenseits aller Worte.
Wilhelmine brachte die Winter, wenn das Familienleben sich auf dem für so viele Menschen doch recht engen Raum der Wohnung, allenfalls erweitert durch das Treppenhaus und verbotenerweise sowohl Keller als auch Dachboden, abspielte, hinter sich und erwartete ungeduldig den Frühling und den Sommer, wo sie ihre drei Musketiere wieder hinunter in den Hof schicken konnte. Selbst wenn sie auf Abenteuer aus waren und den Hof verließen, so taten sie es nie für lange, denn der Hunger und ihre Sehnsucht nach den anderen Geschwistern trieben sie wieder zurück, bevor ringsum die Abendglocken läuteten und es zu dämmern begann.
Der Musikus Paul Sömmer fand sein Glück bei der Arbeit, weil er sich dort nach dem häuslichen Trubel sehnen konnte während der zehnten Wiederholung einer schwierigen Passage, mit der der Dirigent nicht zufrieden war, und er fand sein Glück zu Hause im Gedanken an den Abend, an dem er sich dem häuslichen Trubel würde entziehen können. Er war der Herr in seiner Familie. Die Kinder wurden geboren, sie wuchsen heran, jedes seiner Kinder fand einen Platz im Leben, mittendrin. Solange sie klein waren, dichtete man ihnen eine strahlende Zukunft an. Je älter sie wurden, desto zufriedener war man, wenn sie einfach nur so waren wie jeder rechts und links.
Als der Erste Weltkrieg begann, waren zwei seiner Söhne tot, Kinderkrankheiten hatten sie dahingerafft, ein Schicksal, das die Sömmers mit vielen Familien ringsumher teilten. Sein ältester Sohn war 19 Jahre alt, die jüngste Tochter zwei. Es wurde von niemandem in der Familie befürchtet, dass Paul hätte in den Krieg ziehen müssen.
„Bleib, wo du bist!“, schrieb Paul seinem Sohn Adalbert, genannt Bertel, nach Windhoek in Deutsch-Südwest-Afrika, wohin es ihn zu diesem Zeitpunkt verschlagen hatte. Die Familienväter teilten durchaus nicht alle die Begeisterung der jungen Männer für die Möglichkeit, das Vaterland zu verteidigen.
Die Cousins
1954
Als am 4. Juli 1954 Deutschland und Ungarn im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft gegeneinander antraten, hatte Bertel seine Schwester Sofie gebeten, mit ihm zusammen auch seine beiden Neffen Hansi und Theo einzuladen. Zu dem 20-jährigen Hansi und dem 15-jährigen Theo gesellte sich kurz vor dem ersten deutschen Gegentor noch Bertels ältester Neffe Richard. Mehr als 20 Männer drängten sich in Sofies schönem Wohnzimmer vor dem neu erworbenen Grundig 450 T-Fernsehgerät zusammen. Sofie und ihr Mann Karl wohnten in einer großzügig geschnittenen Neubauwohnung in der Otto-Beck-Straße. Es ging ihnen gut, sehr gut sogar. Sie hatten es geschafft, sich nach und nach mit allen Symbolen des wirtschaftlichen Aufschwungs in der noch jungen Bundesrepublik zu umgeben und ließen ihre Freunde und Familienangehörigen großzügig daran teilhaben.
Da waren sie nun alle beisammen, die neuen Männer der Familie Sömmer, Wilhelmines Enkelsöhne.
„Stimmt es, dass der Onkel Bertel mit dem Sepp Herberger befreundet ist?“ Theo wendet sich aufgeregt an seinen Cousin Hansi. Es ist eine Weile her, dass sie einander getroffen haben. Hansi kommt Theo heute wirklich wie ein Mann vor.
„Wer hat dir denn das gesagt?“
„Der Richard.“
Aha, daher weht der Wind, denkt Hansi. Er hat es inzwischen so satt, sich die Geschichten anzuhören, die der Richard immer und überall erzählt. Was hat der denn erreicht im Leben? Nichts. Aber immer eine große Klappe! Inzwischen verdient er sich anscheinend als Taxifahrer sein Brot, in Wirklichkeit wird er wohl von seiner Frau ernährt. Auf diesen einfachen Nenner wird es gebracht, wenn man die Tanten miteinander flüstern hört. Hansi verachtet Richard. Er verachtet ihn genauso, wie er ihn einstmals bewundert hat. Damals im Krieg, als Hansi mit seiner Mutter und seiner Schwester eine Zeit lang nach Mosbach evakuiert wurde, freute er sich, wenn Richard auf Urlaub kam, wenn er von seinen Flügen erzählte, nach Griechenland, nach Norwegen, wenn er ihm genau erklärte, wie er sich im Sichtflug orientieren musste, an Kirchtürmen, an Flüssen, an der neuen Autobahn entlang, über die Hornisgrinde nach Friedrichshafen hinüber zum Auftanken und von dort aus über die Alpen. Auf seinem Atlas verfolgte Hansi diese Routen. Freute sich über die Postkarten, die ihm Richard schickte. Bis man erfuhr, dass der heldenhafte Pilot inzwischen eingebuchtet worden war, weil er mutwillig eine Maschine zu Schrott geflogen hatte. Hatte renommieren wollen, das sah ihm ähnlich! Degradiert und schließlich in einen Panzer gesteckt.
Im brennenden Berlin wollte er herumgeirrt sein, während der Führer in seinem Bunker Selbstmord beging. Da war Hansi elf Jahre alt gewesen. Ein elfjähriger vaterloser kleiner Kerl, der dringend ein männliches Vorbild gebraucht hätte, um erwachsen werden zu können. Wo waren sie da, seine Onkels und auch der Richard? Wo waren die Ersatzväter? Sie kamen zurück aus dem Krieg, aber sein Vater blieb weg für immer. Sie kamen zurück und hockten in den Ecken herum bei den Geburtstagsfeiern, wenn sich die Familie traf. Hockten dort, rauchten, verständigten sich in merkwürdigen Halbsätzen und Codewörtern. Bis sich Onkel Walter schließlich ans Klavier setzte, bis sich Tante Sofie daneben stellte und zu singen begann: „O, Donna Klara, ich hab dich tanzen geseh’n ...“ So eine Familie war das!
Immerhin hat Hansi ja noch eine andere Familie, eine Mutter, eine Großmutter, eine Schwester. Das ist seine eigentliche Familie, seine tägliche Familie. Wo sie wohnen, ist auch seine Heimat, dort stehen sein Bett und der Tisch, an dem er ernährt wird. Die Mutter ernährt und kleidet ihn, lobt ihn, tadelt ihn, hält ihn auf dem rechten Weg in eine lebenswerte Zukunft. Eines muss er zugeben, hier in Mannheim geht es wesentlich lustiger zu als zu Hause in Mainz-Kastel. Hier flimmert die Luft, er kann nicht gleichzeitig überall hinschauen, wo sich etwas Merkwürdiges, Interessantes ereignet. Musik fließt um diese Tanten und Onkels wie ein lebenslustiger Wasserfall, wischt und wäscht alle Sorgen weg für die Zeit ihres Klingens und manchmal auch Dröhnens, Klopfens, es zittern die Stühle, der Tisch wackelt, sogar die Vorhänge schweben auf und nieder, hin und her. Mitten im Getöse das winzig kleine Omale mit leicht abwesendem Lächeln, die Mutter von all diesen Leuten, die nun mal seine Blutsverwandten sind, deren Namen er trägt, und so wie es aussieht, ist er der einzige männliche Träger in der nächsten Generation.
Theo weiß nicht, ob er sich neben Hansi oder neben Richard stellen soll. Hansi hat ihn ziemlich abblitzen lassen. Der hängt immer den Älteren raus, der schon weiß, was er werden will. Ingenieur! Das klingt wie Hexenmeister, wenn Hansi es ausspricht. Und einmal hat er sogar gesagt: Flugzeugingenieur. Theo vermutet, dass Hansi sich den Richard zum Vorbild nimmt, der war doch Testflieger gewesen im Krieg. Und ausgebildeter Funker. Theo erinnert sich daran, wie Richard im Kreis der Tanten und Onkels einmal diese Geschichte erzählte aus seiner Grundausbildung: Er hatte den Auftrag, ein Funkgerät so geschickt zu positionieren, dass kein Feindeinblick möglich gewesen wäre. So ging er hin und her, brauchte stundenlang, fand schließlich eine Art Höhle unter einer riesigen Baumwurzel, dort baute er das Gerät auf. Als er nach Stunden immer noch auf einen Funkspruch wartete, den er hätte erwidern können, dämmerte ihm, dass er sich wohl in ein Funkloch begeben hatte und von dort aus überhaupt kein Kontakt möglich war. Da lachten alle, lachten glücklich über diese lustige Geschichte, klopften Richard auf die Schulter, schüttelten
den Kopf, staunten und er, der kleine Theo, staunte auch, dass Richard nicht darauf bestand, der zu sein, für den sie ihn alle hielten: ein Held.
„Stimmt das alles Richard?“, fragte er ihn schließlich.
„Oder ist es nur eine Geschichte?“
„Es ist eine Geschichte und es stimmt. Im Wesentlichen jedenfalls. Ein bisschen muss man immer an der Wahrheit drehen, wenn man sie in eine gute Geschichte verwandeln will.“
Theo geht hinüber, stellt sich neben Richard und schnüffelt nach dem Duft seiner Reval.
„Stimmt das, Richard, dass der Onkel Bertel den Sepp Herberger persönlich kennt?“
„Das stimmt. Aber darauf kann man sich nichts einbilden, weißt du, Kleiner. Der Herberger, der war ein verdammter Nazi, und heut’ will das keiner mehr wissen. Das ist die Wahrheit.“
Richard hatte seine eigene kleine Familie, seine Frau Isa und die vierjährige Tochter Beate bei seiner Tante Johanna und dem Omale Sömmer abgegeben, bevor er zu den Männern gestoßen war, um teilzunehmen an diesem Sportereignis.
Unterwegs war er seiner Tante Sofie begegnet, die sich zu den Frauen gesellen wollte, nachdem sie die Männer mit allem versorgt hatte, was sie brauchen würden: Zigaretten, Bier und Schinkenbrote.
„Bitte sorge dafür, dass Tante Johanna nichts Dummes sagt. Du kennst doch die wunden Punkte meiner Frau und weißt, wie leicht man sie verletzen kann.“
„Du kannst dich auf mich verlassen.“
Die besonderen Kinder:
Der Älteste und das Nesthäkchen
Sofie verstand sich gut mit Richards Frau. Seit der Hochzeit der beiden schon waren sie einander zugetan. Hatten einander immer etwas zu erzählen. Aber in Wirklichkeit hatte sich Sofie in Isas Herz geschlichen, weil sie sich mit ihr verbündete gegen ihre eigene Schwester Helene, Isas Schwiegermutter. Prangerte Helenes Hochmut an, bezeichnete das, was man im Allgemeinen Helenes Stolz nannte, als großes Unrecht, das als Bürde zentnerschwer auf dem armen Richard lastete. Ständig diese Erwartungen, dass er etwas Besonderes sei, ein guter Schüler, ein begabter Musiker, ein treuer Nationalsozialist, ein tapferer Soldat, ja, Helene hatte ihn in die Rolle des Ritters Richard Löwenherz drängen wollen, das musste doch einmal ausgesprochen werden! Sofie hielt nichts davon, immer alles unter den Teppich zu kehren, was nicht in Ordnung war.
Hinter Helenes wahnwitzigem Ehrgeiz stand, das wusste jeder in der Familie, dass sie die Vorstellung hegte, Richard, ihr Sohn, müsste das großartige Leben führen, das eigentlich auf das Richardle gewartet hätte, das liebe, temperamentvolle Richardle mit der schönen Singstimme, den flinken Fingern, den schnellen Beinen und dem hellen Kopf. Immer wieder beschwor Helene ihr totes Brüderchen herauf, so, als ob sie die Einzige gewesen wäre, die seiner nach wie vor voll inbrünstiger Treue gedachte. Sofie hatte diesen Bruder nie kennengelernt, er starb ein Jahr vor ihrer Geburt. Deshalb schmerzte sie diese Lücke im Familiengeflecht nicht. Aber Sofie wusste von Johanna, dass sie sich auch oft an das Brüderchen erinnerte, dass sie es mindestens ebenso geliebt hatte wie Helene, stiller eben, sie war auch in ihrer Trauer gefasster als Helene und versteckte ihren Unmut darüber, dass man sie oft falsch einschätzte, hinter ihrem melancholischen hellblauen Blick und den fest aufeinandergepressten Lippen.
Sofie hatte ein besonderes Verhältnis zu all ihren Geschwistern. Sie wuchs auf wie die Made im Speck, das sagten die Lenetante und die Sofietante immer wieder und sogar Bertel übernahm eines Tages genüsslich diese Formulierung.
„Keiner hat dich jemals ausgeschimpft, keiner war jemals böse mit dir, nicht einen einzigen Augenblick lang. So ein verwöhntes Nesthäkchen. Dabei bist du deinen Geschwistern ab und zu ganz schön auf die Nerven gegangen.“
Das lachte Sofie weg. Ja, sie wusste es, sie konnte jedem von ihnen alles sagen, ohne jemals negative Konsequenzen fürchten zu müssen. Aber fragen konnte auch sie längst nicht alles.
Manch einer mochte Bertel gerne fragen, was er denn eigentlich dort im Schwäbischen arbeitete, wo er jetzt schon so lange wohnte. Warum brachte er seine Frau so selten mit, wenn er kam? Und wer war dieser merkwürdig ernste Junge wirklich, der zu Li „Mutter“ sagte und von Bertel als „dem Vater“ sprach? Jeder in der Familie wusste doch, dass Bertel und Li keine Kinder hatten. Keine „eigenen“ Kinder jedenfalls. Woher stammte dieser Kurt also? War er ihnen einfach so zugelaufen wie ein Hund oder eine Katze oder gab es eine Geschichte zu dieser merkwürdigen Elternschaft?
Hier wusste allein Sofie mehr als die anderen und hatte einmal, das war doch an Inges Hochzeit? flüsternd einen Hinweis gegeben, an Isa, weil ihr das richtig schien.
Inzwischen war Kurt in Schottland und studierte dort Theologie, wollte also Pfarrer werden. Und Bertel und Li bereiteten ihren endgültigen Umzug nach Mannheim vor.
In Bertels Leben gab es zwei unbezweifelbare Konstanten: seine geliebte Frau Li und den Fußball. An diesem Tag stand eindeutig der Fußball im Zentrum seines Interesses.
„Bist du eigentlich für Waldhof oder für den VfR, Onkel Bertel?“, fragte der 15-jährige Theo aufgeregt.
Bertel war immer für Waldhof gewesen. Dort hatte sein Interesse, seine Leidenschaft für den Fußball begonnen. Dort hatte er gekickt als junger Bursche, dorthin hatte ihn der Sepp gelockt, nachdem sie sich immer wieder am Bonadiehafen getroffen hatten und Freunde geworden waren. Bertel verbrachte die ersten Jahre seines Lebens noch in der Löwitstraße. Paul und Wilhelmine wohnten im kleinen Haus des Rheinschiffers und Lotsen Walker und seiner Frau, das waren Wilhelmines Eltern. Erst im Krieg zog die inzwischen größer gewordene Familie um in die Boeckstraße. Zu diesem Zeitpunkt war Bertel schon in Afrika. Dass ihn der Liebhaber der Koloratursopranistin Emilie Lautenschläger, der Herr von Klingenberg, dorthin mitgenommen hatte, wusste man, sprach aber nicht davon. Dass er dort nicht das hatte leisten können, wofür er vorgesehen war, drang immer mal wieder durch, geflüstert als Andeutung. Aber was? Was hätte er denn dort tun sollen? Soldat sein! Aber es gab keine Bilder von ihm, auf denen er eine Uniform trug. Nach seiner Lehre zum Feinmechaniker in der kleinen Maschinenfabrik der Familie Hartung, hatte er sich spezialisiert, dazu war er von seinen Chefs zum ersten Mal nach Oberndorf ins Schwäbische geschickt worden, da gab es eine Waffenfabrik. Als er zurückkam, folgte unmittelbar das Angebot des Herrn von Klingenberg, ihn nach Deutsch-Südwestafrika mitzunehmen. Schon im Sommer 1915 kehrte er heim nach Deutschland und ließ sich in Berlin nieder. Er arbeitete als Feinmechaniker in einer Fabrik für Kleinteile, Federn, Schrauben, Bolzen, wie er umständlich erklärte, verdiente gutes Geld und kam, so oft er konnte, zu Besuch. In Berlin hatte er damals seine Li kennengelernt. Eine schöne Frau mit dunklem Teint und fast schwarzen dicken Haaren. Sie stammte aus einer deutsch-russischen Familie aus Odessa, als einziges Familienmitglied lebte sie schon seit 1916 in Berlin, zunächst bei einer Freundin ihrer Mutter, übernahm dann deren kleinen Hutladen direkt auf der Friedrichstraße mit mehreren Angestellten und Kundinnen aus allen Gesellschaftsschichten.
Diese Informationen konnte man immerhin erhalten, wenn Wilhelmine mal einen Eierlikör oder zwei getrunken hatte, wenn ihre Gelenke nicht schmerzten, wenn sie mit einem dicken Schal umhüllt, die Füße auf einem Schemel bequem aufgestellt in ihrem Lieblingssessel saß. Vielleicht noch Kerzenschein und eine gute Tasse englischen Tee, dazu diese wunderbaren Kekse, die Johanna immer auf Vorrat in einer Blechdose aufbewahrte.
Bertel, Wilhelmines erstes Kind, das größte Wunder, das ihr widerfahren war, genoss ihre uneingeschränkte Liebe, Zuwendung und Aufmerksamkeit jederzeit. So sehr, dass er sich davor hüten musste und dass er genau überlegte, wieviel er ihr jeweils erzählte von seinem eigenen Leben.
Erst nach dem Tod der Mutter fühlte er sich freier. Da war er 58 Jahre alt, hatte noch mehr als 30 Lebensjahre vor sich und würde am Ende seines Lebens noch einmal zurückfallen in Geheimnisse, die sich erst nach seinem Tod enthüllten.
Wilhelmine hielt sich, so lange sie lebte, bereit für ihre Kinder. Wenn sie zu ihr kamen, öffnete sie ihre Arme. Sie durften sich bei ihr aussprechen, wenn sie wollten, was allerdings sehr selten vorkam. Meistens wurden die Fakten poliert und verpackt, bevor man sie der Mutter servierte. Man wollte sie schonen, sie sollte doch stolz sein können auf ihre Kinder, man wollte, dass sie ruhig schlafen konnte, dass sie der Zukunft vertraute bis über ihren Tod hinaus. Als ihr Mann noch lebte, hatte sie mit ihm über all ihre Sorgen und Zweifel sprechen können. Als er starb, musste sie versuchen, sich wechselnde Gesprächspartner zu suchen. Eine Zeit lang hatte sie ihre Schwestern Lene und Sofie. Die drei wuchsen im Alter enger zusammen, als sie sich je zuvor gefühlt hatten. Sie hegten und pflegten den Schatz der gemeinsamen Erinnerungen.
Wilhelmine begann das Briefeschreiben. Was sie vom einen erfuhr, gab sie an andere weiter, hoffte, im Gegenzug dafür mit einer Enthüllung belohnt zu werden, einem kleinen Blick hinter die schönen dichten Vorhänge, die ihre Familie ringsum sie her raffte und rüschte wie Theaterkulissen in einer Operette. So war das Leben nicht, es konnte so nicht sein, so harmonisch, voller Erfolge, Glück und Liebe! Aber was will man machen?
Ihre zwei letzten Lebensjahre lebte Wilhelmine bei ihrer ältesten Tochter Johanna und deren Mann. Die beiden ließen es ihr an nichts fehlen. Mine konnte diese Zeit genießen, manchmal jedenfalls. Sie liebte die Besuche ihrer Kinder, Schwiegerkinder, Enkelkinder. Und stolz ließ sie sich ihr erstes Urenkelkind, die kleine Beate, Richards Tochter, auf den Schoß setzen. Sah ihr in die dunklen Augen und meinte, dass es die Augen von ihrem Paul sein könnten, mandelförmig, ein bisschen eng beieinander stehend. Zwei Schlitze, wenn es ihr gelang, die Kleine zu erheitern, nicht durch Kitzeln, das wäre zu plump, sondern durch einen kleinen Vers, ein leise gesummtes Liedchen, einen Aufzählreim, einen unerwarteten Ton, einen Gickser vielleicht und eine lustige Grimasse dazu.
All das hatte sie in sich aufbewahrt für diese Zeit, die Zeit des Zurückblickens, die Zeit der Vorbereitung auf das Nicht-mehr-Sein. Immer leichter wurde ihr beim Blick in die Zukunft. Der Tod würde nicht in ein schwarzes Loch führen, sondern in ein helles Licht, das alles Gewesene ausblendete. Diese Gewissheit nahm allmählich zu.